Nicht Englisch ist die Muttersprache des Pop, sondern Smurfing. Kein Song zeigt das besser als „Forever Young“ von Alphaville. Für das Gefühl wohliger Vertrautheit muss man ihn gar nicht verstehen.
„Die Unverständlichkeit blockiert nicht den Zugang zur Popmusik“, meint der Literaturwissenschaftler Eckhard Schumacher, „sie macht vielmehr ein entscheidendes Moment ihrer Attraktivität aus und eröffnet so, unabhängig von institutionell vorgegebenen Regeln, eine eigentümliche Annäherung an das, was man als eine Fremdsprache bezeichnen kann – in diesem Fall jene mit dem Namen Pop.“ Popguru Diedrich Diederichsen berichtet davon, wie er als Kind mit seinem Bruder vor dem Radio gesessen, die Hitparade angehört und kein Wort von den Beatles-Texten verstanden hat. „Dennoch mussten wir die Titel bezeichnen, mussten unsere Lippen und Gaumen zu irgendwas formen, wenn wir die Songs sangen“, schreibt er. So sei ein Englisch entstanden, das keinerlei Bedeutung hatte. „Als wir Englisch irgendwann auch als ganz normale Fremdsprache lernten, war das schon nicht mehr wegzukriegen, wir konnten bereits ein Englisch, das sich mit diesem zweiten niemals decken würde.“
Smurfing – das telepathische Volapük der Popfans
Pop scheint eine eigene Sprache zu haben. Eine Sprache, die mehr ein Lebensgefühl ausdrückt und weniger konkrete Inhalte.
1994 schrieb die damals 22 Jahre alte Journalistin Johanna Adorján einen Text über ihre durchgefeierten Nächte:
„Wir tanzen und singen die Texte mit, so gut es geht. Zumindest formen wir die Lippen möglichst synchron zum Gesang und versuchen, das, was wir hören, wiederzugeben. Dabei trainiert man Intonation, schnelle Reaktion, Englisch und bisweilen auch die Phantasie, denn was zum Beispiel will uns folgende Textzeile sagen: „Life’s full of smurfing“? Das verstehe ich, jedenfalls selbst nach dem hundertsten Hören, nicht. Irgendwann werde ich mir die richtigen Worte vielleicht von einem New Yorker DJ verraten lassen, aber bis dahin werde ich weiterhin mit Stolz mein „smurfing“ schmettern.“
Das ist die Sprache, von der Schumacher und Diederichsen schreiben. „Über Sex“, heißt es bei Tocotronic, „kann man nur auf Englisch singen.“ Man könnte auch sagen: nur auf Smurfing.
Smurfing besteht aus ganz alltäglichen Wörtern und Phrasen. „She Loves You“ heißt „Sie liebt dich“. „Live is Life“ heißt „Leben ist Leben“ (oder so ähnlich), „Amadeus“ ist einer der Vornamen von Wolfgang Amadeus Mozart, „I love you“ heißt „Ich liebe dich“ und so weiter und so fort. Aber jedes dieser Wörter, jede dieser Phrasen sind Polyseme, die wie kleine Inseln von einem Ozean aus Pop-Semantik umspült sind. Auf „She Loves You“ antwortet jeder Popfan „Yeah, Yeah, Yeah”. Auf „Live is Life“ singt jeder „Nana na nana“. Bei „Amadeus“ denkt man an „Amadeus, Amadeus – oh oh oh – Amadeus“. Die Wörter und Phrasen können auch nur als rein phonetische Phantasiesprache wahrgenommen werden. Oder auch als produktive Verhörer. Was kann aus Phrasen wie Kurt Cobains „A mulatto, an albino, a mosquito, my libido“ alles werden? Wie viele Menschen haben aus Falcos „Dra di net um“ ein „Da didel dumm“ gemacht?
