Ein Plädoyer für das Schauspiel in den Zeiten von Kabel-TV, Computerspiel und Corona? Aber ja doch, gern! Welcher Spielraum nämlich bleibt heute noch Tätern auf der Bühne? Sie werden belauscht, wenn sie Pläne schmieden, sie werden gescannt, wenn sie Verbündete suchen, ihre Gedanken lösen Alarm aus, ehe sie Tat werden, sind sie doch schon gefesselt, derweil sie es aber nur selber noch nicht wissen. Die neueste Technik sind Einschnürungstechniken. Im Kino und im Fernsehen diktieren sie längst den Lauf der Geschichten: das Handy, das geortet wird; das Internet, in dem man die Tat zurückverfolgen kann bis zur Idee, der sie entsprang; die GPS-Spuren, die das Fluchtauto hinterläßt; die Satellitenkamera, die auf die Städte niederfährt wie ein sehender Blitz.
Bald wird es das nicht mehr geben, den Zufall, das individuelle Böse, die Flucht. Und auch nicht mehr das Zusammenspiel von Entschlossenheit und gesellschaftlicher Trägheit (Menschen, die sich nicht erinnern und die nichts gesehen haben), durch das eine Tat erst wirkt. Die Erzählung der Welt wird den Menschen entzogen und an die Maschinen delegiert, die nicht wegsehen und nicht vergessen und nun den Zusammenhang herstellen.
Die Schauspieler mit dem das Leben von heute darstellen zu wollenden Versuch, fragen sich: Wie spielt man das? Welche Geschichten bleiben noch zu erzählen? Natürlich arbeitet jeder Zeitungsbeitrag über »das aktuelle Theater« mit fahrlässigster Vergröberung, aber in diesem Grobmodell läßt sich ein Muster deutlich wahrnehmen: Virtuelle Erzählungen von entschlossenem Handeln gehen im Kino, TV und mittlerweile im Videospiel vonstatten, während das Theater vom Behandeltwerden, vom Ausgesetztsein, vom Warten erzählt. Während TV und Kino gerne »außenrum« gehen und das große Welteinschnürungskunststück begleiten mit bubenhafter Bewunderung, stiehlt sich das Theater zur Andacht ins stille Innere der Falle. Während jene die Vernichtung der Freiheit als Weltfest der Suspense feiern, zeigt das Theater sie als Endspiel.
Die Helden der Spannungsfilme sind kühle Forensiker (die aus einem Tellerchen mit Hautschuppen eine Tragödie rekonstruieren) oder kauzige Hellseher und Röntgendenker (die das noch nicht Geschehene vorauswissen). Gemeinsam schnüren sie uns symbolisch ein. Gemeinsam verkörpern sie die Macht der Technologie. Es geht letzten Endes nicht mehr darum, Verbrechen aufzuklären, sondern darum, sie zu unterbinden: schneller sein als die böse Tat. Nein, schneller sein als der böse Gedanke!
Das legendäre Beispiel für eine berauschende Einschnürungserzählung im Fernsehen ist die amerikanische Serie 24, in welcher der Geheimagent Jack Bauer 24 in Echtzeit erzählte Stunden hat, um die Welt zu retten vor der Vernichtung durch feindliche Technik. Handlungsstränge schießen durcheinander, alle schlingen sich um den zentralen Gelenkpunkt dieser Welt, nämlich um den Hals des armen Jack. Sein Leben wird so beschleunigt (oder so sehr dem Stillstand entgegengepeitscht), daß es nur noch aus dauernden Entscheidungen und Bewährungsproben besteht. Jeder Moment ist eine Weggabelung, und in jeder Sekunde lauert eine Falle. Zeit wird als Raum erfahrbar, als begehbare Höllenmaschine, in der brennende Lunten uns den Weg weisen. 24 hat eine solche gestalterische Fülle, dass wir ganz vergessen, was da eigentlich erzählt wird: wie feindliche Technologien sich ineinander verkrallen, bis sie die letzte unbewachte Sekunde zerquetscht haben.
Es gibt in der „Theaterszene“, wie man so hört, große Fans von 24. Viele besitzen alle Folgen in der Sammelkassette. Denn die Serie hat in grotesk quellendem Überfluß all das, was auf der Bühne nicht mehr zu finden ist: Zeitnot, Irrtum, Reue, Folter, Opfertum, drohenden Untergang, den dröhnenden Anspruch, Weltmodell zu sein. Das deutsche Theater hat in Jack Bauer seinen Antipoden gefunden. Weiter kann man im Geschäft des »Welterzählens« kaum auseinanderliegen als Jack und der durchschnittliche deutsche Bühnenheld.
Wie aber erzählt Theater die Welt?
