Mesopotamien: Zunächst bestand die Schrift aus Bildsymbolen, später wurde sie abstrakter.

Fragen Sie Alexa, sie weiss – fast – alles. Und wenn Sie sie fragen, weiss sie auch, was Sie wissen wollten. Das kann von Interesse sein, zum Beispiel für den Staat – für den notabene die Corona-Krise ein soziologisches Grossprojekt ist. Auch Tech-Konzerne haben dank ihren Analysewerkzeugen eine hochauflösende Sicht auf die Gesellschaft. Bedroht das die Souveränität? Der Staat hat in seiner Entstehungsgeschichte schon immer «Daten» seiner Bürger gesammelt – in analoger Form. Bereits in Mesopotamien wurden um 3000 v. Chr. Kreditverträge in Keilschrift dokumentiert und von der Tempelverwaltung archiviert – als eine Art amtliches Schuldverzeichnis.

Im alten Rom wurden regelmässig Bürgerzählungen durchgeführt und Personenstandsregister angelegt, in denen neben der Angabe zum Wohnsitz auch Geburten vermerkt wurden. In mittelalterlichen Städten gingen amtliche Zähler von Haus zu Haus und registrierten die Bewohner. In Zeiten der Pest führten Städte ein lückenloses Überwachungs- und Registrierungssystem ein, in dem nicht nur Name, Alter und Geschlecht aller Bewohner, sondern auch Beschwerden und Ruhestörungen verzeichnet wurden.

Der Politikwissenschafter James C. Scott analysiert in seinem Buch «Seeing Like a State» (1998), wie der Staat durch Standardisierungen und Vereinfachungen einen neuen Zugriff auf sein Territorium und die auf ihm lebende Gesellschaft gewinnt. Er beschreibt, wie durch die Standardisierung von Sprache und Masseinheiten und die Einführung von Katastern der Staat eine neue Sicht auf die Gesellschaft erlangte.

Die Gesellschaft ist auch ein Ding

Der moderne Staat machte eine Bestandsaufnahme: Er schaute, wie viele Bäume und Mischwälder es auf seinem Staatsgebiet gibt, wie viele Bewohner, wie viele landwirtschaftliche Betriebe und so weiter. Die Kataster als staatliche Simplifikation spiegelten nicht nur die Eigentums- und Besitzverhältnisse, sondern sie schufen auch eine neue (fiskalische) Wirklichkeit, die das feudale System ablöste.

Durch die neuen Vermessungs- und Erhebungstechniken gelang es einerseits, Wissen zu erzeugen, andererseits, den Staat zu modernisieren, weil dieses Wissen feineren administrativen Praktiken zugeführt werden konnte. Erst durch die «Entdeckung der Gesellschaft als eines verdinglichten Objekts» konnte der moderne Verwaltungsstaat zu dem werden, was er ist. Foucault nannte die Statistik einmal die «Wissenschaft vom Staat».

Man könnte also sagen: Das Management der Corona-Krise ist für den Staat ein soziologisches Grossprojekt. Er muss mit Instrumenten wie Apps, die in seinem analogen Werkzeugkasten bisher kaum Verwendung fanden, die Dynamik einer hochmobilen und individualisierten Gesellschaft erfassen und quasi Buch über das Alltagsleben seiner Bürger führen. Und das, obwohl liberale Geister schon vor der Kodifizierung der ersten Datenschutzregime Zurückhaltung bei der staatlichen Datensammlung anmahnten.

Apple ist am Puls der Menschen

So schrieb der Staatsrechtler Robert von Mohl 1858 in seinem Werk «Die Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften»: «Die statistischen Bureaus dürfen nicht vergessen, dass sie keine Staatsinquisitionen sind. Wenn die nutzlose Neugierde derselben in dem Grade weiter zunimmt, wie sie in der neuesten Zeit gewachsen ist, so würden noch Tabellen auszufüllen sein, wie oft die Suppe versalzen war oder die Kinder gezüchtigt wurden, von noch geheimeren Verhältnissen des Haus- und Ehestandes ganz zu schweigen.»

Doch während Datenschützer die staatliche Überwachung geisseln, wenden Medizinstatistiker ein, der Staat befinde sich in einem Blindflug. Noch immer fehle es an Daten, nach wie vor wüssten die Behörden nicht, wo sich Menschen ansteckten und in welchen Berufsgruppen es Infektionscluster gebe. Wäre der Staat ein Computer, könnte man sagen, dass die Grafikkarte eine zu niedrige Auflösung hat.

