Ich möchte versuchen, die Fragen und die Antworten, oder besser: den Niederschlag von Menschheitsgedanken, den unsere Überlieferung auf die Erscheinung des Todes gefunden hat, neu zu durchdenken. Dabei ist es für mich eine notwendige Beschränkung, meine Betrachtung auf die griechisch-christliche Tradition zu lenken, weil ich die Originalzeugnisse anderer Kulturen, sofern sie sprachlich sind, nur aus Übersetzungen kenne. So ist es die eigene Überlieferung des abendländischen Denkens, an der ich mich orientiere. Der Vorzug der eigenen Überlieferung ist aber ebensosehr eine methodische Belastung.

Das ist sie insofern, als wir in ihr stehen und mithin nicht frei über sie hinauszublicken vermögen. Gewiß besteht eben darin das hermeneutische Bemühen, es mit einer Formel des Philologen August Boeckh zu sagen, das Erkannte zu erkennen. Das allein macht es überhaupt möglich, über den Tod als Frage zu sprechen. Indessen ›Erkennen des Erkanntem‹ ist eine Formel, mit der Boeckh zunächst nichts als die Interpretation von Texten meint. Ihr Inhalt ist das Erkannte. Aber wie ist es, wenn es sich um den Tod handelt? Was ist hier das Erkannte? Kann man das, was uns in unserer Über-lieferung begegnet, überhaupt Antworten auf eine Frage nennen? Ist das Kommen des Todes nicht gerade, daß es uns auf seine Frage ohne Antwort findet? Nicht der natürliche, biologi-sche Vorgang ist das Rätsel. Rilke spricht einmal von dem heiligen Einfall der Natur, daß sie den vertraulichen Tod fand. Oder er spricht davon, daß der Tod die andere Seite des Lebens ist, so wie der Mond eine unbeschienene Seite besitzt, die doch zum Ganzen seines Seins so gehört wie der Tod zum Sein des Lebendigen. So natürlich ist der Tod. Wenn man nur dem Tod gegenüber den Gleichmut hätte, mit dem man sonst Lebensvorgänge begreift.Der Tod bleibt eine Frage. Die Unbegreiflichkeit des Todes zeigt sich vor einer anderen In-stanz. Sie kommt daran heraus, daß die Gewißheit unseres Selbstbewußtseins sich mit dem Nichtseindieses Selbstbewußtseins überhaupt nicht in ein begreifendes Verhältnis zu setzen vermag.Wieder mit Rilkezu sprechen: » Und was im Tod uns entfernt, ist nicht entschleiert.« Wo[162] sollen da Erkenntnisse sein, wo Antworten des Begreifens, die wir selbst zu begrei-fen vermöchten? Und doch scheint esdie unablässige Anstrengung der Menschheit, diese Frage wachzuhalten. Wir vermögen als Lebende an ihrnicht vorbeizukommen.Fassen wir die ältesten Antworten unserer Überlieferung auf die Erfahrung von Thanatosund Athanasia, von Tod und Unsterblichkeit, Todlosigkeit, ins Auge, so ist es immer die gleiche große und ungeheure Antwort, die uns in unserer Überlieferung begegnet: der Totenkult, das Grab. Das wahrhaft Auszeichnende des Menschen unter allen Lebewesen, die die Natur her-vorgebracht hat, ist, daß er seine Toten bestattet und daß er an dasGrab sein Fühlen, Denken und Bilden wendet. Was für eingewaltiges, immer wieder uns mit ungläubigemStaunen erfüllendes Faktum ist doch der Schatz von Weihgaben, der aus den Gräbern der Vorzeit ans Licht kommt. Man denke etwa an die Wikingergräber bei Oslo. Ganze Schiffe mit allem ih-rem Inhalt sind dort mit Stein und Erde bedeckt worden, um dem Toten das zu erhalten, was seines war. Und welche Variationen bietet der Anblick der Gräber, welche Antworten liegen in dieser Gestaltungsvielfalt verborgen. Da sind die gewaltigen Steinmonumente der Pyrami-den, die von tausenden von Händen um ein schrumpfendes, winziges Etwas errichtet sind. Da ist der beständig wachsende Schatz von Grabreliefs aus der klassischen Zeit Griechenlands im Nationalmuseum in Athen. Werauf diesen Stelen die Gebärde des Abschieds, die einem den Atem benimmt, je mit eigenen Augen gesehen hat, wird dieses Innesein des Todes, das uns griechischer Kunstgeist darstellt, nie vergessen. Da ist auf den christlichen Gräbern das Kreuz

