Macht demonstrierende Talibane fahren mit einem eroberten amerikanischen Militärfahrzeug durch Kabuls Strassen

Eine kleine Führungsriege, effiziente Organisationsstrukturen und eine äusserst aktive Propagandamaschine gehören zum Erfolgsrezept der Taliban.  Sie wurden 1994 in der südafghanischen Stadt Kandahar von Mullah Mohammad Omar gegründet. Der aus ärmlichen Verhältnissen stammende junge Dorfprediger kämpfte in den achtziger Jahren als Mujahedin-Kommandant gegen die sowjetischen Besetzer und verlor dabei ein Auge. Nach deren Abzug 1989 versank Afghanistan in einem blutigen Bürgerkrieg. Mullah Omar beschloss daher, gegen die unter den Warlords grassierende Kriminalität und Korruption anzukämpfen. Die Gruppe nannte sich Taliban (auf Paschtunisch «Schüler»), weil ihre Gründungsmitglieder allesamt Studenten von Mullah Omar gewesen waren. Anfangs zählte sie nur knapp fünfzig Mitglieder, gewann jedoch schnell Zulauf.

Von ihrer Hochburg Kandahar aus eroberten die «Schüler» in kurzer Zeit weite Teile Afghanistans und nahmen 1996 Kabul ein. Sie waren anfangs populär, hatte doch auch das Volk genug von den grausamen Warlords. Doch dann zwangen die Taliban der Bevölkerung ihre radikale Interpretation der Scharia auf. Angebliche Kriminelle oder Sünder wurden öffentlich ausgepeitscht oder gar hingerichtet. Frauen hatten Burkas, Männer lange Bärte zu tragen.

Nach dem Angriff auf das World Trade Center in New York stürzte Ende 2001 eine von den USA angeführte Militärkoalition die Taliban, weil diese der Kaida von Usama bin Ladin Unterschlupf gewährt hatte. Die Führungsriege um Mullah Omar floh nach Pakistan und tauchte in Quetta unter. Einige liessen sich auch weiter nördlich in den paschtunischen Stammesgebieten nieder und bereiteten mithilfe des pakistanischen Militärs einen neuen Widerstandskampf vor.

Kleine Führungsriege

Mullah-Mohammad-Omar

Der Gründer Mullah Omar erlag 2013 einer Krankheit, erst zwei Jahre später jedoch gab sein Sohn dessen Tod bekannt. Nachfolger wurde Akhtar Mansur, der aber 2016 bei einem amerikanischen Drohnenangriff im pakistanischen Grenzgebiet getötet wurde. Danach übernahm Haibatullah Akhundzada, der die Taliban bis heute anführt und damit das letzte Wort in religiösen, politischen wie auch militärischen Fragen hat.

Haibatulla Akhundzada, derzeitiger Führer der Taliban

Akhundzada stammt aus Kandahar und ist um die sechzig Jahre alt. Er soll je nach Quelle unter dem Taliban-Regime Oberster Richter oder Leiter der Gerichtshöfe gewesen sein. Insider haben ihn als Hardliner beschrieben. So soll er etwa ein entschiedener Befürworter der Zerstörung der Buddha-Statuen von Bamiyan gewesen sein. Bevor er Taliban-Chef wurde und in den Untergrund ging, predigte er an einer Moschee in Kuchalk, einer Stadt im Südwesten Pakistans.

Weil die Taliban-Führung die letzten zwanzig Jahre im Untergrund lebte, gibt es wenig gesicherte Informationen über die einzelnen Mitglieder. Eine Ausnahme sind die politischen Vertreter, die in den letzten Jahren mit den Amerikanern und der Regierung in Kabul verhandelt haben. Von den meisten militärischen Anführern sind hingegen nur sehr magere Personalien bekannt. Von einigen existieren nicht einmal Fahndungsfotos. Jede Beschreibung kann deshalb nur der Versuch einer Annäherung sein.

Zu den Stellvertretern des Taliban-Chefs zählt Mullah Mohammad Yakub, der älteste Sohn des einäugigen Gründers. Er ist Anfang dreissig und verantwortlich für die Militäroperationen. Laut lokalen Medienberichten hielt er sich – anders als die meisten Führungsfiguren – in den letzten Jahren mehrheitlich in Afghanistan auf. Der jüngste militärische Erfolg dürfte seine Position innerhalb der Organisation weiter festigen. Yakub war schon 2016 als neuer Chef gehandelt worden, überliess den Posten dann aber offenbar Akhundzada, weil er sich selbst noch für zu jung und unerfahren hielt.

