Ein Sommertag im vorübergehend aus der Betulichkeit erwachten Heidelberg am Neckar mit der Alten Brücke, dem Philosophenweg, dem Schloss. Der Flaneur – es gibt dort viele dieser migrantischen Spezies – hat ein paar Stunden lang die Altstadt mit ihren pittoresken Gassen durchstreift und befindet sich auf dem Heimweg. Die Sonne wärmt den Sonntag angenehm.

Gleich zu Beginn der Bergheimer Straße, einer der fünf Ausfallstraßen aus dem Zentrum, hält er ein an einem sandsteinfarbenen Gebäude, in dem heute Alternsforschung und Sozialwissenschaften betrieben werden. Früher war es das Institut für Medizinische Psychologie, das zum Universitätsklinikum gehörte. Eine schwarze Gedenktafel links neben dem Haupteingang, die ihn mit goldener Beschriftung anblinkte, nahm seinen Blick gefangen. Er, der langjährige Heidelberger, hatte sie noch nie bemerkt. Nun steht er ruhig da und liest aufmerksam:

Die Philippinische Botschaft hat die Tafel am 19. Juni 1960 anbringen lassen, stellt der Flaneur, der in den Zeiten der achtundsechziger Revolte in Heidelberg studierte, weiter fest. Eine solche Tafel gibt es auch in der Altstadt, wo Rizal zeitweilig in der Grabengasse und in der Karlsstraße wohnte und sich mit Burschenschaftlern und Pastoren traf. Nur fünfunddreißig Jahre ist der Held alt geworden, also noch deutlich jünger zu Tode gekommen als etwa Rudi Dutschke, der mit Neununddreißig an den Folgen des Berliner Attentats starb, denkt er. Drei Kugeln hatten den Rebellen in Berlin damals getroffen. Oder Che Guevara, der im gleichen Alter im bolivianischen Hochland von einem Soldaten auf Befehl von oben erschossen wurde. Und es kommt ihm der in der Szene bekannte Spruch von Eugen Leviné in den Sinn: „Kommunisten sind Tote auf Urlaub.“ Der KPD-Politiker sprach ihn damals aus wie eine auch für ihn selbst sich erfüllende Prophezeiung, denn er starb mit Sechsunddreißig. Verurteilt und erschossen in den Zeiten der Niederschlagung der Räterepublik.
Aber war Rizal denn überhaupt Kommunist? Wohl kaum, legt er sich die Dinge zurecht, und nicht einmal beim „Che“ oder „Rudi“ ist das ja ganz klar, jedenfalls unter Insidern oder Besserwissern. Der Kommunismus war zwar schon erfunden in jener Zeit Rizals, aber wohl noch nicht bis auf die Philippinen vorgedrungen, obwohl das berühmte „Manifest“ von 1848 rasch weltweite Verbreitung gefunden hatte und die Bände von „Das Kapital“ in Arbeit waren. Die offizielle Kommunistische Partei des fernöstlichen Inselarchipels, weiß er, wurde erst viel später so um 1968 gegründet, mitten in den bewegten Zeiten der Studentenunruhen und auf dem Höhepunkt des Vietnam-Kriegs. Ist vielleicht der Kubaner José Marti, ein Zeitgenosse Rizals, der passendere Vergleich, fragt er sich. Er hat keine Ahnung.
Der Flaneur, weißes Haar, leichter Bauchansatz, ungebeugter Gang, bleibt noch eine Weile nachdenklich stehen, dann zieht er eine kleine „Partagas“ aus einem Aluminium-Röhrchen, das er aus seiner Hosentasche fischt, heizt sie bedächtig an und spaziert paffend weiter. Ob man auf den Philippinen auch Zigarren raucht wie auf Kuba? Er hat davon nichts gehört, gewiss aber im nahen Indonesien mag es so sein, jedenfalls dort auf Sumatra, eben diese famosen Sumatras. Aber wenn Rizal kein Kommunist war, wofür hat er damals gestanden? Welcher Ideologie hing er an? Wofür kämpfte er auf welchem Entwicklungsstand seiner Nation? Mit der Waffe? Mit dem Wort? War er ein Freiheitskämpfer, fragt er sich, während er beiläufig die deftigen Auslagen einer feinen Metzgerei inspiziert – Nierchen, Kutteln und Gulasch in Ein-weckgläsern, Griebenschmalztöpfchen, Gewürzgurken. Für welche Freiheiten setzte er sich dann ein in seinem sicherlich harten Kampf, und warum, sinniert er, gilt er bis heute in seiner Heimat als nationaler Held, jener so ferne Kurzzeit-Heidelberger. Ein Ophthalmologe, ein Augenkundler!
Der Flaneur, der an ein paar weiteren Geschäften vorbei in seinen Stadtpark einbiegt und nun langsam sein Domizil in der Weststadt erreicht, weiß es nicht. Noch weiß er es nicht, er hat nur eine nebelhafte Vorstellung. Er, der viel Gereiste, kennt dieses Land, das aus mehreren tausend Inseln bestehen soll, fast nur von den Briefmarken seiner Sammlung während der Schulzeit. Damals in der Anfangszeit der bitteren Diktatur des Ferdinand Marcos und seiner Frau Imelda, derjenigen mit den unzähligen Schuhen in ihren Schränken. Philippinische Marken damals, das war Marcos, die Philippinen eine Diktatur von der Vereinigten Staaten von Amerikas Gnaden. In den Zeiten von Nixon und Ford und, nicht zu vergessen, die kräftig mitmischende CIA. „Psychological Warfare“ nannten sie das damals.
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Manila Ninoy Aquino International Airport, ein paar Monate später im deutschen Winter. Der Flaneur, nunmehr leichter Sommeranzug, offenes Hemd, Hut, Sonnenbrille, hat sich verwandelt. Er ist jetzt ein Geschäfts-reisender, der seinen Beruf ausübt. Eine Entwicklungsfirma hat ihn wieder einmal beauftragt, in einem aus deutschen Steuermitteln geförderten Projekt nach dem Rechten zu sehen. Man nennt das im fachsprachlichen Jargon Projektfortschrittskontrolle oder schlicht Evaluierung. Er soll sich um die Zieleinhaltung, den vereinbarten Kurs des Projekts und die Solidität des Umgangs mit den bewilligten Geldern kümmern.
Die Boeing 737 der Emirates war, von Dubai kommend, soeben gelandet. Die Bordtür hatte sich nach einer Weile des stehenden Wartens geöffnet, und dem Reisenden schwallt nach kurzem Abschiedsgruß der Stewardess bei Verlassen des Fliegers ein feucht-heißer Luftsud entgegen, der ihn erst einmal schnapp-atmen lässt. Es mochte 35 Grad warm sein. Seinen Mantel hatte er in die Tasche gesteckt, die er bei sich führt. Diesmal kein Schlauch, es dauert also etwas länger. Er steigt die metallischen Stufen der Gangway hinunter und begibt sich in den wartenden Bus mit schweigenden Passagieren, der irgendwann losfährt. „….Drinnen saßen stehend Leute, schweigend ins Gespräch vertieft….“ – denkt er schmunzelnd und etwas überreizt vom langen Flug. Fünfzehn Stunden Sitzfleisch im Flieger liegen hinter ihm. Minuten später passiert er im Terminal, wie üblich, die Passkontrolle und danach die Gepäckausgabe, nimmt seinen kleinen Rollkoffer vom Band und sucht nach der Leuchtanzeige „Exit“. Er weiß, jemand wartet draußen auf ihn, um ihn abzuholen, ein Fahrer, beauftragt vom Team. Hoffentlich ist er da, denkt er. Der wird sich mit einem Schild ausweisen, auf dem der Name des Reisenden in großen Lettern steht. So ist es vereinbart und so wird man sich erkennen können.
Der Reisender ist ein geübter. Gut achtzig Touren dieser Art hat er auf dem Buckel und dabei mehr als vierzig Länder aller Kontinente besucht – mit Schwerpunkt Lateinamerika. Man kann sagen, er hat die Welt gesehen – die Urlaubsländer, noch einmal zwanzig mehr, nicht einmal mitgerechnet. Nun kommt ein weiteres Land hinzu. Er sammelt keine Briefmarken mehr, er sammelt Länder. Interkulturelle Teamarbeit, unzählige Termine für Arbeits-gespräche und Interviews vor Ort, Besuche von Projekteinrichtungen, dann immer Fachberichte entwerfen und zu Hause finalisieren, das ist sein Metier. Und: Hotels, Hotels, Hotels! Vom Kakerlaken-Schuppen bis zum Luxus-Tempel. Seit dreißig Jahren macht er das und es bereitet ihm bei aller Routine, die sich inzwischen eingeschlichen hat, immer noch Freude. Die Landschaften, die emsigen, fröhlichen, aber auch duldsamen Leute, die ihren Zorn auf die Zeit zu verbergen wissen; die fremden Sprachen, die Musik, Gerüche und Speisen, die Überraschung, wenn er plötzlich vor Sehenswürdigkeiten der besonderen Art steht, vor berühmten oder solchen, von denen er noch nie etwas gehört hat. Gut möglich aber, dass es nun bald vorbei ist. Die junge Konkurrenz im Metier schläft nicht, in Bälde steht seine Verrentung an. Er wechselt zur Sicherheit etwas Geld, wenngleich er meist mit Karte zahlt oder eingeladen wird. Dann verlässt er das Terminal und sieht sogleich den Fahrer, einen kleinen Mann mit roten Pausbacken, die Tafel mit dem Namen hochhaltend wie ein Banner.
Der Fahrer begrüßt den Mister mit dem schwierigen Namen höflich und führt ihn, seinen Koffer übernehmend, zum Wagen. Der Entwicklungsberater denkt während der zweistündigen Abendfahrt durch ein paar Wolkenkratzer-Stadtteile Manilas, dass er die Riesenstadt eigentlich kaum begutachten können wird. Er wird ins Hotel gehen, etwas essen und dann schlafen. Am frühen Morgen wird ihn der Fahrer, der kaum Englisch spricht, sondern das einheimische Tagalog, eine der Hauptsprachen, wieder abholen und zum Airport fahren. Ein nationaler Anschlussflug wird ihn nach Cebu-City auf der gleichnamigen Insel, die zu den Visayas gehört, bringen. Dort ist das Projekt-gebiet.
