Vor 150 Jahren begann in der französischen Hauptstadt ein revolutionäres Projekt, das am Ende ganz Europa schockierte.
Mit genügend Pferden wäre vielleicht alles anders gekommen. In den frühen Morgenstunden des 18. März 1871 mangelte es auf dem Pariser Montmartre an Gespannen, um Kanonen abzuschleppen.
Die Nationalgarde, eine Art Bürgerwehr, hatte die schweren Geschütze auf der Anhöhe im Norden der Stadt gelagert, die französische Regierung aber wollte Paris entwaffnen. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion schickte sie deshalb 4000 Soldaten in Richtung Montmartre, ab drei Uhr morgens sollten sie dort die Kanonen behändigen. Die für den Abtransport nötigen Pferde jedoch liessen auf sich warten, und bevor der Coup hätte gelingen können, waren die Pariser auf den Beinen.
Empört strömten die Massen zusammen
Im bald herrschenden Chaos war ans Wegbringen der Kanonen nicht mehr zu denken, und anstatt auf die Menge zu schiessen, wie die Befehlshaber es forderten, verbrüderten sich viele Soldaten mit den Parisern. Am Nachmittag wurden sodann zwei Generäle vom Volk getötet, und der Aufruhr wuchs beständig weiter – bis am Abend war die nationale Regierung mit sämtlichen Ministern und Beamten aus der Stadt geflohen. In den zentralen Gebäuden installierten sich Nationalgardisten, die alsbald städtische Wahlen ansetzten: Am 26. März bestimmten die Pariser an der Urne einen 92-köpfigen Stadtrat, und dieser «Rat der Kommune», in dem zahlreiche einfache Arbeiter mitwirkten, regierte Paris autonom bis Ende Mai.
Natürlich ist die Pariser Kommune nicht einfach auf ein paar fehlende Pferde zurückzuführen. Aber die Wirren und die Kontingenz zu betonen, die den 18. März 1871 prägten, kann helfen, die darauffolgende Phase unbefangen zu betrachten.
Schon kurz nach dem Ende der Kommune hat Karl Marx die Pariser Ereignisse als Resultat des Klassenkampfes interpretiert, Friedrich Engels sprach gar von der ersten «Diktatur des Proletariats», die sich 1871 in Paris gezeigt habe. Lenin wollte in der Kommune die «Keimform der Sowjetmacht» erkennen, und die Sowjetunion hielt die französische Episode später nur schon insofern hoch, als sie 1964 eine rote Fahne aus Paris auf einen Weltraumflug mitschickte. Lange hat so ein marxistisches Muster die Lesart bestimmt und bis zu einem gewissen Grad den Blick verstellt auf ein Ereignis, das nur aus der einzigartigen Konstellation seiner Zeit heraus zu begreifen ist. Am 18. Maerz 1871 erhob sich die Pariser Kommune – gegen
die franzoesische Regierung, den Monarchismus und die Kapitulation. Die 72 Tage des sozialrevolutionaeren Taumels endeten in einemm Blutbad.
Kein Geld fürs Elefantensteak
Der Aufruhr vom 18. März wäre schwerlich entstanden, wenn zuvor nicht der Deutsch-Französische Krieg die Pariser gebeutelt hätte. Im Juli 1870 hatte Napoleon III. den Preussen den Krieg erklärt. Nach raschen Niederlagen und der Gefangennahme des Kaisers wurde im September die Republik ausgerufen; der Krieg ging weiter, und Paris war fortan von den Deutschen belagert. Dabei verschlimmerte sich die Versorgungssituation in der Hauptstadt stetig. Die Nahrungsmittel wurden derart knapp, dass im Herbst Katzen und Hunde verspeist und Ende November gar die Tiere des Jardin des Plantes geschlachtet wurden. Ein Elefanten-, Känguru- oder Zebrasteak konnten sich die einfachen Leute freilich niemals leisten, viele hatten schon Mühe, ihre Mieten zu bezahlen, und mussten Wertgegenstände verpfänden.
Als die Regierung am 28. Januar 1871 einen Waffenstillstand mit den Deutschen schloss, war das für die Pariser ein erster Schlag ins Gesicht – nachdem sie sich monatelang durchgebissen hatten, empfanden sie die Kapitulation vor dem verhassten Feind als Demütigung. Wenige Tage später versetzte das Ergebnis der landesweiten Parlamentswahlen die überwiegend republikanisch gesinnte Stadtbevölkerung in Sorge: In der neuen Nationalversammlung verfügten die Royalisten über eine starke Mehrheit, also war zu befürchten, dass sich die junge Republik bald in eine Monarchie oder ein Kaiserreich zurückverwandeln würde.
