Der gesetzlichen Rente drohen „schockartig steigende Finanzierungsprobleme“ – und zwar schon ab 2025, in nur vier Jahren. Davor warnte der Wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium vergangene Woche in einem Gutachten. Es brauche Reformen, etwa eine höhere Altersgrenze, sonst könnten die Zuschüsse in die Rentenkasse bald den Bundeshaushalt „sprengen“.
Die Reaktion fiel heftig aus. Olaf Scholz, Vizekanzler, Bundesfinanzminister und SPD-Kanzlerkandidat, etwa behauptet, die Wissenschaftler hätten „falsch gerechnet“, ihre Lösungsvorschläge seien „unsozial“, und überhaupt wolle er das Thema lieber mit „echten Experten“ diskutieren. Ist also alles ein Irrtum? Gibt es gar kein Problem mit der Rente?
1. Klafft bald ein Loch in der Rentenkasse?
Wenn es „unechte“ Experten sind, die vor einem Problem in der Rentenkasse warnen, dann sind das ziemlich viele. Dem Wissenschaftlichen Beirat des Wirtschaftsministeriums gehören 39 Professorinnen und Professoren an, darunter auch sonst von der SPD hoch geschätzte Ökonomen wie Marcel Fratzscher, der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). Das Gutachten erarbeitet hat eine Gruppe um Axel Börsch-Supan, einen der bekanntesten Rentenexperten des Landes. Und im Beirat wurde das Gutachten, so berichtet es dessen Vorsitzender, nach ausführlicher Diskussion einstimmig verabschiedet. Offensichtlich sind sich die Wissenschaftler bei diesem Thema also weitgehend einig.
Etliche andere Fachleute sind ebenfalls besorgt. So spricht der Sachverständigenrat, auch bekannt als Rat der Wirtschaftsweisen, von einer Gefahr für die „Tragfähigkeit“ des Rentensystems. Die Bundesbank sieht „erheblichen Druck auf die Rentenfinanzen“ zukommen, und auch die von der Regierung vor drei Jahren eingesetzte Kommission Verlässlicher Generationenvertrag stellte fest, es stünden „erhebliche finanzielle Mehrbelastungen“ bevor, das Rentensystem müsse „neu justiert“ werden.
In den vergangenen zehn Jahren war die Situation noch geradezu paradiesisch. Da zahlten die Babyboomer in die Rentenkasse ein, also eine Generation, der besonders viele Menschen angehören. Es gab deshalb, so sagen Fachleute, eine „demografische Atempause“.
Damit ist es bald vorbei. In den kommenden zehn Jahren sorgt die gleiche Generation für eine demografische Atemnot. Dann gehen diese geburtenstarken Jahrgänge nämlich in Rente. Aus einem Überschuss an Beitragszahlern wird innerhalb weniger Jahre ein Übermaß an Zahlungsempfängern. Und weil im Umlagesystem der gesetzlichen Rente kein Geld zurückgelegt wird, heißt das: Die wenigen Angehörigen der nachfolgenden Generation müssen mit ihren Beiträgen und Steuern für die vielen aus der Zeit des Babybooms aufkommen.
Ändert man nichts an den Regeln, führt das zu drastisch steigenden Beiträgen, warnt der Wissenschaftliche Beirat. Heute müssen vom Lohn eines Arbeitnehmers 18,6 Prozent an die Rentenkasse abgeführt werden, in 15 Jahren wären es schon 23 Prozent, mit weiter steigender Tendenz. Daneben würden wohl auch die Beiträge für die Kranken- und Pflegeversicherung kräftig steigen.
Zugleich müsste das Rentenniveau fallen. Heute erhält ein sogenannter Standardrentner – das ist jemand, der 45 Jahre lang gearbeitet und immer durchschnittlich verdient hat – 48 Prozent des Durchschnittslohns als Rente. Das entspricht nach Abzug von Sozialbeiträgen derzeit weniger als 1400 Euro, ist also schon nicht üppig. Künftig würde das Niveau dieser Standardrente nach Berechnung des Beirats immer weiter sinken, in zehn Jahren auf 46 Prozent des Durchschnittslohns, fünf Jahre später auf 44 Prozent und dann weiter Richtung 42 Prozent. Das entspräche heute nicht einmal 1200 Euro im Monat. Kurzum: Läuft alles weiter wie gehabt, gehen die Beiträge durch die Decke, und die Renten schrumpfen (nicht absolut, aber im Verhältnis zu den Löhnen
2. Müssen wir die Rente mit 68 einführen?
Für den ehemaligen Arbeitsminister Franz Müntefering (SPD) war die Sache klar: Wenn die Menschen immer älter werden, müssen sie auch länger arbeiten. „Da muss man kein Mathematiker sein. Da reicht Volksschule Sauerland, um zu wissen: Wir müssen etwas machen“, lautete der Spruch, mit dem er für die Rente mit 67 warb. Damals, 2007, beschloss die große Koalition, die Altersgrenze für die volle Rente bis zum Jahr 2031 schrittweise von 65 auf 67 Jahre anzuheben.