Während der stillschweigenden Fahrt zum Hotel konzentriert er sich voll auf die breiten und stark befahrenen Avenues, den momentan eher wasserarmen Fluss Pasig, die gewaltigen Häuserschluchten, die dazwischen gepflanzten Slums und die aufblinkenden Totalen der Lichtermeere der 13 Millionen-Metropole, sobald sie etwas ins Offene fahren. An allen Ecken und Enden wuselt es menschlich. Manila schläft bei weitem noch nicht, Manila irrlichtert in allen Farben und zwitschert in allen Tönen. In den hereinbrechenden Abendstunden kühlt es kaum ab. In der heimischen Presse steht nicht selten zu lesen, dass Teile Manilas immer wieder überflutet sind. Dann waten die Stadtmenschen in Scharen durchs Wasser oder spielen Gondolieri, um es zynisch zu sagen. Die Philippinen sind ein Land der Monsune und Taifune. Auch schon zu Zeiten Rizals? fragt sich der Reisende, ohne eine Antwort zu finden. Damals zu Zeiten des Heroen war Manila schon dreihundert Jahre alt, hat er bei der Vorbereitung nachgelesen.
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Cebu-City, eine wirtschaftlich aufstrebende Großstadt im mittleren Süden der Philippinen, ist voll von „Rizal“. Überall dort trifft man auf seine Spuren, obwohl ihm die ferne Insel Luzon Geburtsort und ursprüngliche Heimat war: Straßen-Namen, eine Gedenk-Bücherei mit Ausstellung, das José-Rizal-Museum, das von Palmen umgebene Rizal-Monument aus weißem Stein. Dort obendrauf auf dem stattlichen Quader sitzt der Nationalheld, der mit vollem Namen José Protacio Mercado Rizal y Alonso Realonda heißt, auf einem Hocker. Er beugt sich über einen kleinen Tisch und liest aufmerksam. Ein Hinweis darauf vielleicht, dass Rizal, der Gedichte, Romane und Manifeste verfasste, eher mit der Feder als mit dem Schießeisen kämpfte, denkt sich der Hergereiste, als er staunend vor dem originellen und liebevoll gestalteten Denkmal steht. Die Luft suppt enorm, der Himmel ist wolkenbedeckt.
Der Berater ist nicht allein. Fermena, die lokale Projektleiterin begleitet ihn und steht neben ihm. Schon seit einer Woche steht sie ihm bei, wenn er sich bei seinen Terminen orientieren muss und Unterstützung in den Meetings braucht. Die ganze Woche über hat er Termine bei Kammern, Ministerien, in Berufsschulen, beim lokalen Bildungsministerium absolviert. Immer war die aufmerksame Philippina mit dabei, ein Organisationstalent. Er stellte, wie es seine Aufgabe in den Meetings ist, Fragen ohne Ende. Sie half ihm, die Antworten besser zu verstehen. Er hatte gehofft, sein gutes Spanisch anwenden zu können. Aber man spricht hier Englisch, das er weniger gut beherrscht. Das Berufsbildungsprojekt weist eine gute Performance auf, so seine bisherigen Erkenntnisse. In der nächsten und letzten Woche seines Aufenthalts wird er mit dem lokalen Team landwirtschaftliche Förderinitiativen auf Negros besuchen. Er wird viel Bioanbau sehen, viel Gemüse und Obst gezeigt bekommen und auch probieren dürfen. Es wird anstrengend werden, die Projekt-Farmer in den abgelegenen Gebieten der Insel aufzusuchen, eine andere Welt. Es wird eine heftige Herumfahrerei werden, ein paar Fußmärsche eingeschlossen. Jetzt aber ist Wochenende, er hat später nur noch ein zwei kurze Termine, aber nun steht er hier auf dem belebten Platz und hat ein ganz anderes Interesse: What`s up with Rizal?
Sie setzen sich auf eine Bank unweit des Denkmals. Im Verlauf der ersten Woche hier in Cebu konnte er schon feststellen, wie gut sich Fermena nicht nur in den fachlichen Dingen, sondern auch in der philippinischen Gesellschaft auskennt – die Historie des Landes eingeschlossen. Er möchte von ihr wissen, was für ein Mensch José Rizal war und braucht gar nicht viel zu fragen. Die Worte und Sätze sprudeln förmlich aus ihr heraus, sie freut sich sichtlich, dass er sich für den Helden der Nation interessiert.
Weißt Du, sagt sie, wir Philippiner mögen Heidelberg, Deine Stadt, sehr. Auch wenn wir nicht dort waren, kennen wir sie ganz gut. Sie wird uns im Fernsehen gezeigt, in der Presse wird immer wieder über die Schönheit der Stadt berichtet. Es gibt Partnerschaften. Ja, Du weißt, Rizal hat dort ein paar Monate lang gelebt, gearbeitet, geforscht. Er wurde in Deiner Stadt sehr gut behandelt. Er wohnte auch in Wilhelmsfeld bei einem Vikar mit Namen Ullmer, mit dem er sich, stell´ Dir vor, auf Latein verständigte und der ihm Deutsch beibrachte. Du kennst ja sicher den Ort, der nicht weit entfernt von Heidelberg liegt. Wir sind deshalb sehr dankbar, denn anderswo ging es Rizal oft miserabel, etwa in Spanien und sowieso später zu Hause. Er wurde als Mestize missachtet, ja verachtet von den weißen Kolonisatoren. Er bekam hier bei uns sehr oft zu spüren, dass er und seinesgleichen nur als Menschen zweiter, ja dritter Klasse galten, selbst dann, wenn sie etwas im Leben erreicht hatten. Deshalb brach er auf nach Spanien. Er wollte die brutale Kolonialmacht näher in ihren einhei-mischen Gefilden kennenlernen und wurde auch dort enttäuscht – oder wenn man so will: bestätigt. Dem angehenden Augenarzt wurden, wie man so sagt, die Augen geöffnet. Er lernte den Impetus der kolonialen Bestrebungen, die damaligen gesellschaftlichen und internationalen Verstrickungen besser kennen. Und er beschloss, dies nicht weiter hinzunehmen, sondern sich auf seine Art zur Wehr zu setzen. Als er nach Spanien aufbrach, war er gerade einmal zwanzig Jahre alt und seit fast fünf Jahren Student der Medizin und Philosophie in Manila gewesen.
Du kennst Dich sehr genau aus, wie kommt das, fragte er Fermina. Ich muss Dir gestehen, ich selbst war noch nicht einmal in Wilhelmsfeld. Da sollte ich nun doch endlich mal hin! Wie hat Rizal in seiner Kindheit und Jugend gelebt?
Fermena holt eine reife Mango aus ihrer Handtasche, bearbeitet sie kunstvoll mit einem Taschenmesser und lädt ihn ein zu essen. Dann fährt sie fort zu erzählen:
Es ist so: Jedes Jahr finden in meinem Land vielfältige Veranstaltungen zu Ehren Rizals statt, die sehr gut besucht sind. Und es wird noch immer viel über ihn und seine Zeit geforscht. Es ist, wie wenn José noch da wäre. Wir lernen schon in der Schule, wer José war und was er getan hat, was ihm passiert ist. Er war ein gebildeter Mann mit Herz. Sehr sensibel und sehr empathiefähig. In den höheren Klassen ist es Pflicht, dass sein Roman „Noli me tángere“ gelesen wird. Das ist immer Teil des Curriculums und der Prüfungen. Es ist ein Schlüsselroman mit außerordentlicher Wirkung damals. Er hat diesen Erstling, dem dann bei seinem zweiten Europa-Aufenthalt „Das Filibustertum“, eine Anspielung auf die damaligen Freibeuter, Plünderer oder auch Umstürzler in Lateinamerika, folgen sollte, in Spanien begonnen und in Deutschland wurde er dann publiziert. Übrigens erst einmal in spanischer Sprache. Er wollte, dass vor allem die Spanier und seine Landsleute zu Hause, soweit sie damals auch Spanisch sprachen, ihn lesen. Wir kennen zudem seine vielen Gedichte, er war auch Lyriker. Und er malte und fertigte Skulpturen an. Insgesamt war Pepe, wie wir ihn auch nennen, wohl ein Polymath, aber der Ausdruck gefällt mir nicht so gut. Ein sanfter Mensch übrigens, ja sehr sanft, aber sanft sind wir Philippiner/innen eigentlich fast alle, gut, einige leider nicht, auch in heutigen Zeiten. Fermena lächelt etwas gequält und schaut zum Denkmal hinüber, wo jetzt ein paar Kinder Ball spielen.
Der Berater, sein Hemd ist inzwischen nass vom heißen Dunst, steckt ein weiteres Stück von der süßen Mango in den Mund und muss unwillkürlich daran denken, was einmal über Rudi Dutschke just bei dessen Beerdigung in Berlin, wo er teilgenommen hatte, gesagt wurde: „Sanft war er, sanft wie alle echten Radikalen.“ Kannst Du ein paar Verse auswendig, vielleicht in Tagalog, fragt er. Er hat die Sprache in den letzten Tagen wegen ihres musikalischen Klangs schätzen gelernt, auch wenn er sie nicht versteht. Leider nicht, anders als Don José spreche ich kein Tagalog, nur Filipino, aber ich kann etwas auf Spanisch rezitieren, das ist ja ebenfalls eine wunderbare Sprache für Lyrik. Heute ist sie bei uns fast schon ausgestorben, immerhin sprechen sie oder Kreolisch noch gut vier Millionen von uns, aber wir sind inzwischen halt 110 Millionen, und das Englische wird immer dominanter. Na ja, bei uns gibt es 170 Sprachen bzw. Dialekte, vor allem die austronesischen, fügt sie lächelnd hinzu. So ganz sind wir halt doch nicht kleinzukriegen! Zu Zeiten Magellans waren wir sieben Millionen. Und dann rezitiert sie dem Heidelberger Besucher mit einem Augenzwinkern folgende Verse:
Id y decíd: decíd que cuando el alba
vuestro cáliz abrió por vez primera,
cabe el Neckar helado,
le vísteis silencioso á vuestro lado
pensando en su constante primavera.
