Das Gendersternchen schadet niemandem, auch wenn vorgebliche Sprachpuristen es gern anders darstellen. Sensiblen Sprachgebrauch vorzuschreiben, ist aber auch keine Lösung.
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Die Sprache als Fahne – Seite 1
„Amerika, du hast es besser / Als unser Kontinent, das alte, / Hast keine verfallene Schlösser / Und keine Basalte.“ So reimte Deutschlands Dichterfürst 1827, und man muss feststellen: Goethe, du hattest es besser: Um den Reim auf „Basalte“ zu ermöglichen, veränderte er einfach das Geschlecht des Worts „Kontinent“. Es ist auch gar nicht einsichtig, warum eine Landmasse weiblich oder männlich sein sollte und nicht sächlich. Wer – wie ich – als Zuwanderer die Geschlechter deutscher Wörter – „der“ Mond, obwohl die romanischen Sprachen unseren Trabanten als weiblich ansehen, „die“ Sonne, obwohl es bei den Nachbarn umgekehrt ist – lernen musste, beneidet Goethe um seine Nonchalance. Heutige Deutschlehrer*innen und Korrektor*innen würden außerdem – wie mein Word-Korrekturprogramm – „keine verfallene Schlösser“ als Fehler ankreiden. Unsere Sprache war schon mal flexibler.
Wie Sie bemerkt haben, verwende ich oben das Gendersternchen, um männliche, weibliche und im Hinblick auf ihre sexuelle Identität – oder „Gender“ – diverse Menschen einzubeziehen. Früher habe ich auch das – inzwischen als unzureichend inklusiv verworfene – „Binnen-I“ verwendet. Aber – ich gebe es zu – nicht eigentlich aus edlen Gründen, sondern oft, um Reaktionäre zu ärgern. Oder um Fortschrittlichen zu signalisieren, dass ich selbst nicht reaktionär bin. Jedenfalls nicht im Hinblick auf die gesellschaftliche Inklusion. Und hier liegt ein Problem. Sprache wird allzu oft nicht als Verständigungsmittel benutzt, sondern als Fahne: Seht her, ich gehöre zu dieser oder jener Gruppe!
Es gibt andere, weniger brisante Beispiele. Psychologen benutzen zur Kennzeichnung ihrer Zugehörigkeit zur Zunft das Verb „erinnern“ mit dem Akkusativ: „Ich erinnere die Begegnung“ statt „ich erinnere mich an die Begegnung“. Eine übrigens sinnvolle Anwendung angelsächsischer Grammatik auf die deutsche Sprache, die sich merkwürdigerweise aber nicht durchsetzen will. Protestanten reden von ihrer Institution oft als „Kirche“ ohne Artikel. Vermutlich wollen sie damit Alleinvertretungsansprüche der einen oder anderen Konfession – und vor allem der Katholiken, die mit „der“ Kirche eben ihre eigene meinen – zurückweisen und die Gemeinschaft aller Christen betonen. Paradoxerweise aber weisen sie sich gerade dadurch als gesonderte Gruppe aus. Früher erkannte sich die Miles-&-More-Elite daran, dass sie deutsche Wörter nicht benutzen konnte, sondern sie durch englische ersetzten musste. Das ist allerdings inzwischen so üblich geworden, dass ich nicht einmal wüsste, wie ich „Carsharing“, „Homeoffice“, „Pop-up-Radweg“ oder „Shitstorm“ auf Deutsch sagen könnte. Von „Gender“ ganz zu schweigen.
Amerika hat es auch in Bezug auf das Gendern leichter. Es hat nicht die „verfallene Schlösser“ der deutschen Grammatik, als da sind „der, die, das“ (übrigens werden die Artikel immer in der Reihenfolge aufgelistet: nie alphabetisch: „das, der, die“). Männlich zuerst: der Mann, die Frau, das – offensichtlich geschlechtslose – Kind. Dank „the“ kann die englische Sprache relativ leicht inklusiv werden. Ein paar Berufsbezeichnungen müssen geändert werden – „flight attendant“ statt „stewardess„, „chairperson„, „chairwoman“ oder einfach „chair“ statt „chairman“ –, und ansonsten verlagert sich das ganze Problem auf die Pronomina. Und wer nicht, wie es manche tun, einfach abwechselnd „he“ oder „she“ benutzen will, kann auf die längst auch in der Alltagssprache übliche Variante zurückgreifen, „they“ als ein Gender-inklusives Pronomen auch in der Einzahl zu verwenden: „If someone doesn’t want a vaccination, they will have to accept some discrimination.“ Auf Twitter geben Leute an, wie sie erwähnt werden wollen: „he/ she/ they„.
