Von Sigmar Polke stammt einer der ironischsten Bildtitel – in nachgeahmter Schreibmaschinenschrift malte er 1969 den Satz „Höhere Wesen befahlen: rechte obere Ecke schwarz malen!“ auf die Leinwand.
Es scheint, als habe Polke mit seiner pseudo-eschatologischen Begründung für das Malen eines Bildes etwas ähnliches wie Edvard Munch ausdrücken wollen, was nun durch kunsttechnologische und graphologische Untersuchungen auf dessen „Schrei“ von 1893 im Nationalmuseum Oslo bestätigt wurde:
Auf diesem Hauptwerk des Museums findet sich in der oberen linken Ecke eine Aufschrift in Bleistift vom Künstler selbst. Die Handschrift als auch Ereignisse der Entstehungszeit ließen keinen Zweifel daran, dass die Inschrift von Munch stamme und nicht nachträglich aufgebracht worden sei, so das Museum. Auf Norwegisch steht da „Kan kun være malet af en gal Mand!“, „Kann nur von einem verrückten Mann gemalt worden sein!“
Munch markiert damit sein bedeutendstes Bild als von einem Angstgetriebenen gemalt, als stünde er außerhalb seiner selbst und als hätten ihm höhere „Stimmen“ das Malen dieses markerschütternden Motivs eingegeben. Der Satz verstärkt die gängige Deutung: Mit der Figur, die Mund und Augen aufreißt, verarbeitete Munch laut eigener Aussage eine Angstattacke während eines Spaziergangs bei Sonnenuntergang: „Ich stand allein, bebend vor Angst. Mir war, als ginge ein mächtiger Schrei durch die Natur.“
War ursprünglich der „Schrei der Natur“ durch Munch als seismisch empfindsames Medium hindurch gemeint, ist das Bild heute inhaltlich auf den Schrei der zu sehenden Figur verkürzt. Und ist das Gemälde so eine allgemeine Verkörperung eher diffuser Ängste geworden, die einen jäh überkommen können, spiegelt die Aufschrift eine sehr konkrete Furcht des Malers, nämlich aus familiärer Veranlagung verrückt zu werden. Munchs Schwester wurde in einem psychiatrischen Krankenhaus behandelt, Vater und Großvater waren depressiv. Überliefert ist, dass der Direktor des norwegischen Kunstmuseums nach der öffentlichen Erstpräsentation des Bildes 1895 schrieb, man könne Munch nun nicht mehr ernst nehmen und für geistig gesund halten.
Dass sich die Aufschrift nur auf der frühesten der vier Versionen des „Schreis“ von 1893, nicht aber auf den beiden Repliken von Künstlerhand ebenfalls im Besitz des Nationalmuseums (darunter die Version von 1910, bei der die Figur wie ein immaterielles Gespenst zerfließt und endgültig Teil der Natur wird) und ebenso wenig auf der vierten in Privatbesitz findet, heißt nicht, dass Munch in den folgenden zwanzig Jahren seelisch stabiler geworden wäre. Immer wieder setzte er seine frisch vollendeten Gemälde bei Regen und Schnee den Unbilden eben dieser „schreienden“ Natur aus, depressive Abstürze und Alkoholexzesse häuften sich. Ähnlich wie bei dem Kunsthistoriker Aby Warburg – für dessen Familie Munch gleich mehrere Porträts fertigte – dessen berühmter Satz „Du lebst und thust mir nichts“ als geplantes Motto seiner Psychologie der Kunst die durchaus bedrohliche „Natur“ des Bildes bannen sollte, war es wohl auch bei Munch: wenn sich im „Schrei“ vor seinen Augen – die Figur mit dem Totenschädelkopf ist ja der Künstler selbst – die Natur vollständig in Schlieren auflöst und „der Himmel rot wie Blut [wurde] und Wehmut“ ihn befiel, wie er über das Bild schreibt, dann muss er vielleicht verrückt sein. Aber er sieht und fühlt diesen apokalyptischen Ausnahmezustand auch als Einziger und wird damit zum Vorbild fast aller kommenden Expressionisten.
Als Gegenbilder zum heiteren Impressionismus und Historismus seiner Epoche zeigen die Gemälde somit ungeschönt das, was Freud zur selben Zeit zwar beschreibt, kein anderer Stil aber in Farbe fassen kann: expressivste Emotion. Und, wie wir nun wissen, auch in schmerzhafte Worte.