Am 14. September 1321 starb der Florentiner Dante Alighieri im Exil in Ravenna.Warum also heute ein Beitrag über Dante? Im vergangenen Jahr wurde in Italien der 25. März als Dantetag eingeführt. Seitdem soll an diesem Datum an Italiens größten Dichter erinnert werden. Warum am 25. März? An diesem Tag, einem Karfreitag des Jahres 1300, soll er seine Reise durch Hölle, Fegefeuer und Paradies angetreten haben. Dante liebt das Spiel mit den Zahlen. Sein großes Gedicht, die „Göttliche Komödie“, beginnt mit den Worten: „In der Mitte unseres Lebenswegs kam ich zu mir in einem dunklen Wald. Der rechte Weg war da verfehlt.“ (Übersetzung: Kurt Flasch). Da ein Geburtsdatum nicht überliefert ist, schloss man schon früh aus dieser Angabe, Dante sei 1265 geboren worden. Überliefert ist ein Taufdatum, ein Karsamstag, der 26. März. Getauft wurde er übrigens auf den Namen Durante, der schon bald zu Dante zusammengezogen wurde.
Womit wir schon mittenmang drin sind in der Lebensleistung Dantes. Italien preist ihn als einen von denen, die die Landessprache zu den Höhen großer Literatur geführt haben. Er hat sich gewissermaßen die Sprache für sein Werk erschaffen. Aus dieser Sprache wurde die seiner Leser und dann die Italiens. Das ist verkürzt. Niemand würde es heute so sagen, aber vor sechzig Jahren wurde es so jedem italienischen Schulkind erzählt. Dabei wusste dieses Kind, dass es Dante nicht verstand. Es musste seine Texte entziffern. Die „Göttliche Komödie“ – und nicht nur die Schulausgaben – waren gespickt mit Anmerkungen, die nicht nur einzelne Wörter erklärten, sondern dem modernen Leser auch halfen, sich Wege durch Dantes Syntax zu schlagen. Aber es war Italienisch, kein Latein.
Hier wurde auf höchstem philosophisch-theologischem Niveau über Gott und die Welt gesprochen. In „volgare“, in der Sprache des Volkes also. In der Sprache also, die unsere Eltern sprachen, als sie uns zeugten, die Sprache, in der wir aufwuchsen, in der unsere Gefühle sich zuerst artikulierten. Daneben gibt es die Sprache, in der wir sie verstehen lernen, die Sprache der Wissenschaft, die uns sagt, wie die Welt ist und wie sie sein soll.
Wir denken, wenn wir das lesen, zu Recht an den Zwiespalt von Muttersprache und Latein. Aber das greift zu kurz, will man das Italien, will man die Lage des Italienischen im 13. Jahrhundert verstehen. Der Feldzug gegen die Katharer im südfranzösischen Okzitanien (1209–1229), hatte große Teile der Provence vernichtet und viele der provenzalischen Troubadours an fremden Höfen Unterschlupf suchen lassen. Diese exilierten Autoren halfen vielerorts in Europa den muttersprachlichen Dichtern auf die Sprünge. Italien war ein Nachzügler dieser Entwicklung. So sehr, dass man sagen kann: „Die erste muttersprachliche Kunstlyrik Italiens wurde auf Provenzalisch geschrieben.“ Brunetto Latini, ein Lehrer und Freund Dantes, schrieb seine „Livre du Trésor“ genannte Enzyklopädie auf Französisch. Nicht nur, weil er sie im französischen Exil publizierte, sondern auch, weil er wusste, dass sie auf Französisch mehr Leser finden würde.
In Italien waren mit Blick auf die provenzalischen Vorbilder muttersprachliche Texte zunächst Liebesgedichte gewesen. Wie die Troubadoure, so besangen die Dichter Italiens auch erfundene oder reale Frauen, hoben sie in den Himmel und überschütteten sie mit Metaphern.