Glaubenskrieg um das „Gendern“
Deutschland, du hast es schlechter. Hast Basalte und das grammatische Geschlecht. Und nur deshalb Binnen-I, Gendersternchen oder Genderdoppelpunkt und den entsprechenden Schluckauf-Laut, wenn frau versucht, einen gestirnten oder gepunkteten Text zu lesen. Und, was schlimmer ist, einen Glaubenskrieg um das „Gendern“. Manche Universitäten legen inzwischen Wert auf die konsequente Verwendung von gendergerechter Sprache in Studien- und Prüfungsarbeiten. (Obwohl sie es, wie ich selbst bezeugen kann, mit den Kommaregeln etwa und der allgemeinen Leserlichkeit jenseits der politisch-grammatikalischen Korrektheit oft nicht so genau nehmen, von den Plagiatsbestimmungen ganz zu schweigen. Andere Baustelle.) Auf der anderen Seite mobilisieren reaktionäre Kräfte für ein Verbot des Genderns. (Obwohl sie, ohne sich des Widerspruchs bewusst zu sein, den Grünen immer vorwerfen, die „Verbotspartei“ zu sein.) Damit ist der Sprachgebrauch zu einem Element des „virtue signalling“ der Linken und zu einer Fahne im Kulturkampf der Rechten geworden.
Und das Problem damit eigentlich unlösbar. Das Problem nämlich, wie sich eine über Jahrhunderte entwickelte und sich immer noch entwickelnde Sprache mit grammatischem Geschlecht so weiterentwickeln kann, dass sie die neuen Sensibilitäten des 21. Jahrhunderts im Hinblick auf das „natürliche“ (ich weiß, ich weiß) Geschlecht reflektiert. Es ist ein bisschen wie beim Klimawandel. Den gab es immer, aber jetzt passiert er so rasend, dass wir uns vor die Notwendigkeit gestellt sehen, unsere gesamte Energieerzeugung und -nutzung sehr plötzlich umzustellen. Es sind übrigens fast immer dieselben Kräfte, die einerseits den Klimawandel oder die Dringlichkeit des gesellschaftlichen Wandels nicht wahrhaben, andererseits das „Gendern“ (gern mit hartem „G“ ausgesprochen) verbieten wollen.
Und es sind auf der anderen Seite oft dieselben Kräfte, die einerseits mit dem Hinweis auf den „Klimanotstand“ tatsächlich möglichst viel – Inlandsflüge, Pkw in den Innenstädten, Eigenheime auf der Wiese, Steaks auf dem Teller – verbieten wollen, andererseits verbissen jedes vergessene Gendersternchen, jeden unterlassenen Schluckauf, jede unüberlegte Verwendung von „man“ verfolgen, die eine akademische Arbeit etwa über Sternenstaub oder Bodenqualität nur dann gelten lassen wollen, wenn die Autorin einen Kotau vor dem Stammessprachfetisch macht.
Frankreich hat es in den Augen der Reaktionären besser, weil die Académie française einfach das Gendern verboten hat, angeblich weil es die Klarheit und Verständlichkeit der französischen Sprache unterminiere. In Wirklichkeit, so steht es zu vermuten, weil es als angelsächsische Torheit gilt. Man hat in Frankreich lange Zeit Schutzquoten für Musik mit französischen Texten im Radio und Fernsehen gesetzlich vorgeschrieben, und es gibt ja auch genügend prominente Französinnen, die sich mit der Meinung zu Wort melden, sexuelle Anzüglichkeiten und Macho-Verhalten seien Teil der französischen Kultur, die sie nicht missen wollen. Nun denn.
Das deutsche Pendant zur Académie française ist die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Schon bei Vorlage ihres Berichts zur Lage der deutschen Sprache 2017 sah ihr Mitglied Peter Eisenberg in den amtlichen Vorschriften zur Verwendung gendergerechter Sprache, wie sie etwa in Berlin gelten, „sprachpolizeiliche Allüren“. Im Interview mit dem Deutschlandfunk sagte Eisenberg: „Solche Eingriffe in die Sprache sind typisch für autoritäre Regimes, aber nicht für Demokratien.“ Für ihn bedeutet die Verwendung des Gendersternchens oder von Kunstbildungen wie „Geflüchtete“ statt „Flüchtling“ eine Vergewaltigung der Sprache. Die Politiker seien „gewählt worden, um den Willen ihrer Wähler zu verwirklichen. Und was machen sie als Erstes: Sie wollen die erziehen“.