Gadamer -Der Tod als Frage202.11.2018und später der Bibelspruch, beides verweisend auf die Gemeinde der Heiligen, beides ver-bürgend, daß der Verstorbene lebt und zu allen anderen gehört. Oder die Gräber im islami-schen Raum, geometrische Ornamente, die kaum das Einzelgrab gegen ein anderes Grab abheben.Nichts von Individualität, Nameoder Rang, Lebensgang oder Familie ist kenntlich. Es erinnert an die durch die arabische Philosophie wohlbekannte Aristotelesdeutung von dem Allgeist, der Allseele, in die der Einzelne eingeht. Und dennoch vertrauen die Frauen von Marrakesch diesen Gräbern ihre geheimsten Wünsche und Gebete an. Wenn es sich nicht gerade um Herrschaftsgräber handelt, sind Grabstätten im Islam überhaupt ohne jede Denk-spur von dem, was war. Was sagen uns all diese Gräber? Sind das Antworten auf die Frage, was der Tod ist? Oder sind es Antworten auf diese Frage, die sagen wollen, daß der Tod nicht ist oder n ich t sein sollte? Sind es Antworten, die den Tod nicht wahrhaben wollen? Aber er ist. Was ist er? Und wir wissen es doch: woher und wieso?Was heißt Wissen um den Tod? Sicher ist, was aus der im Dämmer derUrzeit sich verlieren-den Spur der Gräberfelder dieser Erde spricht, eine echte Auszeichnung des Menschen. Um den Tod zu wissen, scheint dem[163] Menschen ebenso eigen, wie, daß er denken kann. Man sagt zwar, daß Tiere um ihren Tod wissen, sich verbergen, dem Anblick aller entziehen, und daß sie ahnen, wann esan der Zeit ist, das zu tun. Aber ist, was wir darin erkennen, ein wirkli-ches Wissen und nicht nur der Reflex auf eine menschliche Frage? Ist es nicht mehr eine Art von Mahnbild, das wir in die Frage fassen können: Wissen auch wir den Tod so anzunehmen?Fragen wir uns: Wie kommt dasWissen um den Tod auf? Und kommt es auf? Hat nicht die Lebensgewißheit einen herrscherlichen Primat und wird die Todesgewißheit nicht immer von außen,nur durch direkte oder vermittelte Erfahrung, an den erwachenden Menschen herange-tragen? Wie kommt es zum Erwerb dieses Wissens beim Kinde –und was ist es für ein Wis-sen, daß schließlich der Dichter sagen kann: Tu sais, Du weißt? Ich zitiere nicht umsonst ein Gedicht von Gottfried Benn –einem Zeugen der äußersten Skepsis. Ich frage im Gegenteil: Weiß das Kind sein Wissen? Weiß irgend jemand von uns, was er weiß, wenn er weiß, daß er sterben muß? Ist unser Fragen nach dem Tode nicht immer und notwendig ein Verdecken des-sen, was man weiß, ein Verdecken von etwas Undenkbarem, dem Nichtsein?Wenn wir diese Perspektive recht ernst nehmen: Ist der Grabkult am Ende auch ein solches Verdecken, indem er eine sinnliche Gegenwart aufbietet –wie jenen Knochen, um mit Hegel zu sprechen, um den die opferreichen Züge zum Heiligen Grabe, die Kreuzzüge, gingen? Geht es überall darum, nur das Nichtsein nicht denken zu müssen? Ist selbst der Ahnenkult der großen ostasiatischen Kulturen ein Nicht-Sein-Lassen des Todes, sofern man sich selbst in ein kollektives Sein zurückkehren sieht? Und wie ist es in unserer christlichen Tradition mit dem Wiedersehen, mit dieser unausrottbaren, natürlich scheinenden Erwartung, daß etwa,was Mutter und Kind in frühen Lebensjahren aneinander bindet, auch durch die Gewißheit des Sterbenmüssens nicht hinfällig werden kann? Muß das nicht bleiben, die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit denen, zu denen man gehörte?Schon der griechische Hades hatZüge von solchem Wiedersehen. Selbst Sokrates spricht am Schluß der Apologie davon, wie er sich darauf freut, in den Hades zu kommen, weil dort die großen Helden dermythischen Tradition Griechenlands ihn empfangen werden und er Gele-genheit haben wird, diese Menschen zu fragen, was die wahre Tugend sei. Und wenn sie es auch nicht wissen –und sie werden es auch nicht wissen –, sie werden ihn wenigstens deshalb nichtmehr zum Tode verurteilen… Und erst recht die christliche Vorstellung vom Paradies oder vom Himmel, der der Himmel des Wiedersehens ist. Sind das am Ende alles Weisen, das Nichtsein nicht denken zu wollen?Das sind Fragen, denen sich die Philosophie auf ihre Weise stellen muß. Denn ihre Aufgabe