Nichts anderes geschieht in Dantes „Göttlicher Komödie“. Wir haben keine Ahnung, ob es die von dem Autor besungene Beatrice jemals gegeben hat. Aber wir wissen, dass ihm – wie seinen Vorbildern – sehr viel daran lag, neben der Entfaltung aller Künste der Beredsamkeit auch eine Wärme der Empfindung herzustellen, die der imaginierten Adressatin, vor allem aber allen Leserinnen und Lesern den Atem rauben sollte. Man übersieht dabei gerne einen wichtigen Unterschied: Die Troubadours waren Popsänger, von deren Meisterwerken uns nur noch der Text erhalten ist, Dante aber zielte darauf, dieselbe Wirkung zu erreichen – ohne Musik. Er fühlte sich stets im Wettbewerb. Ihm ging es ums Übertrumpfen. Das Unmögliche war sein Element.
In der muslimischen Tradition gibt es den Bericht von Mohammeds Himmelsreise. Nein, es gibt Berichte, Kommentare, und es gibt seit den 60er Jahren des 13. Jahrhunderts Übersetzungen ins Lateinische und Italienische. Der spanische Arabist Miguel Asin Palacios veröffentlichte 1919 eine umfangreiche Studie, in der er die These vertrat, Dante habe den alten arabischen Text gekannt und ihn benutzt. Die meisten Dantisten betrachteten das als ein wildes Fantasieprodukt. Sie sahen den Einzigartigkeit ihres Helden infrage gestellt. Aber man täte Dante Unrecht, unterschätzte man seinen sportlichen Ehrgeiz. So wie er die provenzalische Dichtung hat alt aussehen lassen, so könnte er auch davon geträumt haben, die muslimische Himmelfahrt durch seine christliche zu übertrumpfen.
Die mehr als 14 000 Verse umfassende Dichtung will die Brücke schlagen über 1300 Jahre zu Vergils „Aeneis“. Ein solches Werk braucht ein riesiges Ego. Und eine Versfabrik, die ein Personal von mehr als 600 Personen durch ein Terzinengitter schütteln kann, so dass jedes Mal klar ist: Gehörst du zu den Guten oder zu den Bösen. Die bloße Bereitschaft, Bekannte und Verwandte in Höllenkammern und Fegefeuerabteilungen einzuweisen, große Geister und Herrscher, über die einem fast nichts bekannt ist, abzukanzeln, würde für ein solches Werk nicht genügen. Hier bedarf es der Lust. Der Lust am Urteilen und am Verurteilen. Die wohlwollende Lektüre des Meisters stürzt sich auf Francesca da Rimini und ihren Liebhaber Paolo und malt die Szene, wie die beiden über einem Buch und den in ihm beschriebenen Liebesempfindungen einander in die Arme fallen. Jedem Leser bereitet das Vergnügen. Aber warum verdammt noch mal landen die beiden in der Hölle? Dante fragt danach und ist voller Mitleid für sie.
Das ist eine große Stelle. In einem apokryphen Text des Neuen Testamentes sagt ein Jünger, er habe Mitleid mit den Verdammten. Diesen Satz gibt es im ganzen Neuen Testament nicht. Er ist verpönt. Dante sagt ihn. Es war Gottes Entscheidung, die beiden in die Hölle zu schicken. Dante ist mit ihr nicht einverstanden. Die Kritik gewinnt an Schärfe, wenn man daran denkt, dass es ja nicht Gott war, der Paolo und Francesca in die Hölle schickte, sondern der Dichter Dante Alighieri, der es offenbar nur tat, um Gott daraus einen Vorwurf zu machen.
Das Jenseits ist eine merkwürdige Welt. Es gibt von ein paar mythologischen Wesen und abgefallenen und aufgestiegenen Engeln abgesehen dort nur Menschen. Die ganze weite Abschaffung ist abgeschafft. Kein Baum blüht, kein Lebewesen. Es ist eine – sagen wir es ruhig – Bürolandschaft. Alles zweckgemäß eingerichtet. Es ist viel geschrieben worden über den Läuterungsberg zum Beispiel. Aber was ist mit Innenräumen? „Ein Zimmer für sich allein“? Gehört das zum himmlischen oder zum höllischen Interior Design?
Und noch etwas fällt auf. Von Beatrice ist viel die Rede. Im Lauf der Wanderung wird sie zur Philosophin und zu Maria. Ganz die Hochstilisierung der angebeteten „Herrin“, wie sie in der Troubadour-Dichtung Mode war. Aber Dantes Gattin, seine Söhne kommen nicht vor. Sie interessieren nicht. Bis zur Entdeckung des Ehelebens als eines Wegs zur Seligkeit musste wohl auf Luther und die Reformation gewartet werden.