Die Stimmung in der Hauptstadt verschlechterte sich weiter, als die französische Regierung den Preussen Anfang März ein Defilee über die Champs-Elysées gestattete, Versailles statt Paris zum Sitz der Nationalversammlung bestimmte und überdies noch entschied, zeitweilig gewährte Zahlungsaufschübe für Wohnungsmieten nicht länger gelten zu lassen. Der Umstand, dass die Regierung die Stadt entwaffnen wollte in diesem Moment, in dem der Unmut immer weiter stieg, erstaunt genauso wenig wie die Wut, mit der die bereits aufgebrachte Masse auf die geheime Aktion reagierte.
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Empört strömten die Massen zusammen
Natürlich ist die Pariser Kommune nicht einfach auf ein paar fehlende Pferde zurückzuführen. Aber die Wirren und die Kontingenz zu betonen, die den 18. März 1871 prägten, kann helfen, die darauffolgende Phase unbefangen zu betrachten.
Schon kurz nach dem Ende der Kommune hat Karl Marx die Pariser Ereignisse als Resultat des Klassenkampfes interpretiert, Friedrich Engels sprach gar von der ersten «Diktatur des Proletariats», die sich 1871 in Paris gezeigt habe. Lenin wollte in der Kommune die «Keimform der Sowjetmacht» erkennen, und die Sowjetunion hielt die französische Episode später nur schon insofern hoch, als sie 1964 eine rote Fahne aus Paris auf einen Weltraumflug mitschickte. Lange hat so ein marxistisches Muster die Lesart bestimmt und bis zu einem gewissen Grad den Blick verstellt auf ein Ereignis, das nur aus der einzigartigen Konstellation seiner Zeit heraus zu begreifen ist.
Kein Geld fürs Elefantensteak
Der Aufruhr vom 18. März wäre schwerlich entstanden, wenn zuvor nicht der Deutsch-Französische Krieg die Pariser gebeutelt hätte. Im Juli 1870 hatte Napoleon III. den Preussen den Krieg erklärt. Nach raschen Niederlagen und der Gefangennahme des Kaisers wurde im September die Republik ausgerufen; der Krieg ging weiter, und Paris war fortan von den Deutschen belagert. Dabei verschlimmerte sich die Versorgungssituation in der Hauptstadt stetig. Die Nahrungsmittel wurden derart knapp, dass im Herbst Katzen und Hunde verspeist und Ende November gar die Tiere des Jardin des Plantes geschlachtet wurden. Ein Elefanten-, Känguru- oder Zebrasteak konnten sich die einfachen Leute freilich niemals leisten, viele hatten schon Mühe, ihre Mieten zu bezahlen, und mussten Wertgegenstände verpfänden.
Als die Regierung am 28. Januar 1871 einen Waffenstillstand mit den Deutschen schloss, war das für die Pariser ein erster Schlag ins Gesicht – nachdem sie sich monatelang durchgebissen hatten, empfanden sie die Kapitulation vor dem verhassten Feind als Demütigung. Wenige Tage später versetzte das Ergebnis der landesweiten Parlamentswahlen die überwiegend republikanisch gesinnte Stadtbevölkerung in Sorge: In der neuen Nationalversammlung verfügten die Royalisten über eine starke Mehrheit, also war zu befürchten, dass sich die junge Republik bald in eine Monarchie oder ein Kaiserreich zurückverwandeln würde.
Die Stimmung in der Hauptstadt verschlechterte sich weiter, als die französische Regierung den Preussen Anfang März ein Defilee über die Champs-Elysées gestattete, Versailles statt Paris zum Sitz der Nationalversammlung bestimmte und überdies noch entschied, zeitweilig gewährte Zahlungsaufschübe für Wohnungsmieten nicht länger gelten zu lassen. Der Umstand, dass die Regierung die Stadt entwaffnen wollte in diesem Moment, in dem der Unmut immer weiter stieg, erstaunt genauso wenig wie die Wut, mit der die bereits aufgebrachte Masse auf die geheime Aktion reagierte.
Der „Pöbel“ ist wach geworden
Allerdings waren längst nicht alle Städter glücklich über den Bruch mit der Landesregierung, den Paris durch den Aufstand im März vollzog. «Ein Gefühl der Erschöpfung, Franzose zu sein», empfand Edmond de Goncourt am 19. März 1871. Bitter beklagte der Literat in seinem Tagebuch die «idiotischen Konvulsionen eines destruktiven Haufens» und wetterte gegen die «niederen kleinen Leidenschaften des französischen Pöbels», mit denen in seinen Augen keine Republik zu machen war.