Viele alte Gesichter

Weiter zählt zum Führungsgremium auch Mullah Abdul Ghani Baradar, ein alter Weggefährte von Mullah Omar und Gründungsmitglied der Taliban. Er leitet das politische Büro und gehörte dem Team an, das in den letzten Jahren mit den Amerikanern und der afghanischen Regierung verhandelt hat.

Grossen Einfluss scheint mittlerweile auch Sirajuddin Haqqani, der Sohn des berüchtigten Mujahedin-Kommandanten Jalaluddin Haqqani, zu haben. Sein im Nordwesten von Pakistan ansässiges Haqqani-Netzwerk arbeitete in den letzten Jahren zunehmend enger mit den Taliban zusammen. Es hat sich auf Selbstmordanschläge spezialisiert und wird für viele aufsehenerregende Anschläge in Afghanistan verantwortlich gemacht. Haqqani ist um die fünfzig Jahre alt und kümmert sich um die militärischen und finanziellen Ressourcen der Taliban in Pakistan.

Etablierte Organisationsstrukturen

In den kommenden Tagen wird sich zeigen, wie sich die Taliban als Herrscher über Afghanistan organisieren und welche Gesichter aus dem Untergrund auftauchen und politische Verantwortung übernehmen. Sicher ist heute nur, dass die Taliban mehr als eine chaotische Truppe von Aufständischen sind. Sie haben gewisse Gebiete de facto schon seit längerem kontrolliert und verfügen über etablierte Organisationsstrukturen.

Die wichtigsten Entscheidungen werden von einem Führungsrat getroffen, der wegen seines langjährigen Verstecks auch als Quetta-Shura bezeichnet wird. Dem Rat gehören neben dem Taliban-Chef und dessen Stellvertretern rund zwei Dutzend weitere Personen an.

Daneben gab es bisher rund ein Dutzend Kommissionen, die für Dossiers wie Politik, Militär, Wirtschaft oder Soziales zuständig waren und wie Schattenministerien funktionierten. Sie verfügten unter anderem über Inspektionsteams, welche die Umsetzung der Vorgaben in den kontrollierten Distrikten sicherstellten.

Nur vordergründig gemässigt

Am meisten treibt die Afghanen heute die Frage um, ob sich die Taliban im Vergleich zu ihrer Schreckensherrschaft von 1996 bis 2001 gemässigt haben. Die Führung hat ihre offiziellen Positionen eindeutig abgeschwächt, selbst in Bereichen wie der Bildungspolitik. Hauptgrund dafür dürfte sein, dass man sich nicht mehr derart unpopulär machen möchte wie vor zwanzig Jahren.

Die Taliban haben in den letzten Jahren auch eine effiziente Propagandamaschinerie aufgebaut. Eigene Medienteams waren dabei, als ihre Kämpfer in den letzten Tagen eine Stadt nach der anderen eroberten. Ihre Siegespropaganda bemühte sich sichtlich darum, die Taliban als geläutert zu porträtieren. Man wolle dem Land Frieden bringen, hiess es. Wer sich ergebe, dem werde nichts zustossen. Viele Afghaninnen und Afghanen schienen erst einmal erleichtert, dass es nicht zu einem blutigen Krieg um dichtbevölkerte Städte gekommen ist.

Die Angst vor brutalen Racheaktionen und neuer Repression ist dennoch gross. Zu frisch sind die Erinnerungen an das Terrorregime in den neunziger Jahren. Zudem kursieren auf den sozialen Netzwerken Videos, die zeigen, wie Taliban brutal Soldaten und Regierungsbeamte hinrichten. Und es gibt Berichte, dass die Taliban in eroberten Gebieten Frauen das Arbeiten verbieten und Mädchenschulen schliessen.

Das Bild bis jetzt ist durchzogen: die jeweilige Situation scheint von lokalen Kommandanten und örtlichen Gegebenheiten abzuhängen. Bis dahin scheinen die Taliban nicht im grossen Stil Menschenrechtsverletzungen und Racheaktionen begangen zu haben. Dennoch kann von einer friedlichen Machtübernahme keine Rede sein. Und die Afghanen – und vor allem die Afghaninnen – werden auch unter dem neuen Taliban-Regime viele ihrer hart erkämpften Freiheiten einbüssen.
Die Amerikaner haben sich verzogen, auch die Deutschen sind (rechtzeitig) getürmt. Da muß doch die Frage erlaubt sein: Hat Afghanistan etwa kein Erdöl? – Tja dann …

Aug. 2021 | Allgemein, In vino veritas, Junge Rundschau, Politik, Sapere aude, Senioren, Zeitgeschehen, Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch | 3 Kommentare