Eine Anekdote von Ernst Bloch möchte einem – sitzt man(n)*In im Theater in den Sinn kommen. Die Anekdote heißt „Das genaue Olivenessen“: Drei Literaten bereiten gemeinsam eine Olive zu. Die Olive wird in eine Drossel eingenäht, die Drossel in eine Wachtel, diese in eine Ente, diese in eine Gans, diese in einen Truthahn, der in ein Ferkel, das in einen Hammel, der in ein Kalb, das in einen Ochsen. Das von Saft tropfende Fleischpaket wird am Spieß gebraten. Dann holen die Köche alles vom Feuer, werfen den Ochsen, das Kalb, den Hammel, das Ferkel, den Truthahn, die Gans, die Ente, die Wachtel und die Drossel weg und machen sich daran, die Olive zu kosten. Nachdem sie lange stumm gekaut haben, sagt einer der Esser: »Mir scheint, der Truthahn war nicht mehr ganz jung.«
Solche Olivenesser sind auch wir. Das Bild von der Olive in ihren Tierfleischmänteln paßt auf viele (nicht nur deutsche) Inszenierungen: Diese wirken, als hätten sie im Moment, bevor der Vorhang hochging, das Rind, das Schwein und die Wachtel abgeworfen, um auf der Bühne die höhere, die geniale Olive der reinen Kunst zu zeigen. Sie sind so feierlich karg, als hätten sie einen dicken Fleischmantel von Realismus, Naturalismus, Psychologismus, Historismus abgeworfen und enthielten nur deren Säfte. Auch auf andere Beigaben haben die Olivenköche des Theaters im Lauf der Zeit verzichtet: auf Requisiten, Kolorit, Komparserie, Kostüme, auf fest umrissene Rollen. Das alles verbirgt sich, in seiner Abwesenheit geisterhaft gesteigert, in der Olive: in dem auf der nackten Bühne agierenden Spieler.
Der Bühnenmensch will nicht illustrieren, sondern Zeichen sein. So handelt das Theater vom Mord, indem es ein wenig Blut über die Olive träufelt, es handelt von der Liebe, indem es die Olive ein wenig schält, es handelt vom Krieg, indem es die Olive lustig über den Boden rollen läßt.
Derweil in TV und Kino Situationen eskalieren, Intrigen sich absurd verzweigen und Wirklichkeit durch Raffung, Parallelisierung, Hysterisierung von Handlungsereignissen »hergestellt« wird, überlebt im Theater Handlung (ja, fast auch der Dialog) vor allem in der Anspielung, in der Ironie.
Wo Handlung im mimetisch-illusionistischen Sinne nicht mehr vorkommt und wo das Konzept der »Figur« und der »Rolle« sich aufgelöst hat, da wird auch »Geist« eine unplausible Sache. Dialog als Gedankengang, das Gespräch als Erkenntnisprozeß findet auf der Theaterbühne kaum mehr statt (manchmal sieht man so was noch im Kabarett; dort jedoch wirkt es mit erhobenem Zeigefinger – onkelhaft). Schwer möglich, einmal einem Gedanken beim Entstehen und in seiner Wirkung zuzuschauen – in Klassikerinszenierungen geht das nicht, weil der Text (auch vom Gedanken) »entschlackt« wird, in neuen Stücken geht es nicht, weil die Figuren da von vornherein in einem Kurzatemidiom sprechen, als wären ihre Luft- und Wortvorräte lange schon erschöpft.
Schauspiel heute ist geprägt durch einen demonstrativen Verzicht auf Zurschaustellung von Intelligenz. List? Wie lächerlich! Plan? Wie rührend! Flucht? Wie sinnlos!
Hier wirkt zweifellos Becketts Endspiel nach, das wir noch immer sehen und über das schwer hinauszukommen ist. Und doch, und doch – was wie ein Ausharren in Posen der Regression und des Niedergangs erscheint, könnte in Wahrheit etwas anderes sein, eine Umkehr. Eine Rückbesinnung auf die Ursprünge des Theaters.
Friedrich Nietzsche beklagt in der Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872), dass das tragische Spiel durch die Intrige, durch die selbstsüchtige Intelligenz der europäischen Theaterfiguren vernichtet worden sei: Die griechische Tragödie sei noch in der Lage gewesen, die Menschen zu verwandeln in »das Urwesen selbst« und uns die »überschwängliche Fruchtbarkeit des Weltwillens« spüren zu lassen. Sie habe uns zu »glücklich Lebenden« gemacht, »nicht als Individuen, sondern als das eine Lebendige, mit dessen Zeugungslust wir verschmolzen sind«. Dieses Glück, so Nietzsche, hätten wir aufgegeben zugunsten trüber Intrigenspiele: »Es erhob sich jene schachspielartige Gattung des Schauspiels, die neuere Komödie mit ihrem fortwährenden Triumphe der Schlauheit und Verschlagenheit.«
Die Tragödienfiguren haben die Gabe, ihren persönlichen Untergang »einzusehen« als den höchsten Moment ihrer Existenz. Ihre Abkömmlinge im Intrigenspiel dagegen stoßen allenfalls andere in den Abgrund. Während also der Held der Tragödie die eigene Vernichtung will, handelt das Intrigenspiel (und die Spannungskunst, die sich daraus entwickelt hat) stets vom schäbigen Davonkommen.
