Dominik Graf langt für diese Verfilmung mit beiden Händen ins filmhistorische Archiv und nutzt das riesige Reservoir der Möglichkeiten für einen Avantgardefilm, der wenig mit avantgardistischem Pathos, aber mit der Sinnenfreude des Kinos viel zu tun hat: Das Problem mit der Avantgarde ist ja, dass sie immer so avantgardistisch ist, heißt es an einer Stelle in loser Kästner-Verfilmung „Fabian oder der Gang vor die Hunde“. Was sich in dieser lustvollen Szene – Sommer, Wasser, Leute drin – ausplaudert, ist vielleicht auch die Haltung dieses schönen Films: Was muss die Filmkunst oft so unsinnlich sein? Was müssen das Spiel und Experiment mit den Formen, der Griff ins filmhistorische Archiv oft so ernstelnd ausfallen?
Die Kammer der Filmgeschichte, das Reservoir der Möglichkeiten ist reich gefüllt, man muss sich nur bedienen. Denkt sich Dominik Graf, der beherzteste Spieler des hiesigen Gegenwartskinos, und schafft einen Avantgardefilm, der mit avantgardistischem Pathos wenig, aber viel mit der Sinnenfreude des Kinos zu tun hat.
Sinnenfreude heißt wohlgemerkt nicht Opulenz, auch nicht Fetisch des Dekors. Keine ausgewachsenen Abteilungen haben hier HD-kompatibel noch bis ins Detail am Prunk einer vergangenen Dekade geschliffen, wie etwa beim deutschen Serienblockbuster „Babylon Berlin“, mit dem sich „Fabian“ grob das Setting teilt: Berlin, die dekadenten Jahre am Ende der Weimarer Republik, am Vorabend der Machtübernahme durch die Nazis. Eine chaotische Zeit der Krise, Tanz auf dem Vulkan: Der Werbetexter Bild: Jakob Fabian (Tom Schilling) lässt sich – Oh Boy! – durch die Großstadt treiben: Nachtleben, Exzess, Literatur, Philosophie, Bohème. Fabian im Modus teilhabender Distanz, in die Vollen greifend, aber kühl dabei. Vielleicht auch, weil er von Weltkrieg Eins traumatisiert ist.
Eine junge Liebe, die Bardame Cornelia (Saskia Rosendahl), stolpert in sein Leben. Sie wohnt in der gleichen Mietsstube wie er. Sie visiert eine Karriere beim Film an. Fabians Freund Stephan (Albrecht Schuch), deutlich besser gestellt als Fabian, reicht seine Habilitation ein. Fabian selbst verliert seinen Job – auf dem Anwesen von Stephans Vater sieht er, umgeben von Wohlstand, einem Leben in großstädtischer Armut entgegen. Cornelia versucht derweil, beim Film zu landen. An der Uni machen sich die Nazis breit, noch laufen, im Hintergrund des Geschehens, orthodoxe Juden wie selbstverständlich durchs Straßenbild.
Der Blick der deutschen Gegenwart auf eine deutsche Zeit, von der uns wer weiß schon wieviele Phasen und Schichten trennen: Wende, deutsche Teilung, das Regime der Nazis. Wer sich dieser Zeit nähern will, muss tief runter. Und vielleicht ja wirklich runter in den Berliner U-Bahnhof Heidelberger Platz – in seinem bürgerlichen Prunk der schönste der Stadt, in seiner Illusion von bruchloser Geschichte vielleicht aber auch der verlogenste -, in den sich Hanno Lentz‘ hungrige Kamera gleich zu Beginn versenkt, in den U-Bahnhof von heute wohlgemerkt, den sie einmal durchwandert, um am Ende, am anderen Ausgang, dann doch in der Vergangenheit herauszukommen. Man kann diesen buchstäblichen Move vielleicht als Behauptung von Kontinuität lesen – ich sehe darin eher eine Geste des Gespensterhaften: Die Geister dieser Vergangenheit sind unserer Gegenwart nicht ausgetrieben, vielmehr sind sie ihr psychogeografisch eingeschrieben. An einer anderen Stelle im Film gleitet die Kamera wie absichtslos nach unten – zu sehen sind Stolpersteine, die an die Opfer der Nazis erinnern. Vergangenheit und Gegenwart – beider Gespenster bevölkern die jeweils andere Domäne. Es ist kompliziert.
