Der Mensch und der 10-Meter-Turm
Meltem folgt der rechts gewendelten Spindeltreppe, deren Bauweise der Deutschen Industrienorm 18065 für Gebäudetreppen entspricht. 15 Stufen bis zur 3-Meter-Plattform, weitere 12 Stufen bis zum Fünfer, 14 bis auf siebeneinhalb Meter und noch mal 14 zum Zehner. Drei Bademeister haben den Sprungturm im Auge, einer von ihnen steht oben direkt an der Kante und hält sich mit einer Hand am Geländer fest. Bevor jemand springt, schaut er nach unten, ob das Wasser frei ist. Und nachdem jemand gesprungen ist, schaut er, ob die Person unbeschadet wieder auftaucht. Es hat den Anschein, als habe hier alles seine Ordnung. Aber das täuscht.
Edgeworker bringen die Menschheit voran, sagt die Evolutionsbiologie. Der Körper wird mit Adrenalin geflutet, sagt die Medizin. Die Amygdala will das nicht, sagt die Hirnforschung. Der Büromensch will seine Entfremdung kompensieren, sagt die Soziologie. Die Aufprallgeschwindigkeit beträgt 50 Kilometer pro Stunde, sagt die Physik. Die 15-jährige Meltem sagt: „Ich habe ein bisschen Angst, aber ich will das trotzdem hinter mir haben.“
Nüchtern betrachtet, ist dies ein Mysterium: Der Mensch baut ein Becken und daneben einen Turm, er füllt das Becken mit Chlorwasser und steigt den Turm hoch, und dann steht er da in einem lächerlich spärlichen Outfit wie auf einem Laufsteg, der Hüftspeck eingedellt von der Badehose, beobachtet von Fremden, von Freunden, von feixenden Kindern. Er steht da in seiner ganzen emotionalen und physischen Verletzbarkeit, nur um hinunterzuspringen in der Gefahr, sich die Schulter auszukugeln oder einen Bauchklatscher zu machen. Vögel gehören in die Höhe, aber nicht der Mensch. Was sucht er da oben?
Der Bademeister an der Kante ist seit 25 Jahren im Dienst. Er ist noch nie vom Zehner gesprungen. Er sagt: „Von einem brennenden Kreuzfahrtschiff würde man sofort springen. Aber das hier ist freier Wille.“ Sein Wille hat den Zehner stets verneint. Für die Bademeisterprüfung reicht ein Kopfsprung vom Dreier.