Mancher Internetnutzer in Europa würde sich solch einen zupackenden Regulator wünschen: Chinas Ministerium für Industrie und Informationstechnologie prangerte Mitte August an, dass 43 Apps wie der Multifunktions-Messenger WeChat illegal Nutzerdaten kopiert und mit lästigen Pop-up-Fenstern hantiert hätten. Das sind auch im Rest der Welt wohlbekannte Probleme.

Doch während dort kaum ein Ende dieser Plagen in Sicht ist, ging es in China ganz schnell: Eine Woche hatten die Anbieter Zeit für Korrekturen, danach drohten Strafen. Das ist nur ein Beispiel von vielen, wie Chinas Regierung seit dem Herbst vergangenen Jahres gegen Technologiefirmen vorgeht. Erst traf es den Kreditvermittler Ant Financial Group, dann den Essenskurier Meituan, den Fahrdienstvermittler Didi und schliesslich Chinas wertvollstes Unternehmen, Tencent, das unter anderem WeChat herausgibt.
Dazu kommen seit einigen Wochen immer neue Rechtsakte für ganze Branchen oder das chinesische Internet: das Gesetz zum Schutz persönlicher Daten, die Beschränkung von Online-Gaming auf drei Stunden pro Woche für Minderjährige, eine geplante Verordnung zum Umgang mit Empfehlungsalgorithmen und vieles mehr. Selbst die neuen Richtlinien zur Kunst- und Literaturkritik sehen vor, dass Algorithmen weniger entscheiden und Menschen wieder mehr, wenn es um die Verbreitung von Rezensionen geht.

„Algorithmen sollen die Gesellschaft nicht spalten“

Peking begründet sein Vorgehen mit hehren Motiven. Nutzerdaten sollen nicht missbraucht werden. Konzerne sollen keine Monopole bilden. Kurierfahrer sollen ordentliche Arbeitszeiten und Löhne haben. Kinder sollen nicht stundenlang Computer spielen. Algorithmen sollen nicht die Spaltung der Gesellschaft fördern.
All das sind tatsächlich Probleme, in China und praktisch ja überall sonst auch. Deshalb sollte der Rest der Welt genau hinsehen, wenn nun eine Weltmacht all diese Fragen umfassend anpackt. Wie macht sie das? Was lässt sich daraus lernen? Und was folgt daraus für den Rest der Welt?
Dabei können unangenehme Fragen aufkommen, etwa: Warum diskutieren westliche Länder, also die Erfinder von Computern und des Internets, seit Jahren weitgehend ergebnislos über die nötige Regulierung von Algorithmen – und werden nun vom Nachzügler China mit einem umfassenden Entwurf übertrumpft?
Gerade jener Entwurf enthält hochspannende Passagen. Zum Beispiel sollen die Anbieter von Empfehlungsalgorithmen – also Nachrichten-Apps, soziale Netzwerke oder Einkaufsplattformen – künftig den Nutzern die grundlegende Funktionsweise ihres Algorithmus offenlegen müssen. Die Nutzer sollen speziell auf ihre Person zugeschnittene Empfehlungen ausschalten können. Sie sollen algorithmenbasierte Dienste sogar komplett ausschalten können. Das Gleiche bitte sofort für Google, Facebook und Twitter!
Doch Chinas Vorgehen ist keine Vorlage für den Westen. Die Regulierung der Algorithmen etwa zeigt klar, dass die Inspiration durch China enge Grenzen hat. Haben muss. China ist eine Parteidiktatur, westliche Staaten zum Glück nicht. Das ist nicht nur eine banale Feststellung, sondern führt zu gewaltigen Unterschieden, von A bis Z.
Xi beaufsichtigt den Regulator und Zensor
Das fängt mit dem Autor des Regulierungsentwurfs an: der Cyberspace Administration of China. Der Internetregulator wurde im Jahr 2014 gegründet, gleich zu Beginn der Amtszeit von Partei- und Staatschef Xi Jinping. Die Behörde ist für ihre umfassende Zensur berüchtigt. Sie ist nicht Teil einer technokratischen Ministerialbürokratie nach westlichem Vorbild, sondern ganz eng an der Kommunistischen Partei angedockt: Sie berichtet an die Zentrale Kommission für Cyberspace-Angelegenheiten, die von Xi präsidiert wird. Von jenem Xi, der sich zunehmend als Alleinherrscher geriert und der als erster Kommunistenführer seit Mao länger als die bis dato erlaubten zwei Amtszeiten regieren will.
Problematisch ist auch, dass Peking die Tech-Regulierung zunehmend aus der Perspektive der nationalen Sicherheit sieht. Das Cybersicherheitsgesetz aus dem Jahr 2017 hatte bereits diesen Fokus, die neuen Datengesetze bekräftigen ihn. Der Regulierungsentwurf zu den Algorithmen nennt gleich im ersten Satz den Schutz der nationalen Sicherheit als Ziel. Auch die Cyberspacebehörde verwies bei ihrer Untersuchung des Uber-Pendants Didi auf die Landessicherheit.
Der Clou am Konzept der nationalen Sicherheit ist, dass es kaum definiert ist. Es ist, was die Kommunistische Partei daraus macht. Damit ist es das perfekte Herrschaftsinstrument. Das zeigt ein Blick nach Hongkong. Dort bringt Peking seit der Einführung des nationalen Sicherheitsgesetzes im Juni 2020 alles und jeden auf Parteilinie.