Es ist ein Fragment aus Rizals Gedicht „An die Blumen von Heidelberg“, das er dortselbst geschrieben hat. Eine Liebeserklärung an die Stadt und zugleich nostalgischer Ausdruck seiner Sehnsucht nach seiner Heimat, die er seit fast fünf Jahren nicht mehr gesehen hatte. Fermena fährt sogleich fort zu erzählen, während der Berater den Kinderball, der herbeigerollt ist, im Sitzen zurückkickt:
Schau, so ganz elend ging es José anfangs nicht. Er stammte aus einer wohlhabenden Familie, gehörte also nicht zu den Unterprivilegierten und konnte ja auch studieren und reisen. Er verbrachte seine Kindheit auf Luzon, wo es eine Stadt gibt, die Calamba heißt, damals eine kleine Ortschaft, heute eine Halbmillionen-Stadt. Dort wurde er, der neun Geschwister hatte, geboren. Damals hattet Ihr in Deutschland noch kein Kaiserreich, sondern wart noch partikularisiert. Eine kleine Revolution, das Frankfurter Parlament, Eure März-Revolution lag weitgehend niedergeschlagen schon eine Dekade hinter Euch, wie Du weißt, und wir hier auf den Inseln standen in den letzten Dezennien der Kolonisierung unseren Mann und unsere Frau im leidvollen Alltag und im oftmals blutigen Widerstand. In der spanischen Phase der Kolonisierung, die wie gesagt sehr lange währte und die mit Magellan begann! Übrigens! Der fand ganz in der Nähe hier, auf Mactan, den Tod durch einen Giftpfeil und Schwerthiebe der Einheimischen. Du kannst die Nachbarinsel vom Ufer meiner Stadt aus sehen, weiter da drüben! Auch in Cebu war Magellan übrigens gewe-sen und versuchte, uns zu bekehren.
Von Josés Geburt an bis zur tatsächlichen Befreiung von den Spaniern sollte es dann noch siebenunddreißig Jahre dauern. José selbst hat die offizielle Unab-hängigkeitserklärung von Spanien in Manila knapp verfehlt, aber er hatte gewusst, dass es bald soweit sein würde. Wenigstens dies! Sein Beitrag war immens, auch wenn er nicht unmittelbar mit der Waffe kämpfte wie ein paar Jahre nach seinem Tod der andere José, der in Kuba. Ebenfalls gegen die Spanier, José Martí. Und auch der war Lyriker und Schriftsteller und wird bis heute in seinem Land hoch verehrt. Auch ein sehr charismatischer Mann. Ich erwähne ihn, weil es so viele Parallelen gibt.
Er staunt erneut nicht schlecht über Fermenas historisches Wissen und es gefällt ihm, dass sie so spielerisch mit Zahlen und scheinbar weitläufigen Vergleichen umgeht. Er selbst betreibt solche kontextualisierende Sprung-haftigkeit ja ebenfalls sehr gerne. Fast schon wie ein Steckenpferd ist das bei ihm, wenngleich doch immer wieder aufschlussreich und nicht nur spaßes-halber! Er mag diese hellwache Frau mit dem speziellen Timbre in ihrer Stimme. Aber plötzlich springt er auf, erklimmt blitzschnell die Sitzbank und steht dort oben scheinbar festgewachsen wie ein Turm. Seine Begleiterin ist zunächst irritiert. Dann versteht sie. Aus dem nahen Gebüsch ist eine gut einen Meter lange Schlange hervorgekrochen und hat sich in Richtung Bank geringelt, um alsbald wieder abzudrehen und zu verschwinden. Während Fermena auflacht und ihm erklärt, das „Tierchen“ sei nicht gefährlich, springt er von der Bank herunter und setzt sich noch etwas flattrig wieder hin. Wir haben hier im Land ganz andere Kaliber, Du wirst es auf Negros merken. Wir haben sie in den Wäldern, auf den Bäumen, oft auch im Wasser, also in den Flüssen, an ruhigeren Stellen im Meer. Und im Grün der Städte verbergen sich einige Exemplare ebenfalls gerne. Bei uns ist es warm, das lieben sie, setzt sie hinzu, um dann in ihrer Erzählung fortzufahren, während ihn ein Schauder schüttelt:
José hatte liebevolle Eltern, die begütert waren. Er erlebte trotz der Vielzahl seiner Geschwister, darunter eine einzige Schwester, eine fürsorgliche Kindheit in einem katholisch geprägten Milieu, und man verwendete frühzeitig viel Mühe auf seine Erziehung und Bildung. Er galt als „Mestize“, weil er väterlicherseits in einer längeren Generationenfolge chinesische Wurzeln und die Mutter einen spanisch-philippinischen Vater hatte. Irgendwie „chinesisch“ sah er eigentlich nicht aus und auch nicht „spanisch“, aber die Behörden hatten es registriert. Rizal jedoch war von ganzem Herzen Philippiner! Das steht fest. So sehen wir ihn.
War er ein gestrenger Nationalist?
In dem Maße jedenfalls, wie er sich zum Antikolonialisten entwickelte. Sein Feindbild war zu Recht unser aller Feindbild damals: die ferne und doch sehr präsente Spanische Krone, der paktierende katholische Klerus und die uniformierten und bewaffneten Statthalter und Vollstrecker unseres damals schon vielfältigen Archipels. Die Zensurbehörde sollte später zu einer Gefahr für ihn werden. Aber ich muss hinzufügen: José meinte es nicht rundum schlecht mit den Spaniern, was er als Menschenrechtler, der er war, anstrebte, könnte man Augenhöhe nennen. Und Freiheit. Natürlich gab es Leute unter uns, die kollaborierten, die unser Land und unsere Identität verrieten, das gibt es immer. José drängte es damals in die Stadt, als er noch in der Pubertät war. Und seine Neigung, das habe ich Dir schon erzählt, lag neben der Philosophie immer wieder bei der Medizin. Das hatte einen zusätzlichen speziellen Grund, von seiner generellen fürsorglichen Einstellung abgesehen. Er wollte seiner Mutter helfen können, denn sie drohte damals zu erblinden. Eine Linsentrübung der Augen, Grauer Star. Er brach also auf nach Manila und immatrikulierte sich an der Universität.
Konnte er später seiner Mutter helfen?
Ja, er hat sie später nach seiner Rückkehr aus Europa erfolgreich operiert. Und auch anderen Philippinos konnte er helfen, die diese Linsentrübung hatten. Man hatte es ihm bei der Weiterbildung in Paris und Heidelberg beigebracht.
Es ist nun Zeit, den nächsten Termin wahrzunehmen. Sie erheben sich von der Bank und winken am Rand des Platzes ein Taxi herbei, um einen am Projekt beteiligten Ausbildungsbetrieb zu besuchen, der landwirtschaftliche Produkte vermarktet.
Abends im Hotel notiert der Berater beim Abendessen und auch noch im Bett, was er tagsüber zu Rizals Leben und Einstellung erfahren hat. Er weiß nicht so recht, warum er das tut, vielleicht wird er dazu mal etwas publizieren – in seinem Heidelberg. Jedenfalls spürt er den inneren Drang, sein Bild von Rizal noch weiter abzurunden.
Gelegenheit hierzu bietet sich ihm immer wieder kurz im Verlauf seines dichten Besuchsprogramms auf Negros. Fermena gibt ihm gerne weiter Auskunft über ihren berühmten Landsmann, was ihn sehr freut. Sein Notizbuch füllt sich beträchtlich, indem sein Aufenthalt auf den Philippinen nach zwei Wochen zu Ende geht. Von Schlangen bleibt er in den ländlichen Gebieten der Insel verschont, er bekommt keine einzige mehr zu Gesicht, auch wenn ihm bisweilen mulmig ist. Es sind scheue Tiere, es sei denn, sie werden unerwartet aufgeschreckt. Dann beißen sie vor Schreck zu. Und das kann ziemlich übel werden.

***
Monate später, der Winter in Deutschland ist vorbei. Es ist ein milder Frühlingstag. Am Himmel deuten ein paar dunkle Wolken an, dass bald ein kleiner Regen kommen könnte. Der Flaneur, weißes Haar, abtrainierter Bauchansatz, leicht gebeugter Gang, Rucksäckchen und Regenschirm für alle Fälle, verlässt sein Domizil und geht schnurstracks durch seinen Park in Richtung Neckar hinunter. Er kennt diesmal genau das Ziel seines Spaziergangs, Rizal geht ihm längst nicht mehr aus dem Kopf, zumal nach seinem Besuch der Philippinen, der nun schon ein paar Monate zurückliegt. Seinen Bericht hat er längst abgegeben. Vom Projekt, das er evaluiert hat, hat er seinen Auftrag-gebern viel Positives berichtet, fast ein bisschen beschönigend.
Am Fluss angekommen biegt er nach links ab und spaziert nun auf dem Uferweg die Böschung entlang. Es drängt ihn Richtung Wieblingen, einem unspektakulären Vorort im Westen von Heidelberg. Zunächst läuft er noch einen Teil des Iqbal-Ufers ab, wo es an einem Baum auch eine Gedenktafel gibt. Sie ist Dr. Muhammad Iqbal gewidmet, einem pakistanischen Dichter und Philosophen. Der hat zu Beginn des vorigen Jahrhunderts in Heidelberg studiert und gilt als intellektueller Gründungsvater des islamischen Pakistan. Der Flaneur wundert sich, welch fernländischen Geistesgrößen Heidelberg seine Aufmerksamkeit widmet. Bisher dachte er eher an Jaspers und Gadamer oder auch an Hegel, Hölderlin und Goethe, die sich vormals in der Stadt aufgehalten hatten. Mit Goethe hat sich Iqbal viel beschäftigt und ihn auch übersetzt. Aber der Flaneur lässt Iqbal bzw. die „Tafel in memoriam“ sozusagen links liegen und eilt nun seinem eigentlichen Spaziergang-Ziel, dem Rizal-Ufer, entgegen Er hat seinen Schritt beschleunigt, weil die Wolken am Himmel immer dräuender wurden. Ein scheinbar streunender, aber friedlicher Hund kommt ihm entgegen, der ist ihm lieber als die nervösen „Tierchen“ auf den Philippinen. Es folgt alsbald sein Herrchen, man grüßt sich höflich und spaziert weiter.
Als die ersten Tropfen fallen, spannt er seinen Regenschirm auf, geht noch ein Weilchen voran und erreicht schließlich den ihn interessierenden Uferab-schnitt. Dort angelangt findet er eigentlich nichts Großartiges vor, aber es wärmt ihm doch das Herz. Er denkt an das Land, das er im hiesigen Winter besucht hat, er denkt an die anmutige Fermena, an den selbstlosen und frühweisen Don José. Dem zu Ehren wurden beim Ufergrün am Neckar auf der Höhe von Wieblingen, wo er sich jetzt befindet, ein Gedenkstein mit Inschrift- Tafel an einem Baum angebracht und in der Nähe eine Sitzbank aufgestellt. Er liest, was auf der Tafel steht, und erfährt nichts sonderlich Neues. Es wird ihm plötzlich klar, wie viel er bereits über Rizal erfahren hat. Und doch ist es bei weitem noch nicht alles. Das kurze Leben dieses Kämpfers für Gerechtigkeit war prall gefüllt. Die Tafel wurde im Jahr 2014 aufgestellt.