Nun schlagen die Berater des Wirtschaftsministeriums vor, die Altersgrenze dauerhaft daran zu koppeln, wie sich die Lebenserwartung entwickelt. Steigt die Lebenserwartung um ein Jahr, soll das Renteneintrittsalter um acht Monate angehoben werden, so ihr Vorschlag. Bei dem Tempo, in dem sich die Lebenszeit bisher verlängert habe, heißt es in dem Gutachten, würde voraussichtlich im Jahr 2042 die Rente mit 68 gelten.
Kein anderer Punkt in dem Expertenpapier (das weitere Lösungsansätze nennt) hat für so viel Aufregung gesorgt wie dieser. Nicht nur bei Olaf Scholz. „Das ist der asoziale Oberhammer“, erklärte die Parteichefin der Linken, Susanne Hennig-Wellsow, und forderte den Wirtschaftsminister auf, das Gutachten „zu kassieren“. So weit ging Peter Altmaier (CDU) nicht, beeilte sich aber mitzuteilen, er sei gegen jede Erhöhung des Rentenalters über 67 hinaus. Ähnlich äußerte sich Alexander Dobrindt, der Chef der CSU-Landesgruppe im Bundestag.
Kaum zur Sprache kam dabei, dass diese Reform erst weit in der Zukunft wirken würde. Zudem fordern die Wissenschaftler ausdrücklich, dass es einen sozialen Ausgleich für Menschen geben müsse, die aus gesundheitlichen Gründen nicht so lange durchhalten. Und statt einer ganz starren Altersgrenze empfehlen sie auch, mehr Spielraum für einen individuellen Rentenbeginn zu geben.
81 % der Deutschen halten es für wahrscheinlich, dass das Renteneintrittsalter über 67 Jahre hinaus weiter angehoben wird.
Trotz der Ablehnung durch die Wahlkämpfer halten Ökonomen wie DIW-Chef Fratzscher ein höheres Rentenalter für unausweichlich. Aber „in der Politik“, sagte er vergangene Woche in einem Fernsehinterview, „will jetzt keiner wirklich den Menschen reinen Wein einschenken“. Viele Bürgerinnen und Bürger ahnen das offenbar. In einer Umfrage, die das Meinungsforschungsinstitut Civey für die ZEIT durchgeführt hat, gaben 81 Prozent der Befragten an, sie hielten es für wahrscheinlich, dass das Renteneintrittsalter über die bisher vorgesehenen 67 Jahre hinaus erhöht wird. Nur 13 Prozent halten das für unwahrscheinlich.
3. Wäre das Problem gelöst, wenn Beamte und Selbstständige in die Rente einzahlen müssten?
In der Literatur, in Film und Theater gibt es manchmal eine völlig überraschende und eigentlich sehr unwahrscheinliche Wendung zum Guten. Plötzlich fällt die Lösung für einen schwierigen Konflikt praktisch vom Himmel. Seit dem antiken Drama ist das unter dem Begriff des Deus ex Machina bekannt. Auch in den Diskussionen über die Rente taucht oft eine Lösung nach diesem Muster auf. Der Deus ex Machina der Rentendebatte ist der Vorschlag, Beamte, Selbstständige, Politiker und andere Berufsgruppen sollten in das System einzahlen, dann wären alle Probleme gelöst.
Experten sind da leider skeptisch. So äußerte etwa die Regierungskommission Verlässlicher Generationenvertrag durchaus Sympathie für den Gedanken, aus Gerechtigkeitsgründen Beamte und Politiker in die gesetzliche Rentenversicherung einzubeziehen. Aber dass das ein Mittel sei, um die Rente nachhaltiger zu finanzieren, stimmt nach ihrer Einschätzung „voraussichtlich eher nicht“. Noch klarer formulieren es die Wirtschaftsweisen: Nähme man Selbstständige und Beamte in die Rentenversicherung auf, ändere das „nichts an der Tatsache, dass in Zukunft weniger Beitragszahlerinnen und -zahler für mehr Rentnerinnen und Rentner aufkommen müssen“.
Das Problem: Wenn die Selbstständigen und die Beamten einzahlen, erwerben sie auch Ansprüche an die Rentenkasse. Und weil es bei ihnen eine ähnliche demografische Schieflage gibt wie in der übrigen Bevölkerung, ändert sich am Grundproblem wenig. Bei den Beamten kommt noch hinzu, dass der Staat in einer langen Übergangszeit gleichzeitig für die Pensionen aufkommen müsste wie für einen Teil der neuen Rentenbeiträge. Der Sachverständigenrat befürchtet deshalb „erhebliche fiskalische Probleme“.
