Im Süden gewöhnt man sich die Hektik ab, nimmt sich die Zeit, vergeudet sie. So wie die alten südländischen Männer, die einfach so dasitzen, auf Stühlen, ein halbvolles Glas vor sich, nichts mehr erwarten.

Es gibt ihn überall, den Süden, in dem es nie zu spät ist, man nie viel vorhat und alles möglich ist.
Man kennt sie. Hat sie irgendwo gesehen. Ist zumindest einmal an ihnen vorbeigefahren. Alte Männer, halb Bauern, halb Propheten, die braungebrannt und alt an Strassen stehen, den Rest ihres Lebens auf Plastikstühlen verbringen, wie man sie in Schrebergärten oder vor der Klagemauer findet. Vor ein Haus in irgendeinem Land gestellt, in dem die Frauen fromm sind und die Männer wenig Auswahl haben, es spielt keine Rolle, welches, in unserem Fall ist es Spanien.
Das Südländische und das Mitteleuropäische unterscheiden sich nicht nur in ihren Klischees, sondern vor allem im Alltag, und das Geheimnis liegt in den Tagen verborgen, die sind wie alle anderen Tage. Die Schweizer etwa sind gut bei der Arbeit, die Südländer besser danach. In Südeuropa arbeitet man in Arbeitskleidung, schraubt oder steht im Dreck herum und geht nach Feierabend im Anzug auf einen schönen Platz, ist ganz da, setzt sich, wenn’s sein muss, im Schatten einmal um den gesamten Platz herum. Trinkt eine Flasche Wein. Wartet auf jemanden, mit dem man den Wein teilen kann. Ende der Aktion. Falls keine Tageszeitung mehr über den Platz weht, die man lesen kann. In der Schweiz oder in Deutschland fährt man im Anzug zur Arbeit, Tür auf, Treppe runter, ganz früh und ganz aufgeregt, auf dem Fahrrad, in Leuchtkleidung, klingelt, wie man mit einem Maschinengewehr schiessen würde, und isst sein gesundes Mittagessen nervös aus einem Plastikbehälter, nur um es aufgegessen zu haben. Raucht nicht, trinkt nicht, sitzt nicht einfach so in der Gegend herum. Nimmt sich nie die Zeit, vergeudet sie nicht.

Werden wir uns mit MacBooks auf die verwaisten Plätze der alten Männer setzen oder fragen, ob es in den Bars auch Steckdosen gibt und WLAN?
Gegen die Hektik einer aufgegeilten Welt
Nicht so wie alte südländische Männer. Männer ohne Frauen. Sie reden, oder sie reden nicht. Haben immer Freitag, immer halb elf. Rauchen oder tun irgendwas dazwischen, um dann wieder rauchen zu können, und machen das öfter, weil man dort, wo sie leben, nichts anderes tun kann, als etwas öfter zu machen. Sie sitzen so da, vor Tischen, auf Stühlen, haben ein halbvolles Glas vor sich stehen, egal zu welcher Zeit, denn nicht die Zeit bestimmt die Dauer eines Lebens, sondern das, was drin ist. Keine Ahnung, wie’s Ihnen geht, aber ich brauche den Anblick dieser Männer, sie gehören nicht nur zur Landschaft des Südens, sie sind selbst Landschaft geworden. Ich brauche ihre Trinkgewohnheiten und ihre langen Lebensabende gegen die Studien unserer Zeit. Ihre Sprichwörter gegen die Wortwucht der Zahlen und Fakten. Manche ihrer Trugschlüsse gefallen mir besser als jede mir bekannte Wahrheit. Am meisten aber brauche ich ihre Ruhe und die Langeweile, die von ihnen ausgeht. Ich brauche sie gegen die Hektik einer aufgegeilten Welt, gegen Effizienzwahn, E-Mail-Emotionen, Computerrundrücken. Wir Mitteleuropäer sind so, wir würden die Welt schneller drehen, wenn wir könnten und wenn die alten Männer nicht wären.
Was werden wir tun, wenn die alten Männer tot sind?
Uns mit MacBooks auf ihre Plätze setzen oder fragen, ob es in den alten Bars auch Steckdosen gibt und WLAN? Ein Weltkulturerbe ist in Gefahr: Menschen, die das süsse Nichts tun. Ihre besten Jahre sind gezählt, und die Erkenntnisse dieser Jahre werden mit ihnen fortgehen. Sie erwarten nichts mehr. Sie haben ihr Leben lang gearbeitet, um sich nun noch ein bisschen an diesem Leben zu erfreuen, ohne es wieder haben zu wollen. Mehr kann man von besten Jahren nicht verlangen, als dass sie irgendwann einmal vorbeigehen.
So kosten sie es aus, ziehen den Rest in die Länge, machen es so dauernd wie nur möglich und kaufen Pralinen für ihre Frauen, um das mit dem vielen Sitzen wieder gutzumachen. Bloss keine Zeit preisgeben. Aber mit welchen Mitteln, ausser tagelang auf Plätzen und Balkonen zu sitzen? Zur Not in Wartezimmern warten, irgendwo Schlange stehen, einen Laden haben und darauf hoffen, dass jemand kommt, aus dem Fenster schauen, noch ein Gläschen bestellen, viel zu früh an den Bahnhof gehen, sehr kompliziert mit dem Bus umherfahren, das Aussteigen vergessen und sich besser wieder zurück auf die Plätze setzen.
Einer der alten Männer aus Sevilla hat mir gesagt, dass Shakespeare gesagt habe, Zeit sei das einzige Mass, das für jeden anders sei. Und genau so ist es. Zeit hat man heute eigentlich nur noch, wenn man sich aussperrt oder sich das Handy klauen lässt oder im Sommer in den Süden fährt. Nach Andalusien, noch weiter südlich geht nicht, wenn man nicht übers Wasser will. Obwohl es ihn überall gibt, den Süden, in dem es nie zu spät ist, man nie viel vorhat und alles möglich ist, weil es immer halb elf ist, diese magische Zeit, blauer Himmel, weisses Vergessen.