Gadamer -Der Tod als Frage302.11.2018ist, das wissen zu wollen, was man so weiß, ohne es zu wissen. Das ist eine genaue Definition dessen, was Philosophie ist, und eine[164] gute Beschreibung für das, was Plato zuerst er-kannt hat, nämlich daß das Wissen, um das es hier geht, Anamnesis, ein aus dem Innern Her-aufholen und zum Bewußtsein Erheben ist. fragen wir also, was man weiß, ohne es zu wissen, wenn man um den Tod weiß. Was hat die philosophische Tradition, in der wir stehen, dazu zu sagen? Ist etwa auch an diese Denkversuche die f rage zu richten: Sind sie Versuche zu wis-sen, oder sind auch sie noch Weisen, nicht wissen zu wollen, was man weiß?Da ist die Schattenhaftigkeit der Seelenwesen im Hades der homerischen Religion –eine beklemmende Traurigkeit. Wie sich andere Seelenkulte von dieser episch-mythischen Über-lieferung abheben und schließlich das Denken der Wissenschaft und der Philosophie anhebt, wenn –bei Pythagoras zuerst –im Zusammenhang der Seelenwanderungslehre in der Wieder-kehr der Verkörperungen Anamnesis, Sicherinnern auftritt, welche Denkgriffe –man kann sieauch Begriffe nennen –werden hier vorbereitet? Es sind zwei griechische Worte, die hier den Weg weisen können, Ausdrücke für ›Leben‹. Das eine ist Zoe, das andere Bios, beides Aus-drücke, die im Deutschen in Fremdworten weiterleben. Beide bedeuten oft das gleiche. Beide Worte, Zoeund Bios, meinen gegeneinander gravitierende Begriffe, die sich oft ineinander verschlingen und die doch, schon im Sprachgebrauch, verschiedene Bedeutungsrichtungen anklingen lassen. Zoeist klar dem entgegengesetzt, was keine Zoehat, das heißt dem, was nicht lebendig ist. Was es auszeichnet, ist Psyche, Seele. Im griechischen Denken meint das Dasein von ›Seele‹, daß ein solches Seiendes durch Lebendigkeit ausgezeichnet ist. ›Leben-digkeit‹ist hier wie eine Art Atem und bezeugtsich in Selbstbewegung. Leben in diesem Sin-ne von Lebendigkeit ist in immer neuen Exemplaren von Lebendigem verkörpert. So ist Zoevon vornherein frei von dem, was wir Individualität nennen würden. Was wir im Sinne von Zoelebendig nennen, meinen wir nicht als das bestimmte Einzelne, sondern allein in seiner Auszeichnung gegenüber der unbelebten Natur oder der Abgelebtheit des Totseins.Wenn dagegen ein Wesen in der besonderen Weise seiner Lebendigkeit gemeint ist, reden wir von Bios. Das gilt überall, wowir eine bestimmte Lebensweise meinen, also auch von Tieren. Es gilt aber im eminenten Sinne vom Menschen. Er ist ein Lebewesen, das sich als lebendig weiß. Er ist damit in einem ganz neuen Verhältnis zu seiner eigenen Lebendigkeit. Darin liegt, daß er wählt und durch sein Wählen –und am allermeisten durch sein unbewußtes Wählen –über sein Leben entscheidet. So ist der Biosdas Leben, das man führt und durch das man sich von allem anderen, das auch lebendig ist, durch seine Lebensweise und insbesondere seine eigene Lebensgeschichte und sein eigenes Lebensschicksal unterscheidet. Sofern in diesem Begriff des Lebendigen ein Neues, das Sich-Wissen, impliziert ist, betreten wir damit den eigenen Boden griechischer Denküberlieferung. Dieser Begriff[165] von Psycheist seit Heraklit mit dem Leitbegriff des Logos, des Wissens und Wissen-Wollens, des Ergründen-Wollens, verknüpft. Der Denkversuch, der hier einsetzt, stellt über das Allgemeine der Leben-digkeit, zu der das Totsein vielleicht wirklich als die andere Seite desselben gehört, das Wis-sen um das eigene Leben und den eigenen Tod, und es erscheint als Problem, daß für solches ›gewußtes‹Leben die