Hätte also die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung eine auch nur ähnliche Macht wie ihr Pendant in Paris, wäre es bald um die gendergerechte Sprache geschehen – jedenfalls in amtlichen Schriftstücken. Niemand könnte es einer Dichterin verwehren, sie dennoch zu benutzen. Da allerdings liegt die Häsin im Pfeffer: Gerade in amtlichen Dokumenten stören der Genderstern und andere Versuche der Inklusion nicht wirklich; wir haben uns daran gewöhnt, dass solche Texte ohnehin schwer verständlich oder doch sehr umständlich sind. Dichter und Dichterinnen jedoch werden kaum von diesen sprachlichen Möglichkeiten oder Marotten Gebrauch machen.
Auf dass sich die Gedanken nicht entgrenzen
Die deutsche Sprache ist ohnehin dank ihrer Endungen äußerst silbenreich, was deutsche Texte oft lang macht. In einem früheren Leben war ich hauptberuflicher Übersetzer, und bei der Übertragung englischer Texte ins Deutsche wurden sie um ein Viertel länger. Wolf Biermann schrieb über seine Nachdichtung der Sonette William Shakespeares: „Wie kriegt man einen breiten deutschen Hintern in die schmale englische Hose … Fünf Hebungen wie im Original sind zu wenig. Ich brauchte eigentlich Verse mit fast sieben Füßen, das entspräche in etwa dem quantitativen Unterschied der Sprachen.“ (Übrigens nahm sich Biermann die Freiheit heraus, die ersten 77 Sonette, die nach Meinung der meisten Shakespeare-Expertinnen an einen jungen Mann gerichtet sind, an eine Frau zu richten. Er dürfe das, so Biermann, auch „weil das Englische so oft unklar ist in Bezug auf das Geschlecht …“.)
Wir wollen also – jenseits offizieller Dokumente – eine Sprache, die so „unklar in Bezug auf das Geschlecht“ und gleichzeitig so „schlank“ sei wie das Englische; jedenfalls wollen wir das, wenn wir uns nicht partout gegen jede Veränderung stemmen; ein Widerstand, der sich oft genug unter dem Deckmantel des Schutzes der Sprache in Wirklichkeit gegen die Sache wendet, die Gleichberechtigung und das Sichtbarwerden von Frauen, Schwulen, Lesben, queeren und trans Personen, und daher genauso „erzieherisch“ und „sprachpolizeilich“ gemeint ist wie die von Eisenberg kritisierten Vorschriften. Wenn die Grenzen meiner Sprache die Grenzen meiner Welt sind, wie Ludwig Wittgenstein meinte, dann wollen Reaktionäre die Sprache eingrenzen, auf dass sich die Gedanken nicht entgrenzen.
Interessanterweise ziehen die Anti-Gender-Kreuzzügler selten oder nie ernsthaft gegen die Anglisierung der Sprache zu Felde, obwohl sie das Deutsche mindestens so verbiegt wie die Gendergerechtigkeit: Verben wie „downloaden“, „liken“, „outsourcen“ oder „googeln“ vermischen englische Phonetik mit deutscher Grammatik, widersprechen den Regeln deutscher und englischer Rechtschreibung und Grammatik: „Ich habe seinen Post geliked.“ Die selektive Blindheit der angeblichen Sprachpuristen erinnert an die Haltung der Gegnerinnen der „Verspargelung“ der Landschaft durch Windräder, die nie ein Wort verlieren gegen Hochspannungsmasten, Schornsteine, Bürotürme und Automassen, die seit Jahrzehnten Stadt und Land viel mehr verschandeln.
Die Aufgabe, eine zugleich elegante und inklusive Sprache zu entwickeln, bleibt. Einstweilen schadet es keiner und keinem, wenn in Verordnungen und Gesetzestexten das Gendersternchen und möglichst nur genderneutrale Formulierungen – „Lernende und Lehrende“ etwa statt „Schüler und Lehrer“ – benutzt werden. Den Gebrauch in akademischen und schulischen Arbeiten vorzuschreiben, geht allerdings zu weit. Verbote und Gebote schaffen kein Umdenken, sondern nur böses Blut.
Die Weisheit der Menge wird Formulierungen finden, die jenseits von Stern und Schluckauf die Mängel der Sprache kompensieren; Dichter und Dichterinnen können dabei helfen. Und damit das geschieht, sollten Stern und Schluckauf als Stachel im Fleisch des Sprachkörpers bleiben. Sie werden aber, davon bin ich überzeugt, nicht das letzte Wort bleiben.
Genau deshalb sollte sich aber der Kulturkampf wieder um die Sache selbst drehen, um die Rolle von Genderkonstruktionen und die Überwindung von Klischees in der Gesellschaft. Mein Enkelsohn ist kein halbes Jahr alt. Ich wäre froh, wenn er sich nicht wie ich mit Erwartungen an sein Männlichsein herumschlagen müsste, die aus einer anderen Welt stammen. Wie Ray Davies sang: „Boys will be girls and girls will be boys.“ Nur die Sprache dafür haben wir noch nicht. Kommt noch.