Im Hain schneidet er sich mit dem Messer – Gott und Baumschützer mögen ihm verzeihen – einen langen, schmalen und geraden Ast von einem Baum ab und verlängert mit Hilfe seines Taschentuchs seinen Schirmstiel. Dann postiert er den aufgespannten Schirm so an der Banklehne, dass er auf der Bank wie unter einem Zeltdach sitzen kann. Es regnet inzwischen recht kräftig, aber es kümmert ihn nicht, es ist weder kalt noch windig. Weit und breit ist kein Mensch zu sehen.
Er öffnet seinen Rucksack und nestelt ein Buch hervor, in dem er bereits zu lesen begonnen hatte, nachdem er es sich in der Stadtbücherei leihen konnte. Noli me Tángere, Rizals Hauptwerk, der Roman, von dem auch Fermena erzählt hatte. Er schlägt es auf und liest in Spanisch, was geschrieben steht. Während der Lektüre hebt er ab und zu den Kopf und blickt auf den verregneten Fluss und das gegenüber liegende Neuenheimer Feld, wo die Kliniken sind. Hinter ihm rauscht leise der Verkehr auf der Uferstraße vorbei. Vor ihm im Wasser gleitet ein kleiner weißer Ausflugsdampfer nach Osten hin. Ein paar Passagiere winken trotz des Regens.
Rizal beschreibt in seinem Roman, der in Manila spielt, darüber weiß er inzwischen Bescheid, die Ungerechtigkeiten und Übel während der spanischen Kolonialzeit in seinem Land, also über Dinge, die zwar „anrührten“, über die aber bei Strafe nicht gesprochen werden durfte. Protagonisten sind der Franziskaner-Pater Dámaso sowie der Sohn eines einheimischen Groß-grundbesitzers, der junge Ibarra, der gerade Europa bereist hat, sowie die wohlhabende Maria Clara. Diese und Ibarra sind verlobt und wollen heiraten. Der Pfaffe aber will, dass Maria Clara einen aus seiner Sicht angemesseneren Mann heiratet… In den Fokus stellt Rizal am Beispiel des „Fraters“ die katholischen Ordensgeistlichen, die sich intrigant in alles einmischen, den Scharfmacher geben und immer wieder auch schlimme Gräuel veranlassen – gerne im Namen eines angerufenen Gottes bzw. in Verurteilung der Sünde.
Er kann nichts dagegen tun, ohnmächtig drängen sich ihm die Szenen der praktizierten Folter auf, mit denen man aus den ungläubigen Indios gottesfürchtige Christen machte, bis sie es glaubten. Und die schreckliche Garrotte für die Widerständigen, die Unbelehrbaren, die Franco in Spanien noch bis 1975 anwenden ließ! Das letzte Opfer vor dem Ableben dieses faschistischen Tyrannen war Salvador Puig Antich, ein katalanischer Antifaschist. Er starb mit sechsunddreißig Jahren, hingemordet.
Der sitzende Flaneur liest zunehmend konsterniert, was Rizal den Dámaso sagen lässt:
Hört, was die heiligen Dekrete sagen! Wenn ein Indio einen Kurator auf der Straße trifft, so soll er sich so tief verbeugen, dass der Priester bequem auf seine Schultern steigen kann. Treffen sich beide auf dem Rücken eines Pferdes sitzend, muss der Indio sein Pferd anhalten und ehrfürchtig seinen Hut oder Salakót vom Kopf nehmen – und schließlich, wenn sich der Indio auf dem Pferderücken befindet und der Kurator geht zu Fuß, ist der Indio verpflichtet, anzuhalten, abzusteigen, dem Dekret gemäß zu grüßen und darf das Pferd nicht eher wieder besteigen, bis es ihm vom Kurator gestattet wird, beziehungsweise dieser sich von ihm wieder außer Sichtweite entfernt hat. Das schreiben die heiligen Dekrete vor, und sie schreiben weiter vor, dass jeder, der ihnen nicht gehorcht, exkommuniziert wird!
Und weiter unten eine Stelle im Text, wo sich zeigt, dass der „Indio“ für Dámaso bzw. für andere Mönche grundsätzlich träge und dumm ist. Der Pfaffe sagt zu den Versammelten seiner Gemeinde:
….Sie wissen sehr wohl, wie der Indio ist – gerade hat er ein wenig schreiben gelernt, und schon spielt er sich als großer Doktor auf! All‘ diese Rotznasen, die nach Europa geh’n …Wenn Sie ein Volk unterwerfen wollen, müssen sie es überzeugen, dass es nur dazu taugt, beherrscht zu werden…Man muss dem Philippino einbläuen, dass er zu nichts taugt…Glauben Sie mir, es ist ein Akt der Nächstenliebe…“
Der Flaneur, der den autobiografischen Bezug unschwer erkennt, liest noch ein paar Seiten weiter, dann stellt sich der Appetit ein, es ist schon spät geworden, aber noch hell. Er nestelt aus seinem Rucksack eine Box hervor, außerdem ein Brötchen und eine Gabel. Die lauwarmen Kalbsnierchen, mit denen er die bösen Geister vertreibt, schmecken ihm an der frischen Luft hervorragend, ab und zu nascht er eine Kirschtomate dazu. Nach dem Gaumenschmaus tritt er den Heimweg an. Seinen Schirm braucht er nicht mehr, es hat aufgehört zu regnen.
Später am Abend zu Hause wird er seine Lektüre bis zum Ende fortsetzen und erfahren, dass Maria Clara von Dámaso ins Kloster verjagt wurde. Ibarra musste sterben. Dem Linares hat sie sich immer verweigert. Ihre Alternative zum Kloster wäre der sofortige Tod gewesen. Aber auch im Kloster überlebt sie nicht wirklich. Irre geworden erscheint sie eines Tages auf dem Klosterdach und verflucht ihr Schicksal lauthals.
Wahre Biester waren diese Kleriker damals, denkt der Flaneur auf dem Sofa seines Wohnzimmers, als er die letzten Seiten liest und ihm kommt der widersprüchliche Dominikaner-Pater in Reinhold Schneiders Roman „Las Casas vor Karl V.“ in den Sinn, der Zentralamerika in der Konquistadoren-Zeit zum Schauplatz hat. Er hat ihn in seiner Jugend gelesen. Dort ist Las Casas der zunächst bösartige, dominikanische Protagonist, vollzieht später aber – anders als Dámaso – eine überraschende moralische Wendung.
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Manila, Marco Polo Congress-Hotel. In Deutschland ist es Spätsommer. Der verwandelte Flaneur, dunkler Anzug, Krawatte, Aktenkoffer und Rolli, ist erneut angereist. Sein Auftraggeber, die deutsche ENDSCHIO, hat ihn als Referenten zu einem internationalen Berufsbildungskongress vermittelt, den der ASEAN-Pakt veranstaltet. Zusammen mit Fermena soll er das Monate zuvor evaluierte Projekt, die Errungenschaften, vorstellen und in den Kontext innovativer, praxisnaher und handlungsorientierter Personalqualifizierung im ländlichen Raum einordnen. Er ist wieder mit Emirates angereist. Diesmal in der Business Class, entsprechend erholt fühlt er sich, wenngleich etwas benommen von den vielen Spirituosen, die er nicht alle abwehren wollte. Zu gut schmeckte ihm der Moet & Chandon beziehungsweise der Cognac nach dem feinen Abendessen vor der Landung. Wieder hatte ihn der schweigsame Fahrer pünktlich abgeholt. Diesmal wird er nur zwei bis drei Tage bleiben können und er hofft, dass ihm am Rande der Veranstaltung etwas Zeit bleiben wird, mit Fermena, man weiß schon, über andere Dinge zu sprechen. Er freut sich auf die erneute Begegnung, mit der er so bald nicht gerechnet hatte.
Am zweiten Tag nach seiner Ankunft treffen sie sich im Foyer des Hotels. Der Referent erkennt seine Co-Referentin von weitem, als sie zur Eingangstür hereinkommt. Es ist ein herzliches Wiedersehen mit Lachen und warmherzigen Händeschütteln. Vor einem halben Jahr hatten sie sich in Cebu getroffen, gute Arbeit gemacht und über José Rizal Konversation betrieben. Nun also der Vortrag, ihr gemeinsamer Auftritt, der für den Nachmittag geplant ist. Es bedarf noch der Feinabstimmung ihrer Präsentation. Sie beschließen, dies im Roof Garden des Hotels zu bewerkstelligen. Sie betreten den Lift, in dem ein Lift Boy in roter Kluft Regie führt und lassen sich in den einundzwanzigsten Stock fahren. Zuerst langsam und dann immer schneller surrt der Fahrstuhl nach oben. Sie betreten die riesige und mondäne, von Glas umgebene Dachterrasse. Sie ergattern einen freien Tisch an einem großen Schaufenster. Vor ihnen entfaltet sich ein schier unwirkliches Panorama mit grünen Alleen ganz unten und riesigen Wolkenkratzern, die das Hotel bei weitem überragen – die Skyline von Manila. Ihm wird fast schwindlig bei dem Anblick.

Ihre Blicke immer mal wieder nachdenklich auf die Stadt richtend oder sich forschend mit den Augen suchend, widmen sie sich dann der intensiven Abstimmung ihrer Redebeiträge. Fermena hat ein vornehmes rotes Kleid an und trägt eine Halskette aus Perlmutt, die weiß-grau schimmert. Sie strahlt für ihn einen Zauber aus, der so gar nicht zu den staubtrockenen Fachinhalten passen will, mit denen sie sich zu befassen haben. Sie geben sich viel Mühe und als sie fertig sind, ist auch schon die Zeit gekommen, im Vortragsraum die letzten technischen Vorbereitungen zu treffen.
Ihr zweistündiger Vortrag sollte ein voller Erfolg werden. Parallel finden in anderen Sälen ähnliche Veranstaltungen statt. Sie spielen sich ihre fachlichen Befunde und Fazits versiert wie in einem gelungenen Pas de Deux zu, während ein eingewiesener Helfer die passenden Powerpoint-Slides abspult. Am Ende beantworten sie präzise einige Fragen aus dem Publikum, das ihre Expertise zu schätzen weiß. Seitens der etwa hundert Zuhörer/innen erhalten sie einen anhaltenden, mehr als höflichen Applaus, der sich gut anfühlt. Sie sind ein eingespieltes Team, das wohl auch optisch und energetisch wirkte, und ihrer Aufgabe gerecht geworden. Gut gelaunt verlassen sie, mit den Gästen plaudernd, den Vortragssaal.