andere Seite, das eigene Nichtsein, unfaßlichist.Diese Geschichte ließe sich bis in die Begriffe der platonischen und aristotelischen Philoso-phie hinein verfolgen. Es ließe sich zeigen, wie die Deutung der Lebendigkeit auf das Sich-Wissen hin schließlich zu der Lehre von der Idee oder zu der Lehre von dem Nouswird, dem ständig Gegenwärtigen und von dem Vergegenwärtigenden. Wie die Helle des Tages unsere sichtbare Welt in ihrer Farbigkeit möglich macht, so ist es diese innere Helligkeit, durch die alles Seiende im vergegenwärtigenden Denken, im Bewußtsein, seine Artikulation gewinnt. Man müßte auch von den späteren Formen antiken Denkens sprechen, etwa von der stoischen Haltung gegenüber dem Tod, die sich auch im Sterbenmüssen auf den Einklang mit der Natur zu besinnen sucht, oder mit der epikureischen Kunst, das Phänomen des Todes zu einem

Gadamer -Der Tod als Frage402.11.2018Nichtsein herunterzuargumentieren.Doch scheint es wie die Summe aller solcher Denkversuche, was Platon im ›Phaidon‹, nach-dem eine große Zahl von Beweisen für die Unsterblichkeit der Seele aufgeboten wurden, den Zweifelnden sagen läßt: Aber da ist ein Kind im Menschen, das sich durch all diese Beweis-führungen immer noch nicht beruhigt fühlt. In der Tat ist keiner der Unsterblichkeitsbeweise, die wir im griechischen Denken finden, auch nur von Feme in der Lage, uns das zu sagen, was wir wissen wollen, wenn wir den Tod von dem her denken wollen, das wir als unser eigenes Leben wissen. Das Kind im Menschen hat recht, und die griechische Philosophie scheitert an der Frage, was der Tod ist.Das ist die große Perspektive, unter der das Christentum in die Welt trat. Novalis hat in seinen ›Hymnen an die Nacht‹dieses Neue dichterisch formuliert. Gewiß, das Griechenbild, das dort als Götterfest und Menschenfest gezeichnet wird und in der beständigen hellen Heiterkeit des Lebensgenusses sich auslebt, schöpft sicherlich nicht die Tiefe dergriechischen Kultur aus. Aber daß das griechische Denken den Tod nicht bewältigt hat, das ist von Novalis richtig gesehen worden –so sehr auch die griechischen Dichter an alle Tiefen des Todeswissens ge-rührt haben. Es war der Anspruch des Christentums, auf diese Frage nicht gerade eine Ant-wort zu wissen, aber eine Verheißung zu sein.Aber wir fragen uns: Wie hat die Philosophie dies Versprechen der Überwindung des Todes, das in der christlichen Verkündigung liegt, aufgenommen und diese Umwandlung des Todes ins Leben verstanden? Muß man[166] nicht sagen:Jeder Versuch des philosophischen Den-kens, die Umwandlung des Todes ins Leben zu denken, denkt nicht wirklich den Tod? Wir haben eine Fülle von großen, auch religiös bestimmten Denkzeugnissen, in der neuplatonisch gestimmten Mystik, in der negativen Theologie, im Denken des Nichts und der Entwerdung, durch die allein die unio mystica, die Einung mit Gott, gelingen kann, in denen diese Um-wandlung des Todes gedacht ist. So finden wir es auch in der Dichtung: bei Novalis die neue Wertung der Nacht, die nicht Entzug, Verdunkelung des hellen, genußreichen Tages ist, son-dern Grund und Ursprung einer höheren und geistigeren Helligkeit. Wir sehen, wie Goethe Liebe und Tod aneinanderrückt, das Außer-sich-Sein des Liebenden und das Außer-sich-Sein des Sterbenden, der den Tod erfährt. »Und solang Du dies nicht hast, dieses Stirb und Werde…«Aber liegt nicht selbst in diesem Ineinander von Stirb und Werde ein Versuch, den Tod nicht ganz ernst zu nehmen, sondern ins Begreifliche zurückzudenken, wofür in der Tat unsere Lebenserfahrung uns glänzende und faszinierende Metaphernständig anbietet?Es sind vor allem zwei Phänomene, diesich dem Denken immer aufdrängen, Schlaf und Traum. Der Schlaf ist von der inneren Gewißheit des wachen Selbstbewußtseins aus so wenig begreiflich wie der Tod. Die totale Veränderung des Habitus