Polemisch ist damit eine Tatsache ausgedrückt: Der Aufstand vom 18. März war massgeblich von Leuten aus der unteren Bevölkerungsschicht getragen, und auch im daraufhin gewählten Rat der Kommune dominierte der «Pöbel»: Mehr als 30 Prozent der Ratsmitglieder waren Handwerker oder Arbeiter, dazu kamen Angestellte und Vertreter der freien Berufe – die grossbürgerlichen Notabeln, die das politische Geschehen bis dahin neben dem Kaiser bestimmt hatten, suchte man in der Kommune vergebens.
Die einfachen Leute wurden jedoch nicht unversehens an die Macht gespült. Schon im Kaiserreich hatten sich die Arbeiter zu sortieren und zu politisieren begonnen, im Zusammenhang mit nationalen wie internationalen Entwicklungen. Aus den ländlichen Gebieten strömten in den 1860er Jahren immer mehr Menschen nach Paris, um in der Stadt eine Arbeit zu finden. Zwischen 1850 und 1870 hat sich die Stadtbevölkerung verdoppelt, von einer auf zwei Millionen, wobei das Wachstum mit Eingemeindungen und grossen baulichen Veränderungen einherging. Napoleon III. liess Paris durch Georges-Eugène Haussmann modernisieren, und in der neuen, schicken Metropole lebten die Schichten zunehmend segregiert: Für Arbeiter war Wohnraum nurmehr in periphereren Quartieren erschwinglich.
Das Pariser Volk, das zu 90 Prozent lesen und schreiben konnte, lebte zwar nicht in der Misere, zumal sich die Wirtschaft in den 1860er Jahren recht erfreulich entwickelte, wie der Historiker Michel Cordillot resümiert. Insgesamt aber wuchs bei den Arbeitern in jener Zeit das Bewusstsein für soziale Ungleichheiten. Ab 1864 engagierten sich zahlreiche Franzosen in der in London gegründeten Internationalen Arbeiterassoziation, und Ideen zur Verbesserung der Lebensverhältnisse wurden zunehmend auch im Kaiserreich diskutiert: Nachdem Napoleon III. den Franzosen gegen Ende der 1860er Jahre Versammlungsfreiheit gewährt hatte, entstanden sofort etliche Klubs, in denen die Arbeiter ihre Stimme erhoben und ihre Anliegen ausdrückten.
Furcht vor den Umsturzmännern
Was aber würden diese Leute nun effektiv sagen und fordern? Das fragte man sich 1871 nicht nur in Frankreich mit Sorge. Die Pariser Kommune war ein europaweites Medienereignis, überall erschienen Berichte zum Thema, auch in Zürich analysierte man die Lage. Die NZZ sah die Dinge ähnlich schwarz wie Edmond de Goncourt, als sie Anfang April die Ereignisse zusammenfasste, die sich in den Tagen seit dem 18. März «mit einer reissenden Schnelligkeit» entwickelt hatten.
Von der nationalen, zur Monarchie tendierenden Regierung versprach sich die Zeitung zwar nicht viel Gutes. Aber «das Schlimmste» war laut ihr doch von der Kommune zu befürchten. Bei der Wahl zum Stadtrat, an der viele der «besseren Elemente der Bevölkerung» gar nicht erst teilgenommen hätten, seien nämlich die «extremsten politischen und sozialen Umsturzmänner» siegreich gewesen. Durch deren Verbindung zur «Internationalen» sei daher nun eine Kraft an der Macht, die «ein reichhaltiges Programm der abenteuerlichsten sozial-politischen Theorien in praxi zur Geltung zu bringen strebt».
Was die politische Praxis in der Folge zeigte, war so umwälzend dann aber nicht. Neben der Internationalen prägten auch diverse andere Strömungen die Konzepte der Kommunarden; einige der Männer waren vom föderalistischen Ökonomen Pierre-Joseph Proudhon beeinflusst, andere vertraten jakobinisch-zentralistische Ideen, weitere einen radikalen, sozialen Republikanismus.
Was bringt die kommunale Revolution?
Konkret kümmerte sich die Kommune in sozialpolitischen Belangen zunächst um die Probleme, die aus der Kriegszeit resultierten. Schon Ende März wurden den Wohnungsmietern die Zinsen bis im Juni allgemein erlassen, zugleich durften die Pfandleihen ihre Gegenstände einstweilen nicht zum Weiterverkauf anbieten. Auch eine Pensionszahlung für alle Verletzten wurde eingeführt. Ferner hat die Stadtregierung dann etwa die Nachtarbeit für Bäcker verboten, Lohngleichheit für Lehrer verordnet und befunden, dass eheliche wie uneheliche Kinder dieselben Rechte haben sollten.