Nach einer kurzweiligen Rückzugspause der beiden – Spaziergang im Hotelpark – beginnt das Abendprogramm im Ground Floor, wo sie sich jetzt zum Großen Saal hinbegeben, der mit Blumen und Girlanden dekoriert ist. Überall huschen geschäftige Butler und weiß livrierte Kellner herum und bieten raffinierte Häppchen, Sekt und Vitamin-Säfte an. Die Kongressteilnehmer/innen aller Länder stehen in Grüppchen zusammen, parlieren angeregt, wobei das Business nicht zu kurz kommt, und nippen an ihren Gläsern. Schließlich bittet eine sanfte Lautsprecherstimme in den Saal herein.
Zum Auftakt des Abends spielt eine Combo auf, deren Mitglieder in grellen Glitzerkostümen musizieren, welche über die rhythmischen Körperbewe-gungen kleine Blitze in die abendliche Atmosphäre des leicht abgedunkelten Raums senden. Die Sängerin mit dunklem Teint trägt ein langes Kleid in Classic Blue Pantone, und an ihren Ohrläppchen hängen große schwarze Creolen. Ihre Stimme ist weich und doch auch kehlig. Die Gäste, darunter die Honoratioren und die vielen Teams und Referenten/innen, werden später kräftig das Tanzbein schwingen. Fermena, übrigens aus Manila stammend, und der Heidelberger sitzen an einem Tisch etwas abseits und schauen angeregt zu. Die Stimmung ist vergnüglich, das Abendmenü variantenreich und pikant, angesichts der dargebotenen Show aber Nebensache. Noch etwas zögerlich wird auf der Tanzfläche von ersten Tanzpaaren eine Art Soft-Beat oder auch mal eine adaptierte philippinische Salsa probiert. In sich hineinschmunzelnd kommt ihm das berühmte Bonmot „Der Kongress tanzt“ in den Sinn: 1815 in Wien. Metternich der Strippenzieher, das Heilige Römische Reich Deutscher Nation ist Geschichte, Napoleon Bonaparte so gut wie passé. Europas restaurative Neuordnung stand an. Nun ja, hier geht´s ein paar Nummern kleiner und ohne Walzer zu, aber jeder und jede fühlen sich wichtig, denkt er. So wichtig, als ob es um die Neuerfindung der Welt oder irgendeinen Great Reset des Orbits ginge! Bildungspromotoren unter sich, denkt er, und Josés jugendliches Porträt, das er nun schon so oft gesehen hat, erscheint plötzlich vor seinem inneren Auge. Fermena schaut ihn fragend an, fragt aber letztlich nichts. Manchmal können die beiden, wie es scheint, auch vielsagend miteinander schweigen.
Der Abend geht mit dem folkloristischen Auftritt einer großen philippinischen Tanzgruppe, bei dem die Bühne zeitweilig erbebt, spektakulär zu Ende. Enthusiastischer Beifall rauscht auf. Dann erheben sich die Gäste wie synchron an Schnüren gezogen. Sie brauchen nach all den Anstrengungen Schlaf, nur die Unentwegten werden noch bis in die Puppen in der Hotelbar feiern, wobei Whisky, Schnäpse und Schampus reichlich fließen und die ausgetauschten Witzeleien immer deftiger werden.
Auch das Vortragspaar ist aufgebrochen und hat den Saal verlassen. Jetzt steht es etwas ratlos im Foyer. Morgen geht der Kongress mit dem finalen Auswertungstag weiter. Sie fühlen keinen sonderlichen Drang, der Podiums-diskussion und dem Schlussreferat des philippinischen Bildungsministers zuzuhören. Es würde nicht groß auffallen, sind sie sich sicher, bei fünfhundert Gästen. Sie beschließen einvernehmlich, den Tag zu schwänzen. Ich habe da eine Idee, sagt Fermena, während er sie zum Hotelausgang begleitet. Du fliegst ja morgen zurück, am Nachmittag, oder? Wir haben dann also noch ein paar Stunden Zeit miteinander. Was noch besprochen wird auf dem Kongress, können wir nachlesen. Es wird ein Schlussdokument geben. Ich werde es Dir schicken, es kann etwas dauern. Wie auch immer, wir könnten ins Café Rizal gehen. Für eine Stadttour in unserer riesigen Metropole, etwa für den weitläufigen Luneta-Park, das große Rizal-Museum, das Kolonialviertel Intramuros, wo Pepe eine Zeitlang gewohnt hat, wird die Zeit diesmal nicht reichen. Das Café ist ein angesagter Ort, wo man sich ungestört aufhalten kann und doch unter Menschen ist. Ich komme zum Hotel und wir nehmen ein Taxi. Es ist nicht allzu weit. Dort können wir über Don José weiter plaudern, willst Du doch oder, was denkst Du, …und uns verabschieden. Klar, dass er will. Eine ausgezeichnete Idee. Abgemacht.
Am späten Vormittag seines Abreisetags sitzen sie im Café Rizal, das ihn wie ein überhell erleuchteter Tempel anmutet. Fast erschlägt ihn die zur Schau gestellte Grandezza, bis er sich daran gewöhnt hat. Die Location ist rege besucht, aber es gibt Nischen, wo man ruhig sitzen und sich unterhalten kann. Sie nehmen in einem Seitenflügel unter einem riesigen Lüster Platz. Nach einer Weile des Plauderns über ihren erfolgreichen Auftritt beim Kongress kommt der Appetit. Sie bestellt chinesische Dumplings, er Sinigang, eine kräftige einheimische Suppe mit Garnelen, weißem Rettich, Bohnen und Kohl. Schon eine Weile lang juckt es ihn zu fragen, wie es sein konnte, dass ein Mann mit solch einem kurzen Leben, Rizal, so viel durchgängige Gestaltungskraft aufbringen konnte und so viel Wirkung erzielt hat. Nun fragt er sie, während der Kellner die Speisen aufträgt und sie zu essen beginnen.
Ich weiß es nicht, sagt sie. Fest steht, dass er eine Lebensenergie gehabt hat, die immens war und die uns Filipinos ja oft nicht zugetraut wird. Aber wir können sehr zäh sein und widerstandsfähig. Und natürlich nahm er sich auch, sagen wir, tätige Auszeiten der Muße. Du weißt, er ging früh von Calamba nach Manila, bereiste später Europa, zuerst Madrid, dann Paris, dann Heidelberg, auch London, in Deutschland zudem Berlin, Leipzig, Ulm. Auch die USA suchte dieser Kosmopolit auf. Er war gesellig, wie die meisten von uns und es fiel ihm auch in fremden Regionen leicht, Kontakt herzustellen. In Wilhelmsfeld verstand er sich sehr gut mit dem aufmüpfigen Pfarrer Ullmer und dessen Freundeskreis, aber auch anderswo traf er sich immer wieder mit Leuten, vor allem solchen, die dem katholischen oder protestantischen Klerus angehörten. Trotz aller Kritik an den kolonial-klerikalen Verhältnissen, siehe Noli me tángere, fühlte er sich in solchen Kreisen wohl und war steht´s erpicht auf fairen Schlagabtausch im Diskurs. Er mochte die Kneipen, die es bei Euch gibt, damals schon gab.
Du weißt vielleicht auch, dass er zweimal in Europa war, einmal brach er 1882 auf und kehrte fünf Jahre später nach Manila zurück, dann brach er noch einmal auf und schrieb im belgischen Gent seinen zweiten Roman, wir sprachen vor Monaten darüber. Wenn man bedenkt, wie beschwerlich das Reisen damals war, es wurde ja noch nicht geflogen….
Fermena beißt ein Stück von einer der noch übrigen Teigtaschen ab, während er schweigend seine Suppe löffelt. Der Kellner bringt Bier und schenkt ihre beiden Gläser voll. Dann fährt sie fort:
In Belgien blieb er nur circa ein Jahr, dann zog es ihn wieder zurück in die Heimat und danach begann seine heftigste Lebensphase. Er gründete von Hongkong aus eine gewaltlose Reformbewegung Namens „Liga Filipina“, der später aus Anlass seiner Verbannung der Geheimbund Katipunan folgte. Es brachte ihm nun viel Ärger ein, dass er sich auch aktiv in die Politik einmischte. Sowieso war er schon mit seinem ersten Roman aufgefallen, eben wegen seiner harschen Kritik an Klerus und Kolonialismus. Der teilweise sarkastische Ton war bereits in Spanien bekannt, erst viel später wurde der Roman auch bei uns unter die Leute gebracht und dann sehr schnell als gefährlich eingestuft.
Um Deine Frage zu beantworten. Ja, er hatte ein dichtes Leben und seine unbändige Energie reichte offensichtlich aus, Romancier, Lyriker, Philosoph und Arzt zu werden und zu sein und sich um das Schicksal seiner Landsleute zu kümmern. In Madrid schaffte er die akademischen Abschlüsse, an seinen anderen Reisestationen bildete er sich weiter und schrieb und schrieb und schrieb….Hast Du „Die Rebellion“ gelesen, auch ein Roman von ihm? Ein einzigartiges Manifest der Anklage gegen koloniale Anmaßung und des Kampfes für Freiheit, das später auch viel Staub aufwirbelte. Und dann seine Gedichte, einige hat er in der Verbannung geschrieben, wovon ich Dir auch erzählen will. Möchtest Du einen Dumpling probieren, sie sind noch warm?!
Er nimmt gerne an und sie berichtet ihm weiter….
Nach der Liga-Gründung wurde er, wie gesagt, bald von der Kolonialregierung verhaftet. Man warf ihm Einschmuggelung verbotener Schriften vor. Schließlich verbrachten sie ihn nach Dapitan auf Mindanao, um ihn in diesem abgelegenen Exil mundtot zu machen, wovon heute eine Gedenkstätte dortselbst zeugt. Also widmete er sich seiner Lyrik und betreute die Menschen dort in seiner Umgebung medizinisch. Du hast sicher gehört, dass es auf Mindanao seit Jahren Unruhen gibt. Islamistische Gruppen sind dort im tiefen Süden unseres Archipels aktiv, zeitweise wurde das Kriegsrecht über die Insel verhängt. Damals gab es das dort nicht, jedenfalls nicht so. Wir Filipinos sind auch heute noch sehr katholisch, achtig Prozent von uns sind es, sagt man.