des Schlafenden, die völlige Unerreichbarkeit, die der Schlafende für uns hat, die wir ihm wachend nahen, scheint wie eine Art Vorgestalt der endgültigen Unereichbarkeit, mit der der Tote uns erschreckt. Und der Traum? Ist nicht die Traummetapher ein sprechender Ausdruck unseres Lebensgefühls, so daß der Dichter die Wendung »vom Lebenstraum umfangen« finden konnte? Heißt das nicht, daß unser Leben sich so sehr mit den Bildern seiner Imagination und Weltlichkeit ausfüllt, daß die Frage des Nichts, die Frage, die über die eigene Lebensgewißheit hinausgeht, nicht mehr ge-fragt wird?Wieviel auch mit den beiden Todesmetaphern von Schlaf und Traum eingefangen sein mag, beide haben jedenfalls die eine entscheidende Gemeinsamkeit, daß sie auf ein Erwachen bezo-gen sind. Zu allem Erwachen gehört aber wesentlich das Wiedereinschlafen und das Wieder-träumen und das Wiedererwachen. So wird dieTodeserfahrung von solchem Denken in die Zoe, in die Erfahrung des Lebens zurückgedacht, das sich gegenüber dem Tode in seinem

Gadamer -Der Tod als Frage502.11.2018beständigen Kreislauf von Reproduktion selbst erhält, ohnedaß das einzelne Lebendige sich in seinem eigenen endlichen Sein wissen müßte. Aber istdas Überwindung des Todes? Der ganze Denkversuch der Philosophie scheint nichts weiter als ein Nicht-Wahrhaben-Wollen des Todes zu sein.So fragen wir erneut: Was wissen wir, wenn wir den Tod denken? Hiermuß eine methodische Erwägung einsetzen, deren Ernst man gar nicht genug unterstreichen kann. Ist das überhaupt sinnvoll zu meinen, daß wir[167] die Frage, was der Tod ist, im Ernst fragen? Ist nicht am Ende gerade für diese Frage zerstörerisch, was am Ende für alle Fragen des Menschen gilt, daß sie nämlich auf dieLebensgewißheit des Menschen bezogen bleiben, und muß nicht der Todesgedanke einen letzten existentiellen Unernst behalten, weil er vom Lebendigen ertragen wird? Ein Todesgedanke, der mich weiterleben läßt, scheint nicht viel anders als und nicht wesentlich unterschieden von all den anderen Lebensräumen, die wir träumen und in denen wir befangen sind, solange wir leben. Es scheint hier eine sich ausschließende Abstoßung zu bestehen, die Tod und Gedanke auseinanderhält. Das Denken des Todes scheint ihn bereits in etwas, was er nicht ist, umzuwandeln. Vielleich t ist das nur eine methodische Aporie und in Wahrheit eine Antwort? Vielleicht ist die Frage: was ist der Tod? nicht nur fragwürdig, son-dern ist zugleich in gewissem Sinne die Antwort auf diese Frage selbst, weil sie sie fragwür-dig macht.Nehmen wir das Beispiel eines großartigen tiefsinnigen Mythos, den Prometheus-Mythos, wie er im Drama des Aischylos geschildert ist. Die Geschichte ist bekannt: Prometheus ist am Kaukasus angeschmiedet, der Geier frißt ihm seine Leber –in den Elternhäusern meiner Generation war das noch in Kleinplastik zu sehen –und Aischylos bringt nun auf die Bühne, wie Prometheus bemitleidet wird. Der Reihe nach treten alle möglichen Sympathisanten auf, um ihm gut zuzureden, er solle endlich seinen Trotz gegen den übermächtigen Zeus aufgeben und sich seine Leiden ersparen. In diesem Zusammenhang beklagt sich Prometheus als sein eigener Anwalt über das gewaltigeUnrecht, das ihm von Zeus geschehen sei, der ihm soviel Dank schulde. Gewiß, er hat das Feuer vom Himmel gestohlen und den Menschen gebracht. Das steht nicht ganz so da, aber jeder weiß es, und jedenfalls hat er die Menschen den Feuer-gebrauch gelehrt –und Feuergebrauch ist ohne Frage eine der eindeutigen Auszeichnungen des Menschen vor allem sonst, was lebt. Aber in welchem Zusammenhang läßt das Aischylos den Prometheus sagen? Prometheus beginnt damit, daß er ein unendliches Verdienst um die Menschen habe. Denn er habe bewirkt, daß sie ihren Tod nicht wissen. Gemeint ist offenkun-dig, daß sie nicht wissen, wann sie sterben müssen. Und