Was genau meinen Sie damit?
Die NGO haben einen parallelen Arbeitsmarkt geschaffen und einen grossen Teil der qualifizierten Arbeitskräfte absorbiert. Sie haben die öffentliche Politik nicht nur umgesetzt, sondern sie auch zu grossen Teilen definiert. Die Auftragsvergabe folgte zudem überhaupt nicht der Logik des Marktes. Es waren immer dieselben grossen Unternehmen, die die Aufträge erhielten und das Geld dann in mehreren Stufen bis zu den kleinen afghanischen Unternehmen weiter verteilten. Das alles hat den Steuerzahler enorm viel Geld gekostet. Afghanistan war eine riesige Maschine, um öffentliche Gelder in private Profite umzuwandeln.
Sie haben gesagt, die militärische Strategie war von Anbeginn falsch konzipiert. Was genau meinen Sie?
Zunächst hätten wir den Verhandlungen mit dem Taliban-Führer Mullah Omar mehr Zeit geben sollen. Des Weiteren war es ein Fehler, dass die Amerikaner Gruppen mit einem sehr schlechten Ruf engagiert haben, um gegen die Taliban zu kämpfen. Dass sich die Spezialeinheiten auf Milizen gestützt haben, die Folter, Plünderung, Entführungen und summarische Hinrichtungen praktizierten, hat wesentlich zur Ablehnung der ausländischen Truppen beigetragen. Die Luftangriffe, die über die Jahre zunehmend mehr Zivilisten das Leben gekostet haben, spielten ebenfalls eine sehr negative Rolle.
Hätte man Kriegsherren wie Ismail Khan oder Abdul Rashid Dostum entmachten können? Man war ja nun einmal gezwungen, mit den Kräften vor Ort zu kooperieren.
Sie hatten die Macht, weil wir ihnen Macht gegeben und ihnen erlaubt haben, wieder an die Regierung zu kommen. Die Amerikaner wollten eine billige Intervention, ohne Bodentruppen zu entsenden. Also schickten sie Leute mit Geldkoffern, um Gruppen zu finanzieren, die für sie gegen die Taliban kämpften. Aber es waren diskreditierte oder geradezu kriminelle Gruppen, die von der Bevölkerung nicht unterstützt wurden.
Es erscheint mir ein wenig widersprüchlich, einerseits zu sagen, dass man mit den Taliban hätte verhandeln sollen, andererseits aber zu kritisieren, dass man mit den Warlords kooperiert hat.
Aber die Taliban sind keine Warlords! Ihre soziologische Herkunft und ihre politische Praxis sind völlig verschieden. Meiner Meinung nach war jedoch der eigentliche politische Fehler, dass man die Bitte nach einer Amnestie der Taliban-Kämpfer abgelehnt hat. Wenn man ihnen erlaubt hätte, aus Pakistan zurückzukehren, hätten sie sich wieder in das normale Leben integrieren können, und es hätte keinen Aufstand gegeben.
BU Nach der Einnahme von Kabul wandte sich der Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahid erstmals an die Presse und versprach eine Rückkehr zu Sicherheit und Ordnung.
Herr Dorronsoro, die Welt war überrascht vom raschen Kollaps des afghanischen Staates. Sie haben diesen Zusammenbruch dagegen seit langem vorhergesagt. Wie das?
Wäre es besser gewesen wenn der Westen nicht in Afghanistan interveniert hätte?
In dem politischen Kontext des Jahres 2001 wäre es sehr schwierig gewesen, nicht in Afghanistan einzugreifen. Zudem hatte das Scheitern der Intervention nichts Zwangsläufiges. Sie hätte durchaus funktionieren können. Aber alles, was der Westen getan hat, war, den afghanischen Staat und die Idee des Staates selbst zu zerstören. Die Gewalt der Spezialeinheiten, der Mangel an Investitionen in zentrale Bereiche wie die Justiz, die Einführung einer Verfassung, die das Parlament zugunsten der Exekutive geschwächt hat – all das war katastrophal.