Um das noch zu ergänzen: Wirkung entfaltete er mit seinem Roman vor alle auch nach seinem Tod, in den Jahren und Jahrzehnten danach, und das ist bis heute so geblieben. Ich könnte mir vorstellen, dass José auch heutzutage, lebte er noch, auf der Seite von uns einheimischen Filipinos stehen würde – mit seinem gemäßigten, aber hellsichtigen Kurs, der sich eher in der literarischen Anprangerung der Missstände radikal gab. Schließlich gibt es auch heute Einflussmächte, die uns das Leben mit ihren Produkten und verriegelnden Regeln nicht nur versüßen, sondern uns zugleich unsere ureigene Identität verstellen, ja stehlen. Es hat sich also einiges geändert seit der Proklamation der Unabhängigkeit damals zwei Jahre nach seinem Tod, aber es sind danach auch neue, verstörende Misslichkeiten hinzugekommen. Wir sind im eigentlichen Sinne immer noch kein freies Land, auch wenn man unser Land als grundsätzlich demokratisch zu bezeichnen pflegt. Und momentan…, uff, lassen wir das!
Du denkst an die USA , die Briten, Japan, diese Besatzungen nach den Spaniern, die bis 1948 währten, oder heutzutage die Interessen der VR China als nahe Großmacht, pflichtet er ihr bei. Aber ich weiß nicht, wie Rizal sich verhalten hätte, wenn wir davon ausgehen, dass er- wie der erste Präsident Eures Landes, Aguinaldo, der 93 Jahre alt wurde – in die(se) Jahre gekommen wäre. Ich will absolut nicht defätistisch sein, aber ich beobachte, dass viele der jugendlichen Rebellen, Umstürzler, Rädelsführer, wenn man so will, entweder früh sterben oder später im Alter ihre Einstellung ändern, plötzlich „vernünftig“ werden, wie es so schön-unschön heißt. Natürlich gibt es Ausnahmen. Der bekannte französische Kulturminister unter De Gaulle, übrigens auch ein Schriftsteller, soll einmal sinngemäß gesagt haben: „Mit zwanzig revolutionär, mit vierzig liberal, ab sechzig konservativ.“ So in etwa, ich garantiere jetzt nicht, ob die Alterszuordnung stimmt. Ja, ich beobachte, dass manche jungen Rebellen später sogar zu sehr an der Macht schnuppern, den Faden verlieren und im Alter tatsächlich brave oder stramme Konservative werden. Ihre frühere Rolle stufen sie gerne als pure Jugendsünde ein, die sie längst überwunden hätten. Davon wollen sie dann oft nichts mehr wissen.
Mag sein, sicher ein wichtiger entwicklungspsychologischer Aspekt, aber ich kann Dir sagen, dass Don José kein Rebell, kein Umstürzler war. Er war gemäßigt, relativ moderat in seinen Forderungen, er plädierte für Gewalt-losigkeit, sehr bescheiden im Auftreten, sehr intellektuell und gewiss kein Kommunist, für ihn existierte das Göttliche, aber das Animistische, das Spirituelle ebenfalls, den befremdlichen Gottesmännern in ihren Kutten in unserem Land misstraute er hingegen zutiefst. Allerdings reichte das schon zusammen mit seinen zugegebenermaßen recht spöttischen oder scharfen Beobachtungen in seinen Romanen, um in Ungnade zu fallen. Denn unser Volk war bereits aufgestanden, und die Kolonisatoren waren unruhig geworden und bekamen es mit Verlustangst zu tun. Ich glaube, Rizal wäre sich auch im Alter treu geblieben und hätte standgehalten…in diesem Sinne. Aber wir können darüber nur spekulieren. Schau mal auf die Uhr, unsere gemeinsame Zeit läuft für diesmal ab, Du musst bald los.
Ich möchte Dir etwas Kultiges vorschlagen. Hier drinnen spürt man wenig von Rizal, es ist vor allem der Name des Cafés, wenn man einmal vom Konterfei Josés auf den Speisekarten absieht. Draußen im Garten, ich war schon öfters hier, steht aber eine Büste von ihm auf einer Stele. Was hältst Du davon, wenn wir draußen noch ein bisschen herumlaufen und, wir waren in Cebu und auch hier in Manila ein besonderes Team-Paar, ein Selbstporträt machen: Du, José, ich. Ich mag das Wort Selfie nicht, aber solche ein Foto würde mich sehr freuen. Es gibt bisher kein wirkliches von uns. Die Aufnahmen der bestellten Fotografen im Marco Polo mögen auch uns erfasst haben, zählen aber für mich nicht wirklich.
Gehen wir hinaus, sagt er mit erfreuter Miene. Sie ordern die Rechnung und bezahlen, dann verlassen sie das heruntertemperierte Kühlschrank-Café und begeben sich in die heiße Luftsuppe des Gartens, der sich ihnen mit seinen exotischen Bäumen, Gebüschen und Blumen in einem äußerst gepflegten, fast schon adretten Zustand darbietet. Eine Augenweide. Sie schlendern zwischen den Beeten hin und her. Du brauchst nicht besorgt sein, hier gibt es keine „Tierchen“, sagt sie, als er einmal etwas unverhohlen ins Gebüsch linst. Wenn man von den Vögeln absieht, hier gibt es viele Roztail Shrikes, Rotschwanz-würger, schau da drüben hoch im Baum flattern sie! In einer Ecke entdecken sie die Büste Josés, gehauen aus schwarzem Stein. Fermena zieht ihr Handy sowie den Stick aus ihrer Tasche und steckt beides zusammen. Dann postieren sie sich links und rechts der Stele, und sie knipst mehrmals. Sie schauen sich belustigt die Fotos an und entdecken das sardonische Lächeln Don Josés. Du musst mir auf jeden Fall die Fotos schicken, sagt er, am besten gleich. Klar, ich teile gerne, sagt sie.
Nun ist der Moment gekommen, sich zu verabschieden. Er muss, es ist spät geworden, zum Hotel zurück und dann flugs zum Airport. Sie wird mit dem Taxi in eine andere Richtung nach Hause fahren. Jetzt greift sie nochmal in ihre Handtasche und zieht ein kleines Päckchen hervor, eingewickelt in Geschenk-papier. Das ist für Dich, sagt sie, damit Du nicht vergisst, wie vielfältig unser Land ist, das Du jetzt zweimal besucht hast. Du magst doch unsere Musik und den Tagalog-Sound, habe ich bemerkt. Rizal ist sehr viel, aber nicht alles. Und doch, Du wirst ihm nicht entkommen, wenn Du das Päckchen zu Hause aufmachst. Willst Du ja auch nicht, oder?! Öffne es bitte erst, wenn Deine Nach-forschungen zu Pepe an ein gewisses Ende gekommen sind, fügt sie enigmatisch hinzu.
Er weiß nicht, ob er das tun darf, aber zum diesmaligen Abschied umarmt er sie lange und mit sanftem, aber spürbarem Druck und während sie für Momente mit Gestik und Mimik so etwas wie „Mann-Frau“ spielen, eine Art Radar verquer, werden sie sich gewahr, dass sie sich längst mehr als aneinander gewöhnt haben. Sie versichern sich mal ernst, mal lächelnd, dass sie sich doch bald wiedersehen würden, si Diós quiere, so Gott will. Unbedingt! In Manila, in Madrid, in Heidelberg? Egal! Sie könnten dann in bekannter Manier über Rizal plaudern. Aber eigentlich wissen wir doch schon alles über ihn, sagt sie. Fast alles, sagt er!

***
Der passionierte Spaziergänger, Jeans, grünes Leinenhemd, Lodenmantel, Schal und Wollmütze, hat diesmal zunächst den Bus genommen, der ihn in einer knappen Stunde Fahrt nach Wilhelmsfeld im Odenwald bringen wird. Der neue Winter hat begonnen, es ist frisch. Im Ort will der Flaneur, der neumodische Scooter, Roller oder ähnliche Zweiräder verschmäht, dann wieder ausgiebig zu Fuß gehen. Er ist voller Vorfreude darauf zu erleben, was ihn lange schon erwartet.
Während der Bus ein paar Hügel hinauf und wieder hinunter zockelt, um dann auf seinen Zielort einzuspuren, geht der Flaneur in Gedanken die Stationen durch, die er nachher ablaufen will: den José-Rizal-Park und die gleichnamige Straße, das Denkmal Pepes, das Pfarrhaus des Pastors Ullmer, die Büsten von vier wichtigen Förderern und Freunden. Er hat sich gut vorinformiert, denn er will sich zum vorläufigen Abschluss seiner Nachforschungen über Rizal nichts entgehen lassen.
An der Haltestelle am Ortsrand von Wilhelmsfeld steigt er aus und beginnt seinen Spaziergang. Was ihn vor allem in die Ortschaft zieht, ist, dass er sein Bild von Rizals hiesigem Umfeld abrunden will. Und er möchte dem Kult, der um den Helden betrieben wird, mehr auf die Spur kommen. Wer alles den sanften Rebellen von damals rühmt und wie man dies zu tun pflegt. Sind Stil und Inhalte der Huldigungen dem humanitären Impetus des Illustrado, des „erleuchteten Aufklärers“, wie man ihn kultig nennt, angemessen? Wird man ihm mit den Würdigungen gerecht oder will man sich sonnen? Gibt es, so sein leiser Verdacht, unter den offiziösen Ehrerweisern nicht auch „Sündiger“ als Trittbrettfahrer, die seine charismatische Ausstrahlung usurpieren, sich gerne mit ihm schmücken, zugleich jedoch seinen Gerechtigkeitssinn posthum mit Füßen treten, wie das leider nicht selten so ist?
Ihm fällt der Personenkult ein, der dem Argentinier Ernesto Guevara, eben dem Che, auch ein Arzt übrigens, weltweit widerfahren ist. Würde Rizal sich nicht auch manchmal in seiner Grabstätte umdrehen, wenn er wüsste…oder würde er lächelnd die Lobpreisungen aushalten, „tolerieren“, wie es seinem bedäch-tigen Gemüt gerne nachgesagt wird, fragt er sich grübelnd. Unter dem Schirm seines historischen Prestiges können sich viele tummeln, aber gewiss keine Verehrer/innen, die neuzeitlichen Kolonisierungsmethoden, Tyranneien oder Demokraturen frönen. Oder dem Rassismus Vorschub leisten. Da ist er sich sicher.