Und immer verbindet man das Ganze mit entsprechenden Bildern und Erlebnissen – Bilder aus einem Video, Erlebnisse auf einer Party, auf der das Lied lief. Smurfing funktioniert auch musikalisch. Beispielsweise, wenn Madonna in „Hung up“ die Instrumental-Hook aus „Gimme, Gimme, Gimme“ einbaut. Oder noch allgemeiner, wenn Jochen Distelmeyer in „Der Apfelmann“ das Wort „Baby“ benutzt, wenn Falco in „Der Kommissar“ „Two, Three, Four“ einzählt, dann ist das Smurfing, also etwas, was man, wenn es deutsch gesagt wird, nicht fühlen kann. Das Ohne-Worte-Pop-Gefühl. Smurfing ist das telepathische Volapük der Popfans. Nicht Englisch ist die Muttersprache des Pop, sondern Smurfing.
Das Poplebensgefühl einfangen
Hartwig Schierbaum jedenfalls lernte die Fremdsprache Smurfing sehr schnell. Er wurde Plattensammler und Popfan. In den frühen Achtzigern gab er sich den Künstlernamen Marian Gold und wurde mit seiner Band Alphaville zum Star.
Wenn deutsche Künstler englische Texte singen, dann übertragen sie ihre Smurfing-Rezeption englischer Songtexte in ihre eigenen Kunstwerke. Sie schreiben englische Texte, die weniger versuchen konkret etwas zu erzählen, sondern das Poplebensgefühl einzufangen.
Alphaville sind ein Musterbeispiel für Smurfing-Pop. Die Kunst des Smurfing-Pops besteht darin, Bezüge herzustellen: „Ein Arbeiten mit vorgefertigtem Material, das vorgegebene Bedeutungsstrukturen auflöst, indem es sie wiederholt, in der Wiederholung aber zugleich auch verschiebt, verändert, resignifiziert.“ Und Marian Golds Band Alphaville bewegte sich 1984 in einem eng vernetzten System des Verschiebens, Veränderns und Resignifizierens von Pop-Bezügen. Meister-Nerds des Smurfing.
In dem Podcast „Reflektor“ des Tocotronic-Bassisten Jan Müller erzählt Gold, wie die Band Anfang der achtziger Jahre in Münster aus der Künstlerkommune „Nelson Community“ heraus entstanden ist. Mitglieder waren Frank Mertens, Bernhard Lloyd und Gold. Keiner der drei war ausgebildeter Musiker. Entsprechend naiv setzten sich die drei an die neu erworbenen japanischen Synthesizer und experimentierten. Die Band nannte sich zunächst „Forever Young“. Von 1983 an nannte sie sich „Alphaville“, nach dem Film von Jean-Luc Godard.
Alphaville waren also nicht nur Musiknerds, sie waren auch Filmnerds. Die Texte ihrer deutschen Songs sind Beschreibungen von meist dystopischen Szenerien. Mit dem Wechsel zu englischen Texten veränderte sich das.
Schon wenn man die Titelliste des Albums „Forever Young“ anschaut, wird klar, wie viele Inspiration in die englischen Texte eingegangen sind. So erinnert „Summer in Berlin“ an „Summer in the City“ von Lovin’ Spoonfull, Mauer-Feeling inklusive. „Big in Japan“ hieß eine britische Band, aus der später „Frankie goes to Hollywood“ hervorging. „To Germany with Love” erweckt Assoziationen zu „From Russia with Love“, dem zweiten James-Bond-Film mit Sean Connery. „Fallen Angel“ hieß auch ein Film von Otto Preminger aus dem Jahr 1945, auf Deutsch: „Mord in der Hochzeitsnacht“. Bei „Forever Young“ denkt man natürlich an den Songtitel von Bob Dylan, bei „In the Mood“ an Glenn Miller, um nur die auffälligsten Parallelen zu nennen.