Man kann also aus guten Gründen fordern, dass alle in die gesetzliche Rentenversicherung aufgenommen werden. Nur sollte man eher nicht erwarten, dass dadurch auf magische Weise die Finanzmisere verschwindet.
4. Was gibt es noch für Möglichkeiten, um die Rente zu stabilisieren?
Man kann sich das Rentensystem wie eine riesige Maschine vorstellen, die Geld einsammelt und verteilt. An dieser Maschine gibt es ein halbes Dutzend wichtige Hebel (und noch einige kleinere), mit denen sich ihre Funktionsweise verändern lässt. Zu den wichtigen Hebeln gehören etwa der Beitragssatz, das Rentenniveau oder ein Zuschuss aus dem Bundeshaushalt. Zwei dieser Hebel haben SPD und Union festgebunden. Das Rentenniveau darf nicht unter 48 Prozent fallen und der Beitragssatz nicht über 20 Prozent steigen. So ist es bis zum Jahr 2025 gesetzlich vorgeschrieben. Diese „doppelte Haltelinie“ soll den Bürgern Sicherheit geben.
Doch sie schafft auch Probleme. Wenn diese Hebel kaum noch bewegt werden dürfen, muss man bei den anderen umso radikaler zupacken. Der Beirat hat ausgerechnet, wie stark man etwa den Zuschuss vom Bund erhöhen müsste, wenn die doppelte Haltelinie auf Dauer festgeschrieben bleiben sollte. Schon heute fließen 28 Prozent des Bundeshaushalts in die Rentenkasse, langfristig müssten es dann über 60 Prozent sein. Für andere Aufgaben bliebe wenig Geld übrig.
Der Bochumer Ökonom Martin Werding hat für weitere Hebel der Rentenmaschine ähnliche Berechnungen vorgelegt. Unterstellt ist dabei immer, dass ein einziges Instrument benutzt wird, um die Rente zu stabilisieren. Wäre das zum Beispiel die Altersgrenze für die Rente, müsste sie auf 77 Jahre steigen. Und gäbe es nur die Option, für mehr Zuwanderung zu sorgen, müssten jedes Jahr zwischen 1,3 und 1,7 Millionen Einwanderer ins Land kommen (und Arbeit finden), um die Rente zu finanzieren. Das sind mehr, als es 2015 während der Flüchtlingskrise waren. Realistisch erscheint das nicht.
Solche Rechnungen zeigen: Die drohende Finanzklemme ist so groß, dass sie sich nicht lösen lässt, wenn man nur einen oder wenige Hebel anfasst. Man muss wohl alle verfügbaren nutzen – statt nur einen bis zum Anschlag umzureißen.
Im aktuellen Gutachten werden dafür auch einige neue Vorschläge genannt. So könnte man das Rentenniveau zumindest bei besonders üppigen Renten leicht senken, während man kleine und mittlere Renten davon verschont. Schließlich profitieren Menschen mit hohen Einkommen meist überdurchschnittlich stark vom Rentensystem, weil sie im Schnitt älter werden als Geringverdiener.
Einige Parteien (FDP, Grüne, SPD) sprechen sich für die Idee aus, an die Rentenmaschine noch etwas Neues anzubauen: eine Art Staatsfonds, der Geld für das Alter an der Börse anlegt. Das ähnelt der Riester-Rente, wäre aber eben nicht privat organisiert. So ein Instrument haben etwa Norwegen und Schweden schon. Auch das könnte Teil einer Lösung sein. Allerdings braucht es viele Jahre, bis sich das Investment auszahlt. Deshalb kann es nur langfristig helfen – und müsste jetzt angepackt werden.
5. Kann es auch ganz anders kommen? Wie sicher sind langfristige Prognosen?
Wie sich die Renten entwickeln, hängt von vielen Faktoren ab. Arbeiten künftig noch mehr Frauen? Werden wieder mehr Kinder geboren? Kommen viele Zuwanderer ins Land (und finden Arbeit)? All das beeinflusst die Ergebnisse von Modellrechnungen, wie sie der Beirat, die Bundesbank oder der Sachverständigenrat erstellt haben. Und zumindest bei den Szenarios, die in sehr weiter Ferne liegen – einige reichen bis 2060 –, ist alles andere als sicher, dass sie tatsächlich genauso eintreten.
Doch die demografische Atemnot beginnt eben viel früher, schon 2025. Und da sind große Überraschungen unwahrscheinlich. Manche Trends, auf die man hoffen könnte, sind zudem in den Modellen längst berücksichtigt. So geht das Gutachten des Beirats davon aus, dass die Frauenerwerbstätigkeit weiter steigt (auf den zweithöchsten Wert in Europa) und dass weiterhin viele Zuwanderer nach Deutschland kommen (über 200.000 pro Jahr). Es gibt also wenig Grund, eine völlig andere Entwicklung zu erwarten. Und die angeblichen Rechenfehler?