Sie sagen, der Westen habe den afghanischen Staat zerstört.
Aber, gab es denn staatliche Strukturen in Afghanistan vor 2001?
Ja, die Taliban hatten den Staat wieder aufgebaut. Er blieb extrem fragil, weil er keine Ressourcen hatte, aber es war ein echter Staat mit einer Justiz und einer Polizei. Die Taliban kontrollierten 85 Prozent des Territoriums, und die Tatsache, dass sie den Opiumanbau ausmerzen konnten, hat gezeigt, dass dies eine effektive Kontrolle war. Nach 2001 sind verschiedene Institutionen unter internationaler Kontrolle aufgebaut worden ohne wirkliche Autonomie. Die Gesamtheit dieser Institutionen bildete jedoch keinen Staat, sondern lediglich eine transnationale Regierung.
Heute wird viel über die Korruption der afghanischen Eliten gesprochen, um das Scheitern des State-Building-Projekts in Afghanistan zu erklären.
Es wäre falsch, zu sagen, dass wir die Korruption in Afghanistan erfunden haben. Aber wir haben eines der korruptesten Systeme der Welt aufgebaut. Und die Korruption beschränkte sich nicht nur auf die afghanischen Eliten. Ein Grossteil der Milliarden, die die USA für Afghanistan ausgegeben haben, ist auf die Bankkonten westlicher Unternehmen, NGO und überbezahlter Experten zurückgeflossen. Es gab viele Fälle, in denen Gelder durch ausländische Akteure veruntreut worden sind und dies zu Gerichtsverfahren geführt hat.
Warum haben die westlichen Regierungen dem Rat von Experten wie Ihnen nicht mehr Aufmerksamkeit geschenkt?
Nach 2001 hat sich in den Think-Tanks und Universitäten eine veritable Expertenindustrie entwickelt, die viel Geld gekostet hat. Aber viele dieser Experten hatten keine Erfahrung vor Ort oder waren in wirtschaftlichen Zwängen gefangen, die sie daran hinderten, die Politik zu kritisieren. Das Expertenwesen ist zu einem Geschäft mit viel Geld im Spiel geworden. Das Ergebnis waren Experten, die sich in allen entscheidenden Momenten geirrt haben.
Also, die Expertise selbst war falsch und nicht nur die Umsetzung dieser Expertise?
Die von den Institutionen in Auftrag gegebene Expertise war nicht unabhängig von diesen Einrichtungen. So gab es Experten an amerikanischen Universitäten, die mit Daten des amerikanischen Militärs zu Fragen des amerikanischen Militärs geforscht haben. Es mangelte den Experten an geistiger Unabhängigkeit, und es gab eine Menge Zensur oder Selbstzensur.
Kabul vor dem Einmarsch der Sowjetunion und lange vor den Taliban: Studentinnen der Polytechnischen Universität im Jahr 1975.
Warum haben die afghanischen Soldaten und Polizisten den Staat nicht entschiedener verteidigt, der sie bezahlt hat?
Weil dieser Staat sie sehr schlecht bezahlt hat und die Offiziere oft den Sold der Soldaten gestohlen haben. Viele haben ihre Waffen verkauft und das Geld veruntreut. Sobald das Kräfteverhältnis gekippt ist, wollten die Soldaten und Polizisten nicht mehr ihr Leben riskieren, um ein Regime zu verteidigen, das zum Zusammenbruch verurteilt schien. Wie so oft in Afghanistan kam der Zusammenbruch in Dominoform.
Der Erfolg der Taliban ist auch auf ihren Rückhalt in der Bevölkerung zurückzuführen. Woher kommt diese Popularität?