nun fahrt Prometheus fort: Damit habe ich ihr ganzes Leben verwandelt, indem ich ihnen beigebracht habe, die Gestirne zu beobachten, indem ich sie die Zahlen gelehrt habe, Handwerk und Technik und so weiter, kurz, für alles, was die Menschen können, habe ich das Entscheidende geleistet; so habe ich mich um die Menschen verdient gemacht.Mythen sind, auch wenn man sie wie Algebra addiert, immer noch unenträtselbare Dinge, die uns etwassagen. –Die offene Frage ist: Wie hängt das beides zusammen, die Verhüllung des Todeswissens und die neue Kunstfertigkeit? Man kann dem kaum ausweichen, beides zusam-menzudenken. Aischylos sagt nichts darüber, wie Prometheus den Menschen ihre Sterbens-[168]gewißheit und Sterbensstunde verborgen hat. Geschah es nicht eben dadurch, daß er ihr Denken in die Ferne wandte, indem er ihnen dazu verhalf, dauernde Werke ihrer planenden Arbeit zu schaffen? Das wäre ein Zusammenhang von Wissen und Nichtwissen, ein Zusam-menhang zwischen dem Todesgedanken und dem Fortschrittsgedanken, der freilich von Ais-chylos nicht ausgedeutet, sondern nur irgendwie nahegelegt wird. Und sicherlich hat Aischy-los noch etwas ganz anderes im Sinne, wenn er die ganze ruhmselige Rede des Prometheus damit verknüpft, daß Prometheus aus Liebe zu diesen armen Geschöpfen, den Menschen, die Leiden, die ihm auferlegt sind, auf sich geladen hat. Dieses Motiv ist so ausgearbeitet, daß das

Gadamer -Der Tod als Frage602.11.2018byzantinische Christentum das Drama des Aischylos mit Verwendung von nur aischyleischen Versen in ein christliches Drama des Christus patiensumdichten konnte.Indessen, die Symbolfigur menschlicher Selbsthilfe, die der aischy1cische Prometheus dar-stellt, fand ohne Zweifel im Ganzen der aischyleischen Trilogie ihre Begrenzung und ihre Versöhnung mit der Herrschaft des obersten Gottes. Und so fragen wir erst recht: Was steht hinter der seltsam rätselhaften mythischen Überwindung der Todesgewißheit durch Zukunfts-gläubigkeit? Ich möchte die Richtung, in der ich die Antwort suche, durch den Begriff der Transzendenz des Lebens ausdrücken. Das ist ein Ausdruck von Georg Simmel. ›Transzen-denz des Lebens‹heißt, daß das menschliche Leben seinem eigenen Wesen nach sich selbst übersteigt. Danach ist der Maßstab fraglich,unter dem unsere Aporie stand. Obwohl der Gedanke des Todes noch ein ertragener Gedanke ist, gibt es kein Verdecken des Todes durch die Sicherheit unserer Lebensgewißheit. Es ist nicht gerade für das menschliche Leben cha-rakteristisch, daß es über seine Lebendigkeit und die instinkthafte Erhaltung seiner Lebendig-keit beständig hinausgeht –ins Maßlose wie ins Selbstlose. Selbst das Labyrinth des Selbst-mordgedankens, in dem so manches allzu gespannte Leben untergeht, bezeugt dies indirekt. In sich selbstverstrickt, über sich selbst nicht hinausgehend, löscht sich das Leben selbst aus.Ist Leben des Menschen nicht im wahrsten Sinne des Wortes einbeständiger Überfluß, so daß die Lebensquelle, die jeder einzelne ist, überfließt? Man denke an das berühmte Gespräch, das Goethe mit Falk nach der Beerdigung seines Dichterfreundes Wieland geführt hat. Goethe setzt dort auseinander, warum er sichnicht denken könne, daß mit dem Tode das Leben ganz zu Ende sei. Und er beruft sich darauf, daß er sein eigenes Lebensbewußtsein immer, wenn ich michjetzt in einer Formel ganz kurz ausdrücke, als ein Überschußphänomen erfährt und daß, solange Leben diesen Charakter des Überschußphänomens hat –nun drückt sich Goethe sehr geheimrätlich aus –, die Natur verpflichtet sei, uns für diesen unseren Seinsüberschuß neue Möglichkeiten zu gewähren. Wieviel Ernst und wieviel Spiel in diesem Goetheschen Gespräch ist, wage ich nicht zu entscheiden.Es gibt andere Instanzen, die die Transzendenz des Lebens bezeugen und[169] den Gedanken widerlegen, als müßte sich Leben