Dass die Alphaville-Welt voller popkultureller Bezüge ist, lässt sich also leicht zeigen. Die Texte der Songs auf dem Album „Forever Young“ funktionieren nach drei Prinzipien. Entweder wirken sie wie ziemlich gute Schul-Englisch-Texte, oder sie sind Smurfing. Oder sie sind beides.
Die Machart des Textes erinnert ein bisschen an die aufgeklebten und in einen neuen Zusammenhang gesetzten Wörter in den Schnipsel-Gedichten von Herta Müller. Und, wo ein passende Wort nicht auffindbar war, wird es von Hand dazu geschrieben. Bei vielen Zeilen aus „Forever Young“ drängen sich einem als Hörer sofort bestimmte Assoziationen auf.
Man kann sich als Hörer in dieses Gewebe aus englischen Phrasen, zitierten Songzeilen und ausgeliehenen Song- oder Filmtiteln hinein betten, wie in ein sanftes Pop-Ruhekissen.
Auch bei der Instrumentierung und melodischen Phrasierung des Songs machten die drei Songwriter Gold/Lloyd/Mertens etwas Ähnliches wie mit dem Text. Das Lied wird komplett mit Synthies gespielt. Synthies, die nur so tun, als seien sie Bachtrompeten, die nur so tun, als seien sie Streicher. Es geht aber nicht darum, das Künstliche zu verbergen. Genau so wenig, wie es beim Text darum geht, die Zitate zu verbergen. Es soll genauso künstlich und anspielungsreich klingen.
Gold/Lloyd/Mertens sind keine Komponisten oder Texter im klassischen Sinn. Sie sind co-aktive Popfans, die aus ihren Lieblingssongs und Lieblingsfilmen ein neues Kunstwerk collagiert haben. „Forever Young“ ist eigentlich Fan-Fiction. Der Appeal von Fan-Fiction besteht in der gelungenen Fortführung eines erfolgreichen Originals. Und genau das haben die Popnerds Gold/Lloyd/Mertens erreicht. Und zwar brillant. In Anlehnung an Richard Hamiltons berühmte Collage könnte man es auch so formulieren: That’s what it is that makes today’s popmusic so different, so appealing!
Wächter des Tors in das Jenseits
Als „Forever Young“ Mitte der Achtziger ein Hit wurde, waren die Achtundsechziger bereits durch die Institutionen marschiert und ziemlich ernüchtert. Der große Gegenreformator Helmut Kohl wollte die Linken mit seiner geistig-moralischen Wende zur Raison bringen. Die Welt befand sich im Kalten Krieg. Der saure Regen und das Waldsterben beunruhigten eine ganze Generation.
Das verzagte Warten auf den Tod klingt nicht nur in der melancholischen Melodie von „Forever Young“ an, es bricht sich auch in den sehnsüchtigen Smurfing-Phrasen Bahn. So oder so, es geht um das Warten auf Erlösung: „Are you gonna drop the bomb or not?“ Melodie und Text erzeugen eine ähnliche Grundstimmung wie in John Lennons „Imagine“. Aber der Vers „Heaven can wait“ ist eine Absage an die Utopien der Sechziger und Siebziger Jahre. Der Traum war aus. „Entweder ihr jagt uns jetzt in die Luft, oder ihr lasst es, aber entscheidet euch bitte, damit wir wissen, woran wir sind“, scheint der Song zu sagen. Und das Smurfing versetzte die Hörer offensichtlich in eine resonante Beziehung zum damaligen Lebensgefühl.