Als sozialistisch im engeren Sinn sieht die Forschung hauptsächlich eine Massnahme, die zur Arbeitsbeschaffung getroffen wurde: Werkstätten, die verwaist waren, weil die Besitzer die Stadt verlassen hatten, wurden von der Kommune übernommen und Arbeiterkooperativen zur Verfügung gestellt. Im Falle einer Rückkehr sollte der Eigentümer eine Entschädigung erhalten.
Weiterführend wirkte der Pariser Rat vor allem auf dem gesellschaftlichen Feld: Am 2. April beschlossen die Kommunarden die Trennung von Kirche und Staat, dazu wurde ein kostenfreier, laizistischer Schulunterricht für alle Kinder projektiert – beides sollte später, um die Jahrhundertwende, zu den Kernerrungenschaften des französischen Staates zählen. Der Säkularismus, den die Kommune propagierte, war freilich von starkem antiklerikalem Ressentiment begleitet: Die Publizistik hetzte gegen die «Pfaffen», Besitztümer wurden beschlagnahmt, Kirchen in Schulen oder Versammlungsorte umfunktioniert.
Die diversen Massnahmen – insgesamt hat die Kommune in den 72 Tagen ihres Bestehens über 250 Verordnungen und Verfügungen erlassen – mit einem Schlagwort zu charakterisieren, ist schwerlich möglich. Und auch was die Regierung selber als Programm formulierte, blieb letztlich ziemlich luftig. In einer «Erklärung ans französische Volk» verkündete die «Commune de Paris» am 19. April, dass sie die Konsolidierung der republikanischen Staatsform sowie die absolute Autonomie der Kommune fordere.
Diese sollte die Freiheit aller Individuen gewährleisten, und insgesamt hofften die Vertreter der «kommunalen Revolution», eine neue Ära der «experimentellen, positiven und wissenschaftlichen Politik» zu eröffnen – oder umgekehrt: die alte, von Klerikalismus, Militarismus, Monopolen und Privilegien geprägte Zeit zu beenden. Denn diese habe das Proletariat in die Knechtschaft und das Vaterland ins Desaster geführt.
Der Terror kommt zurück
Egal aber, wie ihr Programm im Einzelnen ausgestaltet war: Eine autonome Pariser Kommune war für die französische Regierung nicht zu tolerieren. Bereits ab dem 2. April startete von Versailles aus eine militärische Kampagne gegen Paris. «Kanonendonner gegen zehn Uhr in Richtung Courbevoie. Gott sei Dank! Der Bürgerkrieg hat begonnen!», notierte Edmond de Goncourt am Sonntag des ersten Angriffs. An Tagen ohne Gefechtslärm war der Chronist «todtraurig», besorgt, dass «Versailles» geschlagen sein könnte und die Männer der Kommune noch lange nach Belieben regieren würden.
Tatsächlich zog sich der Kampf eine Weile hin. In den ersten Wochen griffen die französischen Truppen vor allem in Vorstädten an, die Nationalgarde hielt dagegen, die Kommune legiferierte emsig weiter. Jedoch radikalisierte sich mit der militärischen Auseinandersetzung das Gebaren der Kommunarden. Zahlreiche Geistliche, unter ihnen der Erzbischof von Paris, aber auch viele Gendarmen wurden gefangen genommen und als Geiseln gehalten. Obschon sie sich für Pressefreiheit ausgesprochen hatte, ging die Kommune zudem auch dazu über, unliebsame Zeitungen zu verbieten. Und um seine Effizienz zu steigern, setzte der Rat eine neue Exekutive ein: Anfang Mai übernahm ein fünfköpfiger «Wohlfahrtsausschuss» die Regierungsgeschäfte.
Dieses Konzept war den Franzosen auf unheimliche Weise vertraut. Ein Wohlfahrtsausschuss hatte ab 1793 das revolutionäre Frankreich beherrscht, und selbst für einen Teil der revolutionsfreudigen Kommunarden klang das Wort allzu sehr nach Diktatur und Terror: Eine Minderheit der Ratsmitglieder sperrte sich gegen das Projekt und brach mit der Kommune, als der Wohlfahrtsausschuss Mitte Mai sämtliche Vollmachten erhielt.