Kompliziert ist es auch in materialästhetischer Hinsicht. Das digitale Filmbild entspringt der Gegenwart, Einschübe von Super8 entsprechen einer Vergangenheit, einer Form filmischer Privatheit und Intimität, die im Jahr 1931 allerdings noch Zukunft ist. Dazu: Materialien aus den Archiven, schwarzweiße Straßenimpressionen, hektisch und wild, kontrastive Marker tiefer Vergangenheit, die neben den digitalen Bildern selbst schon im Verhältnis zum sonst Gezeigten so fern wirken wie Sagen aus der Antike: Man staunt ja immer, dass Menschen aus der Zeit des Stummfilms im echten Leben reden konnten und ihre Umwelt genau wie wir in Farbe sahen und sich keineswegs eckig-zackig bewegten und wohl auch nicht theatralisch gestikulierten.
Wenn Fabian, Cornelia und Stephan ihre Tage miteinander verbringen, steht das quer zu den Bildern, die uns das Filmerbe in den Archiven von dieser Zeit vermittelt, vom Simulakrum der Geschichte, wie es uns gängigerweise vorkonstruiert wird. Man kriegt diese Zeit nicht zu fassen, schafft kein Verhältnis dazu: Die Position des Films bleibt stets die der Gegenwart, nie geht es um simulative Anverwandlung. Die Kamera ist oft wendig und schlank, fast so wie auch der späte Stummfilm wendig und schlank war, bevor mit den großen Tonfilmkameras die Erdenschwere des UFA-Films Einzug ins Kino hielt. Der große Schriftzug „1931“ zu Beginn ist unterlegt von verzerrten E-Gitarren – der ganze Film: ein großer, ein sanfter, ein darin paradoxer Brecht’scher Verzerrungs-, pardon: Verfremdungseffekt.
Wie bereits geschrieben: keine Opulenz. Manche Sets wirken fast abstrakt, mit viel Schwarz im Hintergrund. Die Kleidung ist nicht exaltiert auf Modenschau getrimmt. Das Nachtleben ist exzessiv, aber exzessiv im Rahmen menschlichen Augenmaßes, nicht auf Videoclip getrimmt. Manche Szenen könnten fast heutzutage spielen. Keine Retromania, kein Film gewordenes Coffeetable-Book. Wie Fabian durch die politische Krise seines Landes und seine eigene Lebenskrise wie ein unbeteiligter Beobachter in absoluter Fühlnähe gleitet, gleitet dieser Film durch seinen Stoff, seine Zeit, seine Form. Auch deshalb wirkt „Fabian“ brüchig, wie zusammengesetzt aus Scherben, widerstrebenden Sinneseindrücken, nicht festgelegt, ohne geraden Vektor in die Zukunft.
Ohnehin neigt Graf nicht zur geschlossenen Form: Weder in seinem übergeordneten Werk, das viele Genres umfasst, vom populären Krimi zum intellektuellen Essay reicht, das spielerische der Liebe genauso kennt wie existenzielle Härte und sich eher in Zyklen der Kooperationen mit Drehbuchautoren organisieren lässt als durch eine alles bestimmende Vision eines Künstlersubjekts. Noch in den einzelnen Werken, in denen oft entgegenstrebende Fliehkräfte walten, die das Zentrum der Filme zu zerreißen drohen.
Dieses Scherbenhafte führt in „Fabian“ zu einem paradoxen Seheindruck. Fast – aber eben wirklich und eindeutig nur: fast – wirkt die Ungebundenheit des Films wie eine kleine Utopie. Die Abzeichnung eines Möglichkeitsraums, von unserem heutigen Wissen wie ein Schatten belegt, dass das Moment gesellschaftlicher Auflösung, das dieser Film streift, in die größte Katastrophe Europas des 20. Jahrhunderts geführt hat. Davon kann Fabian natürlich noch nichts wissen.
Nichts ist immer schon im Gewebe der Gegenwart für die Zukunft festgelegt, aber geschehen kann alles, nicht nur, aber auch das Schlimmste – darauf scheint Grafs Film zu insistieren. Es hätte damals vielleicht auch alles anders kommen können, falsche Sicherheiten führen ins Verderben.
Was das über unsere Gegenwart sagt, bleibt fürs Erste abzuwarten.
Fabian – Deutschland 2021 – Regie: Dominik Graf – Darsteller: Tom Schilling, Saskia Rosendahl, Albrecht Schuch, Meret Becker, Michael Wittenborn – Laufzeit: 176 Minuten.