Das „Let us die young” von Alphaville ist kein Vorschlag zum Suizid mit Eintritt der Volljährigkeit. Und bei „Live forever“ geht es nicht um Unsterblichkeit. Der Vers schlägt vielmehr Pop als Lebensstil vor. Das Leben im Hier und Jetzt. Und das heißt, egal wie alt man ist, es geht darum „jugendlich“ zu bleiben. Also wandelbar, offen und neugierig. „Der Tod ist jedoch nicht ein Übertritt ins Jenseits“, schreibt der Literaturwissenschaftler Elias Kreuzmair in seinem Buch „Pop und Tod“, „sondern motiviert immer wieder das Erscheinen neuen Lebens.“ Zur Pop-Poetik gehören für ihn die Verfahren Remix, Sampling, Montage, Collage, Kopie, Referenz, Zitat und Pastiche. Der Tod, so erklärt es Kreuzmair, sei in der Popliteratur eine Metapher für das Jetzt, das Hier, das Leben, den Neuanfang. Und obwohl es bei Kreuzmair vor allem um Thomas Meinecke, Rainald Goetz und Christian Kracht geht, lässt sich all das auch über „Forever Young“ sagen.
Im Video zu „Forever Young“ wacht eine Gruppe wie hingeworfen wirkender Menschen in einer großen und prächtigen Halle auf. Kinder, Erwachsene und alte Leute gehören dazu. Während Alphaville ihren Song auf einer Bühne in der Halle spielen, werden die auffällig bleichen und zerzausten Leute immer lebendiger. Schließlich stehen sie auf und gehen dann durch ein rautenförmiges Tor in ein blendend helles, weißes Licht. Alphaville als Wächter des Tors in das Jenseits. Tja, Live is full of smurfing.
Alphavilles Smurfing-Pop war international erfolgreich. Das Album „Forever Young“ wurde ein gigantischer Erfolg. Die Singles „Big in Japan“, „Sounds like a Melody“, „Forever Young” und “Jet Set” wurden zu internationalen Hits. „Forever Young“ wurde unzählige Male gecovert. Das prominenteste Cover stammt wahrscheinlich von Beyonce.
Auch das Thema das Songs hatte weiter Bestand. Beispielsweise sangen Oasis in den Neunzigern „Live Forever“ oder „Stay Young“. Eventuell macht das die relative Zeitlosigkeit des Songs aus. Auch wenn Pop heute keine Jugendkultur mehr ist, sondern eher ein Jugendkult.
Das habt noch zu wissen
Ein „Smurf“ ist ein Schlumpf. Eines der kleinen blauen Wesen, mit weißen Hosen und Zipfelkappe, die in Pilzen wohnen. Die Schlümpfe benutzen oft das Verb „schlumpfen“ (also „to smurf“) oder das Adjektiv „schlumpfig“. Dabei bleibt immer offen, was genau das bedeuten soll. Sagt ein Schlumpf „Schlumpfiges Wetter heute“, dann ist es genau das Wetter, das heute zu ihm passt. Wie immer auch die Textzeile wirklich heißen mag, die Johanna Adorjan im Jahre 1994 gesungen hat, sie passt auf jeden Fall. Denn das Leben ist voller Smurfing – wenn man Popmusikhörer ist.
Let’s dance in style, let’s dance for a while
Heaven can wait, we’re only watching the skies
Hoping for the best but expecting the worst
Are you gonna drop the bomb or not?
Let us die young or let us live forever
We don’t have the power but we never say never
Sitting in a sandpit, life is a short trip
The music’s for the sad men
Can you imagine when this race is won
Turn our golden faces into the sun
Praising our leaders, we’re getting in tune
The music’s played by the, the mad man
Forever young, I want to be forever young
Do you really want to live forever?
Forever, and ever
Forever young, I want to be forever young
Do you really want to live forever?
Forever young
Some are like water, some are like the heat
Some are a melody and some are the beat
Sooner or later, they all will be gone
Why don’t they stay young
It’s so hard to get old without a cause
I don’t want to perish like a fading horse
Youth’s like diamonds in the sun
And diamonds are forever
So many adventures couldn’t happen today
So many songs we forgot to play
So many dreams swinging out of the blue
We let them come true
Forever young, I want to be forever young
Do you really want to live forever?
Forever, and ever
Forever young, I want to be forever young
Do you really want to live forever?
Forever, and ever
Forever young, I wanna be forever young
Do you really want to live forever? (Forever)