Jedes Jahr von Juli bis September verbarrikadieren sich die Menschen bis spät in der Nacht in abgedunkelten Häusern.
Nachholen, was am Tag versäumt wurde
Im Grunde genommen ist der Sommer in Südspanien eine miese Zeit. Viel zu heiss. Die Hitze steht wie ein unsichtbares Urteil über allem, und mit Hitze meine ich: Hitze! 45 Grad. Ich erinnere mich noch gut an meine erste Fahrt, in irgendeinem August, ich weiss nicht mehr, in welchem Jahr es war. Lissabon–Sevilla. Kurz vor der Grenze fiel die Klimaanlage aus. Aus offenen Fenstern kam kein Fahrtwind mehr, sondern Atem aus der Hölle. Wir waren zu dritt. Die Spanierin, der das Auto gehörte, entschuldigte sich aufrichtig wegen der Hitze. Sie redete darüber wie über etwas nie Dagewesenes. Als hätten sie die Hitze in Spanien gerade erst erfunden. Als hätte sie den letzten Sommer vergessen und den vorletzten und den davor. Jedes Jahr, seit Tausenden von Jahren, von Juli bis September, gibt es in Andalusien tagsüber kein Leben draussen im Freien. Die Menschen verbarrikadieren sich bis spät in der Nacht in abgedunkelten Häusern. Die Strassen sind so leer wie bei einem Lockdown. Erst wenn es kühler wird – es ist zwar immer noch nicht kühl, aber vielleicht ist das Thermometer von 43 auf 31 Grad gesunken –, kommen die Menschen langsam aus ihren mit Klimaanlagen gekühlten Wohnungen. Das Leben beginnt um 22 Uhr und endet frühmorgens. Alles ist hektisch und dicht gedrängt, und keine Gasse, keine Sekunde vergeht ohne Gelächter, ohne dass Eiliges auf Spanisch durch die Luft gewirbelt wird. Es ist, als müssten die Spanier alles nachholen, was sie den ganzen Tag über versäumt hatten.
Die Wichtigkeit und den Wert von Langeweile versteht man, wenn man von seiner ersten andalusischen Siesta zur Ruhe gezwungen wird. In jenem Sommer, in dem wir mit dem Auto nach Sevilla fuhren, lernten wir das von Antonio, einem stolzen Spanier, der in der Bodeguita Casablanca an der Tapasbar stand. Wir waren traurig, wenn die Mittagszeit vorbei war und wir ins Hotel gehen mussten. Er erzählte uns alles, was wir über Andalusien und den Stierkampf und den Flamenco wissen wollten. Ich fand Stierkampf und Flamenco immer schon toll, aber seit ich Antonio kenne, weiss ich auch, was ich daran toll finde: die Liebesgeschichten, die hinter den Bewegungen stecken. Er war so nett in der Art, wie er davon erzählte und wie er uns die Tapas brachte, und eigentlich unterhielten wir uns nie sehr lange. Er fing zwar immer an zu reden und landete schliesslich auch irgendwo. Das eigentliche Vergnügen war aber eher zu entdecken, was der andere von dieser oder jener Sache hielt, vom Stierkampf und vom Flamenco, und ob wir mit unserer Meinung übereinstimmten, verbrüdert waren. Wenn dem so war, lächelte er dann immer, wenn er an unserem Tisch vorbeikam, so, als ob unsere Übereinstimmung von nun an unser kleines Geheimnis wäre, um das nur wir wüssten, und als es drei Uhr wurde, warf er uns raus. Uns blieb nichts, ausser im Hotel zu warten, bis die Sonne weg war.
Abends erzählten wir Antonio von unserer langen Siesta, und er meinte, wir seien fast schon spanisch. Meiner portugiesischen Freundin gefiel das gar nicht. Antonio wechselte schnell das Thema, sagte etwas über die Hitze und darüber, dass man den Sommer meistern müsse. Nur Idioten kämen im August hierher und rennten in den Tag wie in die Wüste. Er war der Meinung, wir sollten uns mit der Erfahrung, die wir in Sevilla gemacht hätten, ruhig weiter in den Süden trauen. Nach Cádiz, dort gebe es gar nichts, nur schöne Gassen und Parks und Meer. Der Horizont sei sehr weit und trotzdem immer noch gerade, und das Meer dreckig und warm. Die Menschen in Cádiz hielten eine wundervolle Siesta.
Wir glaubten Antonio, wie wir ihm immer geglaubt hatten, wenn er uns brachte, was er uns eben brachte, und dazu immer einen wunderbaren Wein servierte. Alles in äusserst spanischer Ruhe. Ohne dass dabei etwas kalt oder warm oder verschüttet wurde. Wir assen bei ihm viele kleine Krabben, Tomaten mit Hai, Ochsenschwanz und viele andere Sachen, die auf keiner Karte standen. Danach tranken wir Sherry. Wir hätten für den Rest unseres Lebens so weitermachen können, hätte uns Antonio nicht ständig von Cádiz erzählt, damit wir uns aufmachen und den Geheimnissen übergeben sollten, die uns als Zufälle getarnt begegnen würden.