Schließlich, so Nietzsche, habe der tückische Scharfsinn des Dialogs »den Bau« der Stücke erfasst. Sprich: Die Konstruktion des Stück ist selbst das Werk eines Fallenstellers. »Aus dem Schauspiel wird ein Schachspiel.«
Wenn wir uns heute umsehen und einmal überprüfen, ob Nietzsche recht behielt, so muß man feststellen: Das Schachbrett ist da. Aber es ist nicht mehr im Theater, sondern im Kino und im TV. Deutsche Medienjournalisten feiern die Dramaturgie und Dialogkunst amerikanischer TV-Serien gern mit diesem Satz: »Wenn Shakespeare, Schiller oder Molière heute lebten, sie würden für HBO arbeiten.« HBO gilt als der stilbildende amerikanische Kabelfernsehsender, und dort herrscht das Schachbrett: in Serien wie den Sopranos oder The Wire oder, zum vielstöckigen, hysterisch bespielten Feld gesteigert, in der Fox-Serie 24.
Im heutigen Theater hingegen werden Schachzüge allenfalls angedeutet. Die Schauspieler erzählen sie abwinkend, mit der Ironie derer, die noch viel Schlimmeres vor sich haben. Sie mögen die Partie, das Gemetzel der Bauern, gar nicht mehr zeigen. Vom Schachbrett des Intrigenspiels geblieben ist das ungemusterte Graufeld der deutschen Leerbühne – das Endspielfeld, das die unendlichen Auswege und Möglichkeiten des Schachbretts zusammenzieht zu einem letzten Feld.
Das typische Bühnenbild des deutschen Theaters ist Höhle, Gruft oder Wartesaal. Zum Raum wird hier die Endzeit; er bedeutet die Zeit, die den Figuren bleibt, das Maß ihrer Zukunftserwartung. Der Bühnenraum ist deshalb ohne Ausgang. Er umkleidet seine Insassen wie ein – hat ja eh keine Taschen – letztes Hemd, man kann ihn erst im Tod verlassen.
Es gibt in diesen Räumen keine Anzeichen von Vorwelt, keinen Sockel unter und keine Kuppel über uns. Solche Bühnen sind Inbilder des Nichtmehrweiterkönnens (so schrieb mal wer über die Fotoinszenierungen des Künstlers Gregory Crewdson) aber seine Formel trifft auch die deutsche Theaterbühne). Die darin sitzen, haben sich selbst dorthin gebracht. Es gibt keine höheren Mächte, die sie dafür zur Verantwortung ziehen könnten; das macht sie peinlich, schamvoll, regressiv.
»Echte Tragik ist nicht zu trennen vom Mysterium der Ungerechtigkeit, von der Überzeugung, dass der Mensch ein prekärer unbestätigter Gast in einer Welt bleibt, in der die Mächte der Unvernunft eine finster verborgene Herrschaft ausüben.« Das ist ein Satz des Literaturwissenschaftlers George Steiner, der, auf heutige Verhältnisse angewendet, so heißen könnte: Der Mensch ist ein prekär unbestätigter Gast in einer Welt, in der die Mächte der Vernunft eine finstere Herrschaft ausüben; er hat diese Mächte selbst geschaffen.
Wie könnte man so etwas spielen? Indem man den Schmerz feiert, aber den Witz eben auch. Das Theater müßte uns den Menschen als eine Art Entfesselungskünstler zeigen, einen Houdini, der sich selbst vor langer Zeit die straffsten Binden und Zwangsjacken angelegt hat. Da sitzt er nun, der arme Tor, ist so klug als wie zuvor und wir im Saal warten, auf welchem Weg er sich wohl zu befreien versuchen würde.
Und tatsächlich scheint das Theater diesen Weg momentan zu gehen, den der hellen Spielkunst.
Es fällt auf, wie viele tolle junge Bühnenschauspieler es derzeit gibt, die sich begeistert in aussichtslose, peinsame Bühnenlagen bringen und sich glorios daraus befreien – lauter Theater-Houdinis in deutschen Gruften …
Sie schauen von hoch oben in den Abgrund, worin das Tragödienwesen zu verschwinden hat; aber der Anblick reizt sie auch zum Lachen. Es sind keine Türsteher für einen höheren Regieherren und auch keine Selbstdarstellungsfatzkes, sondern Führer durch eine Welt, die auf der Bühne in ihrem Spiel und unter ihrem Blick entsteht. Eine Welt entsteht, wir sind dabei. Und die Weltauslöscher von 24 bekommen es nicht mal mit.
Die Hirnforschung hat vor einiger Zeit eine neue Art von Zellen entdeckt, die »Spiegelnervenzellen«. Sie ermöglichen uns die Einfühlung in andere Menschen; sie lassen uns zusammenzucken, wenn ein anderer leidet; sie erhellen uns die Handlungen eines anderen, indem wir diese Handlungen im Geist selbst ausführen.
Und, sie melden uns, ob sie und wie wir selbst wahrgenommen werden.
Wo kann man diese Zellen besser stimulieren als im Theater?