In den letzten Wochen hat er, seine Eindrücke, sein Menschenbild von Rizal, im Notizbuch vervollständigend, einen weiteren Roman von ihm gelesen, auch ein zwei der vielen Biografien über ihn und zahllose Berichte mit neuzeitlichem Bezug. So hat er erfahren, dass die „Knights of Rizal“ jährlich Kränze an den Erinnerungsstätten weltweit niederlegen, Vorträge über den jungen Helden halten, karitative Projekte durchführen. Auch in dem Städtchen Wilhelmsfeld, das zu Rizals Zeiten gerade mal ein paar hundert Einwohner/innen hatte und das er jetzt gemächlich durchwandert, während er an der leicht herben Bolívar mit dem öligen Blatt zwischen seinen Lippen zieht, gibt es einen Ableger dieses vor gut zwanzig Jahren gegründeten philippinischen Ritterordens: „The Chapter Wilhelmsfeld-Heidelberg.“ In der Ehrenliste der Knights sind alle Präsidenten der Philippinen eingetragen, ausgestattet mit dem Verdienstkreuz des Ordens, weiß er. Alle!
Der Flaneur geht eine Weile die Hauptader des Orts entlang und biegt dann immer weiter in kleine Gässchen ab. Im Ort ist es so ruhig, wie wenn eine Epidemie ausgebrochen wäre, wundert er sich. Siesta-Quarantäne in Wilhelms-feld? Keine Menschen, kein Tier, sogar Windstille. Die Architektur der weißen Wohnhäuser mit den roten Dächern, an denen er vorbeiläuft, wirkt uniform. Er hat keinen Plan, aber plötzlich steht er in der Jose-Rizal-Straße, ein paar Meter weiter entdeckt er das Pfarrhaus mit der Gedenktafel. Hier also wohnte Rizal für ein paar Monate bei Gönner und Freund Ullmer, denkt er, und versucht sich vorzustellen, wie die beiden angeregt parlierend aus dem Haus treten, um zum Park zu spazieren. Es lebe das Latein als Sprache der Verständigung! Nur dass es den Park, zu dem er jetzt will, damals noch nicht gab, dann also vielleicht am Hilsbach entlang. Den gab es schon immer.
Genau diese Richtung schlägt der Flaneur jetzt auch ein, als ihm doch ein paar Menschen begegnen. Es handelt sich um eine Besuchergruppe, die um die Ecke kam und nun am Pfarrhaus anhält. Ein junger Mann, wohl ein Student, es könnte ein Philippiner sein, erklärt gerade auf Englisch, was RIZAL bedeutet, die Herkunft und Bedeutung dieses berühmten Namens und dass Ullmers Gast auch Freimaurer war, wie er überrascht mithört. Der Flaneur nutzt die Gunst der Stunde, wartet auf eine kleine Pause und bittet nun jemanden aus der Gruppe, eine fröhliche Frau mit buntem Hut und noch bunterem Spazierstock, ein Foto von ihm vor dem Pfarrhaus zu machen. Sie willigt gerne ein, man grüßt sich, und er sendet das Foto nach kurzer Begutachtung und quasi in Echtzeit an Fermena in Manila. Greetings from YOUR Wilmhelmsfeld! Er weiß, dass sie jetzt schmunzelt und setzt seinen Weg zufrieden fort, am Bach entlang zum Park.
Dort angelangt orientiert er sich leicht: Hier steht die bronzene Statue des schmal gebauten Helden, der den Blick leicht nach oben hebt und ein Schreibgerät, einen Federkiel im Anschlag hält. Drüben entdeckt er die beiden Büsten-Paare auf ihren Steinsockeln: den berühmten Zellpathologen und Hygiene-Doktor Rudolf Virchow, dem José in Paris begegnete; seinen Wilhelms-felder Gönner und Freund Ullmer; den Heidelberger Augenklinik-Chef Otto Becker und – nicht zuletzt – den anerkannten Philippinen-Kenner Ferdinand Blumentritt, der zu seinen besten Freunden zählte und der auch heute noch auf den Philippinen bekannt ist. Allesamt haben sie Rizal geschätzt, inspiriert und auch gefördert. Es ist ein gelungenes figürliches Arrangement. Der Flaneur spaziert mit langsamem Schritt an der Figur Rizals und den Büsten vorbei, dann setzt er sich auf eine Bank. Im Park herrscht eine fast andächtige Stille.
Aus der Innentasche seines Mantels befördert er ein flaches Päckchen. Nein, es ist nicht das von Fermena, das wird er, wie es sein soll, erst am Abend zu Hause öffnen. Es sind, in Butterbrotpapier gepackt, zwei große, zusammengelegte Schwarzbrotscheiben, auf die er zu Hause feinstes Griebenschmalz und schmale Gürkchen-Streifen aufgetragen hat, dazu zwei Landjäger. Aus der anderen Innentasche zieht er einen Flachmann heraus, der mit scharfem Zwetschgenwasser gefüllt ist. Der kleine Verzehr wärmt ihn gut auf. Ob er es auf den Philippinen auf Dauer aushalten würde bei all der Hitze und Schwüle dort das ganze Jahr über, fragt er sich nachdenklich, und nimmt noch einen Schluck aus der kleinen Pulle. Seine versonnenen Gedanken verweilen eine Zeitlang in der Ferne des wundersamen Archipels am anderen Ende der Welt.
Was ist dieser Mann mit dem kurzen Leben alles gereist, zumeist auf Kreuzern übers Meer, denkt er. Er lässt die Reisestationen des Kosmopoliten noch einmal revue passieren. Seine letzte Reise, die nach dem fernen Kuba, wurde ihm letztendlich verwehrt. Er erreichte seinen Zielort Havanna nicht, und dann nahm sein persönliches Schicksal seinen traurigen Fortgang. Dabei hat ihn mit Kuba doch so viel verbunden, mit dieser krokodilförmigen Insel, deren Einheimische ebenfalls unter der spanischen Besatzung litten, denkt er. Rizal und der Kubaner Martí, der bis heute ebenfalls hochverehrte Nationalheld, mit dem der Flaneur sich auf seinen Lateinamerikareisen viel beschäftigt hat! Schließlich war Kuba immer ein Land, das ihn beschäftigte, seit er angefangen hatte, politisch zu denken. Was haben die beiden Männer gemein, was unterscheidet sie, fragt er sich jetzt noch einmal? Er versucht sich an einem Fazit, während er das Butterpapier zusammenfaltet, in den neben der Bank stehenden Papierkorb wirft und ein paar gurrenden Tauben sich an den Krümeln am Boden delektieren. Er beobachtet ihren Nystagmus und prustet plötzlich los, als ihm in den Sinn kommt, dass die mit schwächlicher Sehkraft ausgestatteten Vögel die Hilfe Rizals gut gebrauchen könnten.
Rizal und Martí, die beide den Vornamen José trugen, hatten verblüffend viele Gemeinsamkeiten, wird ihm immer klarer, während er vor sich hin sinniert. Beiden Freiheitskämpfern, der eine Arzt, der andere studierter Jurist, war ein radikaler Humanismus und Antirassismus eigen, sie kämpften gegen ihre spanischen Kolonialregimes und gelten in ihrer Heimat als Nationalhelden. Beide werden deshalb bis heute in ihrer Heimat mit Denkmälern und periodischen Gedächtnisveranstaltungen geehrt. Sie gründeten zwecks Befreiung ihrer Länder antikolonialistische Initiativen, Martí eine Partei, Rizal die Liga. Rizal betätigte sich politisch und literarisch, Martí war ebenfalls Literat, aber auch unmittelbar im militärischen Kampf aktiv, was Rizal ablehnte. Beide starben jung und eines unnatürlichen Todes. Sie schrieben Gedichte, Essays und Manifeste, Rizal auch politische Romane. Rizal war kosmopolitischer, aber beide machten Bekanntschaft mit den USA und Spanien, wobei der junge Martí in seiner frühen Jugend zur Zwangsarbeit dorthin verbracht worden war. Beide waren Katholiken und Freimaurer und legten wichtige Fundamente für eine freiere und gedeihlichere Entwicklung ihrer jeweiligen Heimat. Ohne Ver-sklavung.
Der Flaneur, indem er dieses komparative Resümee zieht, weiß am Ende nicht, wem er mehr Ehrerbietung und Zuneigung erweisen soll. Er will sich auch gar nicht in diesen überflüssigen Zwiespalt hineinbegeben. Er fühlt sich beiden Josés nahe. Daran soll sich nichts ändern, nimmt er sich nachdenklich vor. So langsam steht der Heimweg an. Er verlässt den Park.
Eigentlich hatte er es nicht vor, aber es ist noch etwas Zeit, bis der blaue Bus kommt, der ihn wieder nach Heidelberg bringen wird. Also steigt er auf den Aussichtsturm hinauf, wo er inzwischen hingelaufen ist. Den modern kon-struierten Turm gibt es erst seit ein paar Jahren. Von diesem Wahrzeichen des Orts hat ihm ein Freund erzählt, der erst vor kurzem dort war. Fünfunddreißig Meter aufwärts bis zur Plattform. Oben angekommen läuft er im Kreis herum, entdeckt das Fernglas mit dem Weltkompass. Er wirft die passende Münze ein, dann zielt er spielerisch aufs nahe Heidelberg, dreht ganz leicht weiter nach links in die Ferne: Madrid, dann etwas mehr nach rechts in die schier unendliche Ferne, fast noch in der Linie, über den Westen um den Erdball herum: Manila. Die Peilung kommt hin, er freut sich wie ein Kind. Ein schönes Spielzeug für einen Mann wie ihn!