von seiner eigenen Lebensgewißheit lösen, wenn es über sich selbst hinweggeht. Ich denke etwa an den Gedanken des Opfertodes und insbesondere auch an das Glaubensopfer, an den Märtyrer. Aber ob wir als Menschen je in der Lage sind, uns darauf berufen zu können? Wir können uns nicht verbergen, daß, was sich so bekundet, auch noch eine Weise des Lebensüberschusses sein kann und sich daher auch in dem wilden Eifer, Märtyrer zu werden, erfüllen kann oder in demOpfer, das in Wahrheit eine Flucht ist. Esbleibt eine innere Zweideutigkeit indem Anspruch, daß das echte Nachfolge Christi ist, was sich in solchen Phänomenen bekundet. Niemand wird sagen wollen, daß sie es nicht ist und daß das Opfer des eigenen Lebens nicht wirkliches Opfer sein kann. Aber man muß umgekehrt zugeben,daß es uns nicht zusteht uns über die Zweideutigkeit unserer eigenen Lebensgewißheit zu erheben.Es gibt ein Gedicht eines modernen Dichters, Paul Celan, das die Überschrift hat.›Tenebrae‹. Die Überschrift spielt klar auf die Verdunkelung an, die über die Welt kam, als Jesus am Kreuz hing und er seine letzten Worte sprach: »Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?«Der moderne Dichter wagt, dieses biblische Zeugnis neu zu interpretieren:Nahe sind wir, Herr,nahe und greifbar.Gegriffen schon, Herr,ineinander verkrallt, als wär

Gadamer -Der Tod als Frage702.11.2018der Leib einesjeden von unsdein Leib, Herr.Bete, Herr,bete zu uns,wir sind nah.Windschief gingen wir hin,gingen wir hin, uns zu bückennach Mulde und Maar.Zur Tränke gingen wir, Herr.Es war Blut, es warwas du vergossen, Herr.Es glänzte.[170]Es warf uns dein Bild in die Augen, Herr.Augen undMund stehn so offen, Herr.Wir haben getrunken, Herr.Das Blut und das Bild,das im Blut war, Herr.Bete, Herr.Wir sind nah.Das Ungeheure dieses Dichtungsgedankens ist, daß der Dichter ohne Zweifel sagen will: Wenn Jesus in der Lage des Sterbenden Gott anruft, kann das nicht helfen. Denn Gott kennt den Tod nicht, von dem wir alle wissen. Das klingt wie eine blasphemische Umdeutung der Passionsgeschichte –oder kann man in einer letzten Vertiefung gerade umgekehrt sagen, daß diese Deutung ganz nahe an der spezifisch christlichen Botschaft ist, die im Kreuzestod des Menschensohnes eine Botschaft für alle verkündigt? Die dichterische Wendung, die hier ein moderner Dichter wagt, spiegelt jedenfalls, daß ein Wissen, von dem aus der Tod begreiflich und erträglich würde, niemals unterstellt werden darf. Das gerade sind›wir‹. Das Leiden des Todes ist jedem schon eingegeben. Hier ist ein innerer Zusammenhang zwischen der Schwä-che des Menschen und der Erfahrung des Todes gesetzt. Daß Jesus am Kreuz sich verlassen fühlt, ist sozusagen die Vorform oder das Paradigma für die Verlassenheit aller Menschen. So sind Lebensangst und Todesangst ineinandergeschlungen, und die Flucht vor sich selber, die aus aller Angst ständig aufspringt, so daß man das weit hinter sich lassen will, vor dem man sich ängstet, ist in der Erfahrung des Kreuzestodes Jesu in einer symbolischen Gebärde zu-sammengefaßt. Jesus stellt diese Frage –ein Jesaja-Zitat –im Erleiden des Todes, obwohl er in dem Gebet am Ölberg den Willen des Vaters dem seinigen, dem kreatürlichen,vorgeordnet und den Tod angenommen hatte. Auch die Opferbereitschaft ist noch eine Möglichkeit der eigenen Lebensgewißheit.Wir haben in unseren Überlegungen die großen Denkmale der Bedeutung des Todes für das menschliche Selbstbewußtsein aufgerichtet, die der Totenkult darstellt, aber auch die Denk-versuche, die es mit der Erfahrung des Todes aufnehmen wollen, in ihrer Begrenztheit gezeigt. So ergibt sich am Ende die These: Es gehört zur Denkerfahrung des Todes, daß sie