Die Popularität der Taliban ist schwer zu messen. Aber zum Teil ist sie darin begründet, dass die Taliban die Frage des Staates ernst genommen haben. Sie haben ein Rechtssystem geschaffen, sie haben Gesetze erlassen und gegen die Korruption gekämpft. Sie haben eine etatistische Politik verfolgt. Es gab in der Bevölkerung ein Bedürfnis nach einer Rückkehr des Staates, und die Taliban haben dieses Bedürfnis ernst genommen.
Wie wichtig ist der Islam für die Legitimität der Taliban?
Der Islam spielt weiterhin eine wichtige Rolle in der afghanischen Politik. Religiöser Fundamentalismus ist eine Tatsache – auch innerhalb der bisherigen Regierung. Die Taliban werden auch deshalb als legitime Bewegung wahrgenommen, weil ihre Anführer islamische Geistliche sind. Was die Taliban als Gesellschaftsmodell vorschlagen, mag uns missfallen, aber es entspricht den Forderungen eines wichtigen Teils der afghanischen Gesellschaft.
Nun hatten wir auch zuvor kein säkulares System, sondern eine Islamische Republik mit dem Islam als Staatsreligion und einer Klausel, wonach alle Gesetze der Scharia entsprechen müssen.
Ja, das nach 2001 begründete System hatte einen islamischen Anstrich, und einige Politiker haben einen islamistischen Diskurs gepflegt. Aber da diese Politiker gleichzeitig Milliarden veruntreut haben, war das nicht sehr überzeugend. Es war ein völlig korruptes System, dessen Streitkräfte unter der Führung der Amerikaner kämpften. Das hat die Legitimität dieses Systems untergraben und zur Legitimität der Taliban beigetragen, die nicht korrupt waren und gegen die ausländischen Besatzungstruppen kämpften.
Haben sich die Taliban seit ihrem Sturz im Jahr 2001 verändert?
Ihr Verhalten wird nicht unabhängig von dem sein, was wir tun. Wenn wir uns weigern, mit den Taliban über Themen wie Migration, Drogenhandel und Terrorismus zu sprechen, bei denen wir gemeinsame Interessen haben, wird das ihre Politik beeinflussen. Wenn wir uns dagegen mit wirtschaftlicher Hilfe engagieren, wird sich das ebenfalls auswirken. Meiner Meinung nach wäre es gefährlich, zu versuchen, sie so weit wie möglich zu isolieren. Es ist besser, zu versuchen, mit ihnen Vereinbarungen zu finden.
Sind die Taliban darauf vorbereitet, das Land zu regieren?
Sie kontrollieren das Land, aber sie haben nicht die Mittel, um das Land zu regieren. Das vorangehende Regime hat leere Kassen zurückgelassen. In Afghanistan gibt es kein Geld mehr. Der IMF hat die 400 Millionen Dollar blockiert, die in diesem Jahr für Hilfsmassnahmen geplant waren, und die Amerikaner haben die Mittel der Zentralbank gesperrt. Afghanistan ist heute ein Land, das völlig ruiniert ist und das mitten in einer Dürre steckt. Die Taliban werden Zeit brauchen, um die Verwaltung wieder aufzubauen.
Werden die Menschen in den Grossstädten bereit sein, unter das Joch der Taliban zurückzukehren? Es gab schon Proteste.
Die Menschen haben nicht die Wahl, ob sie die Taliban akzeptieren oder nicht. Das militärische Kräfteverhältnis ist klar. Die Regierung ist gestürzt, ein neues Regime ist an der Macht. Es gibt Vorbehalte gegen die Taliban in Kabul und anderen Grossstädten. Aber diese Demonstrationen haben nur sehr wenige Menschen zusammengebracht. In Kabul waren es nur 200. Das ist nicht viel für eine Stadt von fünf Millionen Einwohnern. Ich sehe nicht, dass solche Proteste das neue Regime destabilisieren könnten.