Die Münzuhr ist fast schon abgelaufen, er stülpt das Rohr nach unten und linst: Der Ortsrand, der dichte Wald, die Landstraße. DER BLAUE BUS!!! Der ist noch circa hundert Meter von der Haltstelle am Turm entfernt. Er prallt zurück und rennt fast wie um sein Leben die vielen Wendeltreppen hinunter…Schon lange nicht mehr hat er sich so flugs und flink bewegt…
Die Fahrt im Bus zurück gestaltet sich in gewisser Weise kurzweilig, denn er rätselt angestrengt über die Frage: Was passiert, wenn ich hier im fahrenden Bus stehend plötzlich einmal hochspringe? Komme ich dann, wenn ich keine Verrenkungen mache, wieder an derselben Stelle am Boden auf oder fährt der Bus – eine Sekunde lang – unter mir durch? Und wie ist das im gleichen Fall, wenn ich auf dem Dach mitfahre und dort hochspringe? Es ist beinahe wie eine Obsession, wenngleich diesmal auch eine passende Ablenkung von monate-langer Rizal pur-Befassung, dass er sich in Bus oder Bahn immer wieder mit dieser Frage beschäftigt, ohne sie wirklich jemals sattsam beantworten zu können. Er nennt solcherlei gedankliche Befassung seine Plagegeisterstunde. Etwa auch die Frage, ob die Menschen auf der Südhalbkugel aus seiner jetzigen Perspektive nicht nach unten hängen müssten, während er im Norden halt den Kopf nach oben recken kann. Und umgekehrt! Warum, verflixt, hingen Fermena und er, als er dort war, auf der Erdkugel nicht mit den Köpfen nach unten? Aber vielleicht war es ja so und sie empfanden es neuronal nur nicht so! Er kann sich diese integrale Orbit-Ansicht aus der gedachten Astronautenperspektive zwar immer wieder ganz gut vorstellen, erklären kann er das Phänomen, dem wohl die physikalischen Gesetzmäßigkeiten von Gravitation und Relativität zugrunde liegen, jedoch nicht. Vielleicht hätte es Don José gekonnt, sinniert er, während der Bus, am Park vorbei schleichend, in seine Wohnstraße einbiegt, wo seine Haltestelle ist. Der war schon allein zeitlich näher dran an Newton und am jungen Einstein. Und er war gelernter Naturwissenschaftler, nicht so ein Spezialist fürs Allgemeine wie ich, denkt er!
***
Zu Hause in seiner Wohnung angekommen, drängt es ihn nun endlich, das Päckchen von Fermena zu öffnen. Seine gründlichen Nachforschungen zu José Rizal sind jetzt erst einmal an ein gewisses Ende gekommen. Er liest zunächst den beigefügten Brief, bei dem sich Fermena offensichtlich hat helfen lassen, denn sie spricht kein Deutsch.
Lieber Alexius,
Du hast gerade Dein Päckchen aufgetan und innen da Du findest jetzt ein Musikscheibe und Heft zu die Gruppe ASIN. In Cebu, bei Kongress und in die Cafés, wo wir waren, habe ich bemerkt, dass Dich unsere einheimische Musik sehr gefällt, speziell in Verbindung mit Tagalog-Sprache. Das freut mich sehr. Ich möchte Dich unsere Musik etwas mehr zeigen und habe eine Platte ausgewählt, die ich Dich gerne schenken möchte. Es ist von unsere legendäre Gruppe ASIN, was Salz heißt. Salz der Erde. Asin ng Lupa. Vor gut vierzig Jahren die Gruppe ist angefangen, Protestmusik als unsere Volksmusik zu machen, mit neuen Liedern und Texte, zum Beispiel über den Schutz von unsere reichen Natur, soziale Dinge und so, auch manchmal etwas aufmüpfig. ASIN wurde damals in meinem Land bei die einfache Leute sehr beliebt und ist noch heute geschätzt. Aber lies im Heft Du selbst, wie es damals weiterging…Ich habe meine Lieblingslieder der Gruppe ausgewählt. DAHON, Blätter, ist mir das Liebste. Lolita und Saro singen in Tagalog. Ich hoffe, sie gefallen. Ich denke viel an unsere Begegnungen und umarme Dich aus die Ferne ganz nah.
Fermena

Der Flaneur legt den Brief gespannt beiseite, schiebt die Compact Disk mit Songs von ASIN ins Fach des Abspielgeräts, drückt den Button und lauscht, während er in seinem Wohnzimmer auf und ab geht, bisweilen aus dem Fenster auf seinen Park schauend. In seine Ohren strömen die warmherzigen Stimmen von Lolita Carbon und Cesar Saro Bañares, die Schlichtheit der sehnsuchtsvollen Melodien, das wellenförmige Wogen und gelegentliche Wimmern der mandolinenartigen Gitarren, etwas „Hawaii-Sound“ ist mit dabei. Der tagalische Singsang mit den hüpfenden Zwei-Buchstaben-Silben fasziniert ihn. Klippenhüpfen, Inselspringen, assoziiert er. Kein Zweifel, diese austrone-sische Musik hat schon bei den ersten Liedern sein Herz erobert, er kann Fermena nur zu gut verstehen und fühlt sich ihr nahe.
Er würde jetzt die Lieder gerne jemandem aus seinem Umfeld zeigen, einem Freund vielleicht, einem Kumpan. Aber würde der auch wirklich Anteil nehmen können und verstehen? Es ist gerade hierzulande so schwer, jemandem die je eigenen Musikentdeckungen, das diesbezügliche Faible, die von den Tönen und Worten ausgelösten Gefühle, zu vermitteln, denkt er, so hektisch hier alles! Und wirkliche Sehnsucht, die er jetzt spürt, ist ja sowieso ein monadisches Gefühl, wenngleich gerichtet. Er schiebt die Überlegung des Teilens beiseite und wählt Taste 5: Dahon, Blätter.

Im Booklet studiert er die zweisprachigen Texte und die Sängerporträts von Lolita und Saro. Er liest die Passagen über die wechselvolle Performance der vielfach umbesetzten Band, das Aufgeben, die Neubeginne auch mit Rockmusik, bis hinein in die heutige Zeit, nachdem der Gründer Saro längst nicht mehr dabei war. Die Schlusszeilen geben bitteren Aufschluss: „Am 18. März 1993 hielt sich Bañares abends in einer Karaoke-Bar in seiner Heimatstadt Koronadal auf Mindanao auf. Im Pulk der vielen Gäste kommt es zu einem Gerangel. Ein Mann zieht seinen Magnum-Revolver und schießt Saro in die Stirn. Kurze Zeit später verstirbt er in der Klinik. Der Mörder wurde bestraft und später von der Justiz großzügig begnadigt. Oder augenzwinkernd! Der Sänger wurde siebenunddreißig Jahre alt.“
Viele rebellische Pop-Größen, fällt ihm ein, sterben heutzutage noch deutlich jünger, aber, wie es aussieht, von eigener Hand: Brian, Jimi, Janis, Jim, Kurt, Amy und so weiter. Ein paar Jahre pralle Adoleszenz und…Sense! Aus der Traum! Man hat inzwischen sogar einen symbolischen Namen dafür erkoren, der Club 27, aber all das steht auf einem anderen Blatt, denkt er, für Momente nervös geworden, und schiebt den Einfall, den Vergleich erst einmal beiseite. Dann drückt er nochmal auf die Fünf am Spielgerät.
***
Manila, 30. Dezember 1896. Nach seiner vierjährigen Verbannung und inzwischen auf der langen Reise nach Kuba, wo der in seiner Heimat so unbequeme Landsmann gefälligst als Militärarzt das grassierende Gelbfieber bekämpfen soll, der Provinzgouverneur hatte dies genehmigt, wird Rizal in Barcelona von der gefürchteten und misstrauischen Guardia Civil aufgehalten, verhaftet und in seine Heimat zurückgebracht. Dort hält man ihn dann in der Festung „Fuerza de Santiago“ gefangen. Wegen angeblichen Hochverrats und Gotteslästerung wird Rizal, der Gewalt stets ablehnte und nie zu revolutionärer Befreiung aufgerufen hat, schließlich von einem Gericht verurteilt. Ein Aufstand des Katipunan-Geheimbunds bietet den vorgeschobenen Anlass. Man unterstellt ihm, beliebte Methode, eine Verschwörung. Darauf steht der Tod. In seinen letzten Tagen schreibt er das Abschiedsgedicht „Mi ultimo Adiós“ – „Mein letztes Lebewohl“. Wenige Stunden vor seiner Hinrichtung ehelicht er die junge Marie Josephine Bracken, seine philippinische Verlobte, die er in der Zeit seines Provinz-Exils in Dapitan kennengelernt hat, in seiner Kerkerzelle im Beisein eines Priesters. Sie schließt sich schon Tage danach dem aktiven Widerstand für einige Jahre an. Beim Geheimbund Katipunan.
Es ist sieben Uhr früh, als man ihn auf den Campo de Bagumbayan, der heute ein Park ist, führt. Dann marschieren Füsiliere auf. Ihm wird das Urteil verlesen. Einige Minuten später ist José tot. Dort, wo er – rücklings – erschossen wurde, steht heute ein großes Monument, die nationale Gedenkstätte. Der Leichnam des Fünfunddreißigjährigen findet auf dem Paco-Friedhof in Manila die letzte Ruhe.
Zwei Jahre später wird die dreihundertfünfzigjährige Herrschaft der Spanier auf den Philippinen, die mit der sogenannten Entdeckung durch Fernando Magellan und der Ankunft der Reste von dessen Armada auf der Insel Homonhon begann, beendet sein. Die USA, ähnlich wie auf Kuba, und andere Nationen übernehmen.

Quellen:

Fermena, hier fiktional; in Wirklichkeit mehrere Philippiner bei zwei Aufenthalten des Autors vor Ort.
Eigene Reisenotizen des Autors
Fritz Hack, Großenkel von Pfarrer Ullmer, Vortrag über José Rizal in Heidelberg am 20. April 2011
José Rizal, Noli me tángere, Roman, spanische Ausgabe
Song DAHON, Fragment (erste und letzte Strophe), aus dem Englischen adaptierte Version des Autors , Lyrics aus dem Booklet der CD, Band ASIN https://www.youtube.com/watch?v=exycjO3diCk&list=RDMMexycjO3diCk&start_radio=1
Erinnerungsstätten zu José Rizal in: Cebu City, Manila, Wilhelmsfeld, Heidelberg.

Adiós, padres y hermanos, trozos del alma mía,
 Amigos de la infancia en el perdido hogar,
 Dad gracias que descanso del fatigoso día;
Adios, dulce extranjera, mi amiga, mi alegria,
Adiós, queridos seres, morir es descansar.
Goodbye, dear parents, sister and brothers, fragments of my soul,
Childhood friends in the home now lost,
Give thanks that I rest from this wearisome day;
Goodbye, sweet foreigner, my love, my joy;
Farewell, loved ones, to die is to rest.
Letzte Strophe aus: José Rizal, Mi Ultimo Adiós/My Last Farewell (E.A. Lozada/F. Feder)

 

März 2021 | In Arbeit | Kommentieren