Das statistische Wissen, das für ein effektives Contact-Tracing nötig ist, wird nicht vom Staat selber, sondern von privaten Akteuren produziert: von Tech-Konzernen. Und dies schon lange. Google, dessen mobiles Betriebssystem Android auf über zwei Milliarden mobilen Endgeräten installiert ist, weiss genau, wo sich seine Nutzer aufhalten und wo sie gerade hinfahren. Facebook erkennt mit seinen Algorithmen die Suizidgefahr von Nutzern. Amazon analysiert mithilfe von Alexa, wer gerade hustet und Grippesymptome aufweist. Und Apple fühlt am Puls von weltweit hundert Millionen Apple-Watch-Trägern.

Google weiss, wer schwanger wird

Eine so hochauflösende Sicht auf den Gesellschaftskörper hatte bisher nur der Staat. Das verweist auf eine grundlegende Transformation von Staatlichkeit: Herrschaftswissen und zunehmend auch Machttechniken sind nicht mehr allein beim Staat monopolisiert, sondern diffundieren in die Silos privater Datenkonzerne.

In einem Akt der Souveränität möchten Regierungen diesen Datenschatz nun heben und mit der Big-Data-Brille ihren Blick auf das Territorium schärfen. So greifen Zentralbanken auf der ganzen Welt auf Suchmaschinendaten von Google zurück, um ihre makroökonomischen Modelle zu verfeinern. Die italienische Zentralbank versucht etwa, anhand von Google-Suchen nach «Eisprung», «Schwangerschaftsurlaub» und «Schwangerschaftstest» die Geburtenrate bis zu 24 Monate im Voraus zu prognostizieren. Google ist ein Seismograf des Sozialen – und weiss mehr als jedes Statistik- oder Katasteramt.

Die britischen Behörden nutzen seit einiger Zeit das Kartenmaterial von Google Maps, um Steuerbetrüger, die bei der Angabe ihrer Grundstücksfläche schummeln, zu überführen. Die griechischen Finanzämter identifizierten in der Euro-Krise mithilfe von Google Earth Hunderte von nicht deklarierten Swimmingpools. Und auch der französische Fiskus fragt frei zugängliche Daten im Netz ab, um Unregelmässigkeiten in der Steuererklärung zu entlarven.

Wer Daten hat, hat Macht

Wenn Behörden nun Handydaten auswerten, um Bewegungsprofile zu erstellen und Infektionsketten zurückzuverfolgen, geht es nicht primär um Überwachung, sondern um eine Neuvermessung des staatlichen Territoriums und seiner Bewohner – kurz: um eine Simplifikation und Rationalisierbarkeit von Verhaltensmustern, wie sie Scott beschreibt.

Nun haben staatliche Institutionen in der Vergangenheit immer wieder das Wissen privater Akteure angezapft. Auch hat es in der Geschichte mächtige parastaatliche Akteure gegeben, etwa das Handelshaus der Fugger, das mit einer eigenen Post ein frühmodernes Nachrichtensystem schuf und einen Grossteil der Informationsströme kontrollierte. Doch die algorithmengetriebene Gouvernementalität hat nochmals eine neue Qualität, weil die Informationsströme ganz anders reguliert werden.

Im Schatten von Big Data könnten so etwas wie digitale Arkana entstehen. Der Soziologe Armin Nassehi notiert in seinem Buch «Muster»: «Als 1872 das ‹Statistische Amt des Deutschen Reiches› gegründet wurde, galten die Daten nicht umsonst als Staatsgeheimnis. Sie wurden nicht veröffentlicht, weil man genau wusste, dass sie das eigentliche Machtmittel zur Steuerung der Gesellschaft sind.»

Was darf der Staat wissen?

Die Frage ist: Müsste Google den Staat in Kenntnis setzen, wenn sich in den Suchtrends eine vierte oder fünfte Corona-Welle andeutete? Müssen die Konzerne dem Staat Personen melden, die sich ausweislich ihrer Standortdaten in der Nähe des Tatorts eines Verbrechens aufgehalten haben (was in den USA bereits praktiziert wird)? Was wäre, wenn sich in den Suchtrends Anzeichen eines «bank run» oder gar eines Volksaufstands abzeichneten? Wäre Google auskunftspflichtig?

Die potentielle Kongruenz von Staats- und Betriebsgeheimnissen macht deutlich, wie schwierig es ist, ein modernes Staatswesen unter den Voraussetzungen von Geheimhaltungspflichten einerseits und Publizitätspflichten andererseits zu organisieren. Die Tech-Konzerne sehen wie der Staat. Sie lassen sich aber selbst nicht in die Karten schauen.
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Adrian Lobe
Die Gesellschaft im Datengefängnis

C.H. Beck Verlag, München 2019
ISBN 9783406741791
Kartoniert, 256 Seiten, 16,95 EUR
Juni 2021 | Allgemein, Buchempfehlungen, Feuilleton, Junge Rundschau, Forschung | Kommentieren