Die Pandemie ist noch nicht zu Ende und schon haben wir Grund anzumerken: Danach kommen nicht nur Annehmlichkeiten, es kommen auch einige unangenehme Erkenntnisse über das Land und über die Leute und den Wahlkampf und das Klima. Aber: Hurra – wir leben noch! Nun ist es doch aber nicht so, als habe die Pandemie überhaupt nichts verändert. Und man merkt das vielleicht besonders schmerzlich, wenn man nach der ersten Impfdosis draußen sitzt und auf das Gefühl der Befreiung wartet. Man weiß nun manche Dinge besser, und man weiß sie definitiv.
Zum Beispiel weiß man, dass es einen lautstarken Anteil von Mitbürgern gibt, der exponentielles Wachstum, symptomfreie Krankheitsübertragung und das Präventionsparadox nicht auch nur ansatzweise versteht.
Damit wird nun zu leben sein, zumal sich daraus Schlüsse ziehen lassen: Dem Klimawandel zum Beispiel wird mit diesen Leuten beziehungsweise einer Politik, die ihre Begriffsstutzigkeit zum Maßstab nimmt, nichts entgegenzusetzen sein. Die Vernunft, die darin läge, kurzfristig Lebensumstände radikal zu ändern, um langfristig auch nur annähernd vergleichbar weiterleben zu können, ist bis auf Weiteres chancenlos, global und national.
Zu Anfang der Pandemie gab es dieses Wissen so noch nicht
Die Zukunft schien damals für einen Moment, was sie zuvor über Jahrzehnte in Deutschland kaum war: offen, grundsätzlich veränder- und beeinflussbar durch eine beherzt handelnde Politik und eine Öffentlichkeit, die etwas völlig Verrücktes zeigte, nämlich Einsicht in Einschränkungen der persönlichen Lebenssphäre und der eigenen Bequemlichkeit.
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Neben allen Sorgen um Erkrankungen und Freiheitsrechte war die Pandemie damit plötzlich auch ein Ort für Hoffnungen auf eine Gesellschaft, in der soziale und ökologische Fragen nicht hinter den Zwängen des Kapitalismus zurückstehen müssen. Nicht weil Maßnahmen an sich sozial oder nachhaltig gewesen wären. Es geht um die Illusion, dass die Veränderbarkeit der Verhältnisse grundsätzlich möglich wäre, wenn sogar CDU und CSU irgendeinen Grund erkennen können, die Wirtschaft auszubremsen.
Gibt es einen Weg dorthin zurück? Weniger denn je. Trinken Sie gemütlich Ihren Aperol, aber lassen Sie ansonsten alle Hoffnungen aus dem Frühjahr 2020 fahren. Und seien Sie bloß nicht entsetzt, weil sich dieses Land beziehungsweise der polit-sozial-mediale Komplex, der wohl leider grad die deutsche Öffentlichkeit ist, als jenes dubiose Gebilde erweist, das wir auch schon vor der Pandemie bestens kannten.
Wie ein ausgewachsenes Extremwetter zieht hier nun ein Wahlkampf herauf, in dem zuvorderst die Grünen sich kaum noch trauen, etwas zu fordern, was als sinnlose und schikanöse Verbotspolitik zerrieben werden könnte. Die beginnende Phase der abklingenden Pandemie könnte mehr noch als die vorangegangenen Phasen eine des rasenden Stillstands und der Demokratiesimulation werden, der leeren Sprechakte zwischen Menschen, die nichts zu bereden haben, weil sie entscheidende Grundannahmen über die Wirklichkeit nicht teilen. Ernsthafte Aushandlung wird mithin unmöglich und ersetzt durch esoterisches Gelaber von technischen Lösungen (FDP und CDU) und einer boomenden Klima-Wirtschaft (Grüne). Ob sich damit rechtzeitig Entscheidendes ausrichten lässt? Ist doch egal, Hauptsache, es klingt irgendwie nach Zukunft.
Es gibt also keinerlei Hoffnung, dass vernünftiges Wollen und Handeln nicht bis zum jüngsten Tag durch ein unerträgliches Getöse begleitet würde, erzeugt durch Zweifel, die auf völlig falschen Annahmen über die Naturgesetzmäßigkeiten der Welt oder über die Bedeutung von Restunsicherheiten der Forschung beruhen. Utopisch die Konstellation, wo Einsicht wenigstens teuer erkauft werden kann. Sagte manch epidemiologisch versierter Utilitarist im Herbst noch hinter vorgehaltener Hand: „Es hilft nichts, sie müssen es einmal spüren“, und meinte damit, nach dem massenhaften Sterben komme die Einsicht, dass dieses Sterben zugleich möglich und verhinderbar sei, wissen wir nun, dass man mit taktischer Gefühllosigkeit auch dann noch nichts spüren kann, wenn es doch etwas zu spüren gäbe.
Auch Schwiegermütter sind das Volk
Es entspricht nun einer Konvention, einen Text zu irgendeinem guten Ende zu bringen. Und tatsächlich: Da ist eins. Um dorthin zu gelangen, muss man allerdings, leicht unseriös, eine schweigende Mehrheit beschwören. Andererseits, undenkbar ist die ja nicht: Es ist denkbar, dass es noch eine zweite Öffentlichkeit gibt, die öffentlich weniger in Erscheinung tritt als die bis hierhin skizzierte Öffentlichkeit. Und es gibt ja sogar Hinweise, dass es sie gibt. Man trifft diese Öffentlichkeit in Impfzentren, Kirchengemeinden und auf Bauernhöfen und man trifft sie gerade in Gesprächen über die Pandemie: Es ist ein klassen-, schichten- und bildungsmilieuübergreifendes wissendes Sich-Zunicken, wenn man erfreut feststellt, dass ein konstruktives, auch kontroverses Gespräch (etwa über die soziale Gerechtigkeit von Maßnahmen der Pandemiebekämpfung) möglich ist, weil die Grundannahmen klar sind und die wesentlichen Parameter (exponentielles Wachstum, symptomfreie Übertragung, Präventionsparadox) verstanden wurden.
Insofern ist da doch Hoffnung für diese neue Normalität, in die man eventuell bitter und auf jeden Fall erschöpft hineinrobbt und voller Sorge, dass auf einen „super Sommer“ (Karl Lauterbach) ein sehr deutscher Herbst folgt. Es ist die Hoffnung, dass nicht alles umsonst war: dass ein Crashkurs in wissenschaftlichem und abstraktem Denken stattgefunden hat, wie man ihn sich vor der Pandemie nicht hätte träumen lassen; dass auf jeden Schreihals mindestens eine Person kommt, die sich der Risiken von Nichthandeln bewusst ist.
Insofern sollte man auch den Moment der Erleichterung nicht unterschätzen, wenn man nun statt der Arschgeigen im Internet wieder vermehrt normale Leute vor der Kneipe oder im Altersheim trifft und man Menschen weit abseits erhitzter Social-Media-Diskussionen ein menschenfreundliches und gottgefälliges Leben führen sieht. Auch die eigene Schwiegermutter ist das Volk. Und man sollte sich nicht in diese Falle setzen, die Vertreter der Öffentlichkeit so gerne aufstellen: Hörst du mich nicht an, beziehungsweise meine „normalen Leute“, spaltest du die Gesellschaft.
Die nämlich, die spaltet sich ohnehin von ganz allein. Die Frage ist nur, wo die Bruchlinien verlaufen. Und welchen Platz in ihr die aufgeklärte Öffentlichkeit finden könnte.