Die Generation Rohrstock schüttelte zwar den Kopf über das Anlautlineal des Norbert Sommer-Stumpenhorst, aber das Konzept seiner Rechtschreibwerkstatt setzte sich durch. Wenn ein Duden überhaupt in der Grundschule benutzt wird, dann mehr im Sinne des schwedischen Möbelhaus-Duzens: „Du, Malte, wie fühlst du dich dabei, wenn du siehst, dass in dem dicken Buch mit den vielen Wörtern der Vogel nicht mit F, sondern mit V beginnt?“, fragen sensible Lehrkräfte. „Fol kras“, schreibt klein Michel dann auf.
Mit schafhafter Genügsamkeit nehmen Lehrer hin, dass Eltern in jeder Klassenpflegschaftssitzung fragen: Sollen wir die Fehler in den Deutschhausaufgaben verbessern oder machen wir mit der Berichtigung etwas falsch? Spätestens in der dritten Klasse erkundigen sich besorgte Mütter und Väter, ob nicht auf dem Gymnasium die Stunde der orthographischen Wahrheit schlage. Erfahrene Pädagogen wissen: Solche Fragen wachsen sich raus. Irgendwann haben auch die meisten Eltern einen Fogel, irgendwann steht auch in den Deutschbüchern der Gymnasien Schillers Glockenform in der Ärde, irgendwann erscheint auch der Duden in lautgetreuer Schrift.
Wie schlimm es ums geschriebene Wort bestellt ist, enthüllt in dieser Woche der „Spiegel; wir von der Rundschau haben das bereits vor sechs Jahren getan. Das Nachrichtenmagazin ist der Rechtslastigkeit unverdächtig. Es sorgt sich gleichwohl schon länger darum, dass von deutschem Boden nie wieder eine korrekte Schreibweise ausgehen könne. Vor wenigen Monaten sondierten die Hamburger mit der Titelgeschichte „Die Rechtschreipkaterstrofe“ das Terrain in der Grundschule, in dieser Woche sind die Hochschulen dran. Jeder fünfte Lehramtsstudent in Nordrhein-Westfalen habe selbst Förderbedarf, steht da zu lesen. Eltern, die überhaupt noch Gedrucktes zur Kenntnis nehmen, glauben das gern. Barmherzigkeit mag der Welt abhandengekommen sein, aber im Deutschunterricht herrscht ihrer zu viel.
Auch wer ansonsten im Yoga an seiner Tiefenentspannung arbeitet, hält die buddhistisch sanfte Buchstabenbastelei an der Grundschule für Murks. Viele Erziehungsberechtigte wünschen sich ein Lehramt für Orthographie und Grammatik, sie sehnen sich nach Dogmen zur Konsonantverdopplung, sie wollen festhalten an der Heiligen Vierfaltigkeit der Fälle. Das mit dem Genitiv haben manche Eltern zwar mit den Bestsellern von Bastian Sick auffrischen müssen. Jetzt aber sagen sie nie mehr „wegen dem Buch“, sondern „wegen des Buches“, denn zwischen bildungsfern und bildungsnah verläuft die Genitiv-Grenze.
Doch Mütter und Väter von Grundschulkindern wehren sich nicht öffentlich gegen das Diktat der Sanftheit. Korrektes Deutsch ist das neue Latein, auch wenn Worte wie (und wir werden das auch künftig so schreiben) Orthographie und Grammatik aus dem Griechischen stammen. Es ist die Elitesprache geworden, und zur Elite soll vor allem das eigene Kind gehören. Bildungsbeflissene Eltern ziehen nicht in den Kampf gegen die Anlautlinealisten, sie fordern nicht laut das Orthografie-Lehramt, sondern sie kaufen lieber stillschweigend all die Duden- und Rechtschreib-Stars-Sonderhefte. Sie setzen sich auch spätabends noch mit Malte hin und üben so lange, bis nicht mehr der vrüe Fogel dem Wurm fengt. Homeschooling ist zwar in Deutschland verboten, Heimlich-Schulen aber ist zum sozialen Unterscheidungsmerkmal geworden.
Vielleicht sind Normen ein Ausdruck von geistiger Enge, vielleicht ist der Vogel mit V eine unzulässige intellektuelle Käfighaltung. Aber noch engstirniger ist es, den Sinn von Normen zu verschweigen, bloß weil andere von ihnen profitieren könnten. Rechtschreibung ist für alle da. Richtig gelesen: Dies ist eine Aufvorderung zum Wiederstant.