Dantes Neugierde war immens. Aber sie schweifte nicht. Sie war gerichtet auf sein Werk oder auf die jeweiligen Werke, an denen er arbeitete. Man kann das sehr schön daran sehen, wie er Odysseus im 26. Gesang der Hölle auftreten lässt. Der italienische Humanismus prägte ein, zwei Jahrhunderte nach Dante den Begriff „ulissismo“ für eben jene umtriebige Art Neugierde, in der von da an das Abendland sich gerne wiedererkannte. Bei Dante hat Odysseus einen gar nicht so kurzen Auftritt, in dem er von seinem Versuch erzählt, durch die Meerenge von Gibraltar durchzustoßen. Ein Wirbelsturm erfasste sein Schiff, erzählt er, „und dann schlug über uns das Meer zusammen.“ (Übersetzung: Hartmut Köhler). Ein abrupter, dramatischer Schluss, der seine Wirkung bis heute nicht verfehlt.
Dantes Jenseitsreise, wohl geschrieben zwischen 1307 und 1320, sollte man an die Seite stellen einen anderen Reisebericht. Den des Marco Polo. Der venezianische Geschäftsmann (1254–1324) hatte einen Gefängnisaufenthalt (1298–1299) und die Unterstützung eines Verfassers von Ritterromanen genutzt, um seinen französisch (wieder einmal!) geschriebenen Weltbestseller „Das Buch von den Wundern der Welt“ zu schreiben. Das ist das Gegenprogramm zu Dantes seherischer Jenseitswanderung. In beiden mischen sich Dichtung und Wahrheit, Glaube und Zweifel. Aber so richtig es ist, von Dante als vom „Dichter der irdischen Welt“ zu sprechen, so ganz und gar unsinnig wäre es, seinen prophetischen Anspruch, sein religiöses Sendungsbewusstsein zu übersehen.
Die Wunder der Welt sind sein Thema nicht. Jedenfalls nicht in seinem Hauptwerk. Die „Abhandlung über das Wasser und die Erde“ ist ein Stück Kosmologie und Naturphilosophie. Die Natur ist eines der Wunder Gottes, aber diese Begeisterung am bunten Tand, mit der der venezianische Geschäftsmann auf Mongolen und Chinesen, auf die Völker, ihre Gebräuche und Gewerke blickt, die geht Dante ab. Es ist aber wichtig, bei dem einen an den anderen zu erinnern, sonst kommt man auf die Idee, es handele sich bei der religiösen Besessenheit Dantes um das Charakteristikum einer Epoche und nicht um etwas, das ihn auszeichnete.
Jetzt habe ich noch kein Wort über Ghibellinen und Guelfen verloren, keines darüber, warum Dante der Prozess gemacht wurde, warum er Florenz verlassen musste und warum er sich weigerte, als er die Chance dazu hatte, unter Auflagen zurückzukehren in seine Heimatstadt.
Aber zum heutigen Dantetag sei noch ein anderer Vergleich erlaubt. Der katholische Dichter T. S. Eliot veröffentlichte 1929 eine kleine Abhandlung über Dante. Die deutsche Übersetzung findet sich in dem Edition-Suhrkamp-Bändchen „Was ist ein Klassiker?“ Er erklärt darin zunächst, Dante sei leicht zu lesen. Das ist schon verblüffend genug. Aber er hat recht. Jedenfalls so wie er liest. Er setzt ihm Shakespeare an die Seite, vergleicht sehr genau einzelne Metaphern. Er tut das, weil das Alleraugenfälligste ihm wohl so selbstverständlich war, dass er es nicht eigens hervorheben wollte. Aber der Blick auf Shakespeare zeigt doch, wo unsere Schwierigkeiten bei Dante liegen. Shakespeares Amoralität, seine Schilderung dessen, was ist – auch das alles Einbildungen des Dichters! –, kommt uns doch Lichtjahre moderner vor als Dantes Bemühen, zu allem eine Meinung zu haben, alles vor den Richterstuhl seiner Moral zu ziehen. Das ganze Riesenwerk ist ja nur dazu da, um dem Dichter zu erlauben, dem Jüngsten Gericht vorzugreifen, Gottes Werk zu tun und die Guten ins Töpfchen und die Schlechten ins Kröpfchen zu schieben.