Cádiz lädt dazu ein, Plätze zu nutzen, einfach nur so dazusitzen, ein Buch zu lesen . . .

. . . und der Sonne dankbar zu sein für das Scheinen.
Auf den Morgen warten
So machten wir uns eines Tages also auf, verpassten den Morgenzug, fuhren mit dem am Nachmittag nach Cádiz. Wer keine Umwege gehe, komme nie an, hatte Antonio ja gesagt, und dass wir unbedingt am Wasser entlanglaufen müssten. Mehr eigentlich nicht. Und mehr taten wir auch nicht. Nachts sassen wir in Cafés, und in der Frühe setzten wir uns auf die Plaza San Francisco und warteten auf den Morgen, liefen etwas herum, während uns die ersten offenen Läden entgegengähnten, kauften Trauben und Käse und verliefen uns noch ein bisschen. Man kann sich in Cádiz nur auf den Plätzen orientieren, denn in den Gassen gibt es keinen Handyempfang. Manche der Plätze sind schön grün. Am schönsten sind die an der Alameda-Apodaca-Promenade. Sie sind voll mit Statuen: Literaten, Musiker, Maler, ein Ensemble der Künste, fürs Sehnen und Sinnen gemacht. Da stehen Bänke aus Marmor, die nicht nur von Obdachlosen benutzt werden oder von solchen, die etwas auf sie schreiben. Wir setzten uns zu jeder Tageszeit einmal auf die Bänke, selbst wenn es heiss war oder wenn Leute kamen, die sie fotografierten und dann wieder gingen, ohne sich auf sie gesetzt zu haben. Sie genossen die Orte nicht. Sie genossen nur die Fotos, die sie machten. Das musste Antonio mit Am-Meer-Entlanglaufen gemeint haben: Plätze nutzen, einfach nur so dasitzen, an verschiedenen Orten ein Buch lesen, der Sonne dankbar sein für das Scheinen, nicht mehr wollen, nicht mehr sein, nicht mehr haben.
Nach diesem August in Andalusien, als wir wieder in Lissabon waren, versuchte ich mich öfters einmal auf einen Stuhl zu setzen, herumzuschauen, nichts zu tun, nicht einmal zu lesen. Es musste kein Plastikstuhl sein. Ich tat das ganz bewusst, solange ich’s aushielt. Die ungelesenen Bücher stapelten sich, die dringenden Aufgaben waren nicht mehr so dringend. Schön war’s. Mittlerweile bin ich wieder dort, wo ich vor Andalusien angefangen hatte. Erst neulich las ich auf dem Klo ein Buch mit chinesischen Weisheiten: «Geh langsam, wenn du es eilig hast.» Selbst das wollte ich schnell zu Ende gelesen haben. Mit einigen Weisheiten stimmte ich überein, andere waren mir zu platt, und von manchen hätte ich mir gewünscht, dass sie in einer anderen Situation oder in ihrer Sprache zu mir gefunden hätten.
Auf dem Platz vor meinem Haus sitzt seit einiger Zeit wieder ein alter Mann. Er ist mein ganz eigener alter Mann, der kurz vor dem Mittag im Norden beginnt und sich dann langsam nach Osten aufmacht. Er sitzt auf seinem Stuhl wie auf einem Thron und erinnert mich daran, wie lange ich nicht mehr so auf einem Stuhl gesessen habe.