Eine Vorstellung von der Hölle
Die Beobachter, egal woher sie kamen, waren schockiert über die Barbarei, die sich mitten im Herzen Europas Bahn brach: «Und dies ist das 19. Jahrhundert, und Europa bekennt sich zur Zivilisation, und Frankreich prahlt mit seiner Kultur, und die Franzosen schlagen sich gegenseitig das Hirn mit Gewehrkolben ein», schrieb ein Reporter der «Daily News». Ein Berichterstatter aus Genf suchte Anfang Juni vergeblich nach Worten für den Schrecken, den er in Paris gesehen hatte: «Ich weiss nicht, mit welchem Namen die Geschichte die verwünschte Woche bezeichnen wird; aber wenn etwas eine Vorstellung von der Hölle geben kann, so ist es wohl das Schauspiel, dem wir beiwohnen mussten.»
Inzwischen hat die Geschichte der «verwünschten Woche» den Namen «semaine sanglante» gegeben. Ihre Bilanz zu ziehen, ist bis heute nur behelfsmässig möglich. Die Regierungstruppen hatten im Kampf um Paris ungefähr 900 getötete Soldaten zu beklagen, aufseiten der Kommunarden waren die Verluste um ein Vielfaches höher. Lange gingen die Historiker davon aus, dass in der blutigen Maiwoche an die 17 000 Pariser umgekommen waren, jüngste Forschungen halten eine Opferzahl zwischen 5700 und 7400 für realistischer. So oder so handelt es sich bei der «semaine sanglante» laut Experten um eines der grössten Massaker, das im Europa des 19. Jahrhunderts an Zivilisten verübt wurde.
Insgesamt fielen 238 Gebäude den Flammen zum Opfer. Man liest erstaunt, dass Edmond de Goncourt die infamen Taten am 24. Mai geradezu besonnen betrachtete: «Den ganzen Abend lang durch den Kahlschlag zwischen den Bäumen das brennende Paris gesehen, eine Feuersbrunst, die vor dem Nachthimmel aussah wie jene neapolitanischen Gouachen eines Vesuvausbruchs auf schwarzem Papier.»
Ermordet, um ewig zu leben
Ohne ihr fürchterliches Ende, meinte der Publizist Sebastian Haffner 1971, hundert Jahre nach den Ereignissen, wäre die Kommune vielleicht nie zu der grossen Geschichte geworden, als die Marx, Engels oder Lenin sie später präsentierten. Die relativ unspektakulären politischen Projekte, die zwischen März und Mai auf der Agenda des Pariser Stadtrates standen, hätte die Nachwelt möglicherweise bald vergessen – wenn die Kommune nicht in Blut ertränkt worden wäre und damit gewissermassen ewiges Leben erlangt hätte.
«Das Massaker an der Pariser Kommune bedeutete für die Weltrevolution dasselbe wie Golgatha für das Christentum», schrieb Haffner in seinem Essay. Alle irgendwie am Volk orientierten Politiker, heisst das mit anderen Worten, bezogen sich nach 1871 auf die Kommune und gaben vor, mit ihren eigenen revolutionären Projekten das getötete französische Proletariat zu ehren.
In Frankreich indessen machte man sich vorerst daran, die Vergehen der Kommunarden zu sühnen. Der Wiederaufbau des zerstörten Paris ging in den 1870er Jahren ziemlich zügig vonstatten, und bald ergänzte gar ein neues ikonisches Gebäude die städtische Silhouette: Auf dem Hügel von Montmartre entstand ab 1875 die Sacré-Cœur. Das Projekt ging zwar auf die Zeit vor der Kommune zurück. Der Baron aber, der den Bau der Basilika initiiert hatte, stellte bei der Grundsteinlegung zufrieden fest, dass die Fügung der Kirche präzis den richtigen Ort zugewiesen hatte – schliesslich erhob sich das Zeichen des Christentums just auf der Anhöhe, auf der das religionsfeindliche Volk zuvor die Kanonen gelagert hatte, ja die Sacré-Cœur kam ganz genau dort zu stehen, «wo die Kommune ihren Anfang genommen hatte».
Literatur zum Thema:
Neben den Standardwerken von Jacques Rougerie («La Commune de 1871») und Robert Tombs («The Paris Commune, 1871») bietet auf Deutsch das Buch «72 Tage.
Die Pariser Kommune 1871» von Thankmar von Münchhausen einen Überblick.
Den jüngsten Stand der Forschung und der Debatten rund um die Kommune bildet ein grosser neuer Sammelband ab, der im Januar erschienen ist und ab April in zweiter Auflage erhältlich sein wird:
Michel Cordillot (Hrsg.): «La Commune de Paris 1871.
Les acteurs, l’événement, les lieux».