Wird der Bürgerkrieg nun erneut beginnen? Es gab bereits Aufrufe, zu den Waffen zu greifen, um sich den Taliban zu widersetzen.
Die Medien haben viel darüber berichtet, aber die Erfolgschancen scheinen mir gering. Wenn die Armee und die Milizen der Warlords hätten Widerstand leisten wollen, hätten sie dies getan. Ich sehe nicht, wie man eine Widerstandsfront aufbauen kann ohne massive Hilfe von aussen, und diese Hilfe sehe ich nicht kommen. Davon abgesehen glaube ich nicht, dass nach 40 Jahren Bürgerkrieg ein Aufruf zu einem neuen Bürgerkrieg das ist, was Afghanistan derzeit am dringendsten braucht.
Sind State-Building-Projekte wie in Afghanistan grundsätzlich zum Scheitern verurteilt?
Im Jahr 2001 war ein Erfolg angesichts des Zustands der politischen Klasse in den USA, angesichts der Tendenz zur Privatisierung des Krieges und angesichts der verzerrten Wahrnehmung der nichtwestlichen Gesellschaften unwahrscheinlich. Das lag nicht an den Besonderheiten der afghanischen Gesellschaft, es lag an uns. Heute ist die Situation noch schlimmer. Das Niveau der Expertise ist gesunken, die Privatisierung des Krieges ist weiter fortgeschritten, und unsere Haltung zum Islam ist von einer Mischung aus Abneigung und Faszination geprägt, was unsere Beziehung zu den muslimischen Gesellschaften erschwert. All das macht mich sehr pessimistisch, was zukünftige Interventionen betrifft.
Dass das ganze Geschwätz von der Beseitigung der Fluchtursachen in den Ländern ein Hirngespinst linker Ideologen ist, habe ich schon sehr oft geschrieben. Afghanistan hat es nur ganz klar aufgezeigt. In den anderen Staaten gilt allerdings das Gleiche. Ändern können die Zustände nur immer die Bewohner eines Landes selbst. Wenn diese nicht wollen, gibt es keine Verbesserung. Wenn H. Dorronsore eine neoliberale Wirtschaftspolitik als Ursache ansieht, und im gleichen Atemzug behauptet, dass immer große Unternehmen die Aufträge erhielten, zeigt er allerdings, dass er wenig Ahnung von „neoliberaler“ Wirtschaftspolitik hat. Das Expertenwesen können wir leider in allen Ländern sehen, in welches viele Gelder des Westens gepumpt werden. Das ist eben die Einführung der Korruption durch den Westen. Damit müssen wir endlich Schluß machen. Wir sehen doch in der EU, was die Hilfen bewirken: Nichts außer Korruption.
Wie wichtig ein solcher Beitrag in dieser hysterischen Medien- und NGO Kakophonie . Er wird nun sicher mit allen Mitteln unter den Teppich gekehrt werden, denn die Aussagen Herrn Dorronsoros widersprechen diametral dem, was in den meisten westlichen Hauptstädten behauptet wird und worauf die gegenwärtigen westlichen Aktionen aufbauen. Das Chaos in Afghanistan ist die Folge der mangelnden Kompetenz des Westens und des Opportunismus der Afghanen selbst. Nun müsste man die Feststellungen des Experten Punkt für Punkt analysieren und darauf die Antwort des Westens aufbauen. Was wohl aber folgen wird ein Schweigen oder Polemik, denn hätte Herr Dorronsoro Recht (und mir macht es mehr Sinn als alles andere, dass ich neulich einschlägig lesen musste) müsste nun eine Wahrheitskommission aufgestellt werden, um die Fehlverhalten der Entwicklungsorganisationen und ihrer Akteure zu beleuchten ( die Vernachlässigung des Aufbaus einer lokal funktionsfähigen Wirtschaft in Afghanistan ist ein Skandal). Wir dürfen solches Amateurwesen nicht mehr mit Steuergeldern ins Ausland exportieren.