Gadamer -Der Tod als Frage802.11.2018stets hinter sich zurückbleibt, daß sie nur im Wegdenken von ihm, im Stehen in der eigenen Lebensgewißheit sozusagen eine Spur von ihm erfaßt. Das für das Denken eine angemessene Weise, über den Tod zu denken, bleibt,[171] scheint nichts anderes, als die Angst selber zu denken, oder besser, die Angst selber als Denken zu erkennen.Was ist Angst? Was ist dies Getriebensein und Außer-sich-Sein des Daseins in der Angst? Wovor hat es Angst? Heidegger hat es sehr eindrucksvoll geschildert: vor nichts. Und gerade die Unheimlichkeit, vor nichts Angst zu haben, ist die wahre Angst. Angst ist wie ein Sich-heraus-Denken aus allem Seienden, aus allem, woran man sich halten kann, ins Nichts. So schließt sich in der Angst des Lebens und des Todes und nicht im Überdenken und Wegden-ken der Ängstigenden die Erfahrung des Todes mit der eigentlichen Bestimmung des Men-schen, Denkender zu sein, zusammen. Denn was ist Denken? Es ist Abstandnahme, es ist Herausgelöstsein aus den Instinkt-Zügen des natürlichen Lebens. Es ist insofern eine Art von Freiheit –nicht die Freiheit, die wir genießen, unser Verhalten in Willkür ändern zu können, sondern eine Freiheit, die wir, auch wenn wir es möchten, nicht von uns abwenden können.Die These ist nun: Die Freiheit des Denkens ist der wahre Grund dafür daß der Tod eine not-wendige Unbegreiflichkeit hat. Es ist die Freiheit, daßich hinausdenken kann und muß, daß ich von mir wegdenken kann und muß, daß ich die innere Aktuosität meinesDenkend-Seins beständig extrapolieren muß. Niemand ist hier, der auf die Frage eine Antwort hat: Wie soll ich das verstehen, daß ich, in dem jetzt in diesem Moment eine denkende Bewegung da ist, einmal nicht bin? So scheint das Denkend-Sein der Grund für die Unbegreiflichkeit des Todes zu sein und zugleich das Wissen um diese Unbegreiflichkeit zu enthalten.Guardini hat einmal gesagt, der Tod seidie ontologische Ehre des Menschen. In der Tat, Ehre ist vor allem dies, daß man auf sich hält. Sie ist nicht eine Auszeichnung, auf die man auch verzichten kann. Und es ist wahr. eine solche Auszeichnung, auf die man nicht verzichten kann, ohne die man nicht leben kann, ist für den Menschen der Tod. Das heißt offenbar, daß wir im Unterschied zu allem anderen Lebendigen dies als Auszeichnung haben, daß der Tod für uns etwas ist. Die ontologische Ehre des Menschen, das, worauf er unbedingt hält und was ihnsozusagen vor der Gefahr bewahrt, sich und damit auch sein eigenes Frei-Sein-Können zu verlieren, besteht darin, daß er sich die Unbegreiflichkeit des Todes nicht verdeckt.Märchen sind wohl das früheste, was ein Kind berührt und an dem eszum erstenmal ahnt, was der Tod ist. Da ist das Märchen von dem Haus, in dem die Kerzen aller Lebenden brennen. Der Besucher dieses Hauses, der staunend und bang sich umblickt, fragt am Ende auch nach seiner eigenen Lebenskerze –und erschrickt. Was auch ein Märchen im einzelnen weiß –das Herabbrennen der Lebenskerze ist jedenfalls ein ehrwürdiges und treffendes Symbol für das menschliche Leben und seine Spanne, weil daran die Endlichkeit und Vergänglichkeit unseres Daseins symbolhaft gegenwärtig ist.[172] Das Erschrecken im Anblick der eigenen Lebens-kerze ist wie ein Aufflackernder innersten Angst, die mit der Lebensgewißheit gegeben ist.Aber es ist noch etwas anderes, was das Symbol der Lebenskerze uns darstellt –und das ist eben das Flackern der Kerze. Während eine ruhig herabbrennendeKerze, von dem Wind der Zeit hin-und herbewegt, zwischen Verdunkelung und neu ansteigender Helligkeit hin-und herschwankt, scheint das Flackern der verlöschenden Kerze zuweilen noch ein klein wenig mehr Helligkeit zu verbreiten als das der ruhig abbrennenden: Die Unbegreiflichkeit des Todes ist der höchste Triumph des Lebens.

Hans Georg Gadamer, Gesammelte Werke, Bd. 4: Neuere Philosophie II –Probleme Gestalten, Tübingen: J.C.B. Mohr (PaulSiebeck) 1987, Seiten 161-172.

März 2021 | In Arbeit | Kommentieren