Peking sitzt im Vorstand des Tiktok-Konzerns Bytedance

Schliesslich zählen Eigentumsrechte und unternehmerische Freiheit nicht viel, wenn Pekings starker Arm es will. Manche Firmengründer und CEO sind zurückgetreten, angeblich freiwillig. Sie und ihre Konzerne sagten umgehend Milliarden-«Spenden» zu, als Xi eine neue Umverteilungspolitik ankündigte. Und der Parteistaat hat sich still und heimlich beim Twitter-Pendant Weibo und beim Erfinder der Video-App Tiktok, Bytedance, eingekauft – und ist in den Vorstand eingezogen.
Peking mag tatsächlich konkrete Probleme anpacken, die der Aufstieg der Internetwirtschaft aufgeworfen hat. Aber das darf nicht zu Illusionen führen über das grosse Ganze. Wenn China sich etwa an der Datenschutzgrundverordnung der EU orientiert, dann nur so lange, wie der Parteistaat so weiter die Bevölkerung ausspionieren kann. Wenn Internetnutzer künftig ins Innere von Algorithmen blicken dürfen, dann macht es sie noch lange nicht zu mündigen Bürgern. Vermutlich wird von dieser Transparenz sowieso der Überwachungs- und Zensurapparat am meisten profitieren.
Bis jetzt zeichnen sich in Pekings Anti-Tech-Kampagne mindestens drei grosse Ziele ab: Der Staat bricht die Macht der Konzerne; er sichert sich den Zugriff auf deren Daten, die in Zeiten von Big Data und künstlicher Intelligenz offiziell als Produktionsfaktor gelten; und er greift wieder hemmungslos ins Privat- und Alltagsleben der Chinesen ein – für manche Kommentatoren so sehr wie seit Mao nicht mehr. Die Parteidiktatur festigt ihre Macht, unmissverständlich und kompromisslos.
Einige Beobachter sagen nun, es sei nur eine Frage der Zeit gewesen, bis Peking gegen die Tech-Konzerne durchgreifen und Auswüchse etwa in der Fankultur und der Gaming-Szene eindämmen würde. So laufe es immer in China: Erst lasse die Regierung Laisser-faire herrschen, um Innovationen nicht abzuwürgen. Dann reguliere sie den «Wilden Osten» umso vehementer.
Das mag grundsätzlich so sein. Doch das erklärt nicht das überfallartige Vorgehen, das offensichtlich selbst die direkt Betroffenen überrascht hat. Oder hätte sonst Jack Ma, der Gründer der Alibaba-Gruppe, in einer Rede vor Regulatoren seine Zuhörer so scharf kritisiert? Jener Auftritt im Oktober 2020 gilt als Auslöser für Pekings Durchgreifen. Und hätte Didi Ende Juni sein New Yorker Börsendebüt mit Pauken und Trompeten gefeiert, wenn es gewusst hätte, dass es kurz darauf der Staatssicherheit die Tür würde öffnen müssen?
Pekings Methoden illustrieren, was eine Parteidiktatur, die zunehmend an den Lippen eines einzigen Mannes hängt, ausmacht:

Unberechenbarkeit, Willkür und brutale Machtpolitik

Und das geht natürlich auch den Rest der Welt an: abstrakt im Nachdenken über Natur und Absichten des chinesischen Regimes unter Xi und ganz konkret in Alltagsfragen.
Goldman Sachs: Buchverluste von 3 Billionen US-Dollar
Eltern müssen sich fragen, ob ihr Kind wirklich noch so viel Zeit auf Tiktok verbringen sollte, wenn bei Bytedance die Kommunisten mitreden. Anleger, die in chinesische Aktien investieren, haben laut der Investmentbank Goldman Sachs seit Beginn von Pekings Kampagne Buchverluste von mehr als 3 Billionen US-Dollar erlitten und überdenken vielfach nun ihre China-Strategie. Ausländischen Unternehmern muss klar sein, dass in einer Parteidiktatur potenziell alles politisch ist, selbst Gaming. Und Regierungen, die 5G-Masten von Huawei im eigenen Land aufstellen, sollten überlegen, ob sich der Konzern wirklich Peking widersetzen könnte, sollten die Machthaber eines Tages andere Staaten ausspionieren oder unter Druck setzen wollen.
Wenn offiziell zu «nationalen Champions» erklärte Unternehmen wie Alibaba und Tencent plötzlich in Ungnade fallen können, dann heisst das im Umkehrschluss, dass sie vorher nur Gewinner von Pekings Gnaden waren. Willkommen im Staatskapitalismus. Und wenn andere Konzerne und Branchen bisher ungeschoren davongekommen sind, dann stellt sich die Frage, warum: Nützen sie den Machthabern? Und wenn nicht, wie lange wird der Parteidiktatur das noch egal sein?

Sep. 2021 | Allgemein, Essay, In vino veritas, Junge Rundschau, Politik, Sapere aude, Zeitgeschehen | Kommentieren