Griechische Grenzschützer setzen Flüchtlinge systematisch auf dem Meer aus. Ein internes Dokument legt nun nahe, dass Innenminister Horst Seehofer einen Rechtsbruch kaschierte.
SPD-Vize Kühnert stellt ihm ein Ultimatum.
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Flüchtlinge in der Ägäis: Auf dem Meer ausgesetzt
Die Sprecherin von Bundesinnenminister Horst Seehofer war sichtlich nervös, als sie sich Ende November den Fragen der Journalisten stellen musste. Zwei Tage zuvor hatten der SPIEGEL und das ARD-Magazin »Report Mainz« berichtet, dass die Bundespolizei in der Ägäis in eine illegale Zurückweisung von Flüchtlingen verwickelt war. Wiederholt fragten die Journalisten nach. »Ich weiß nicht, wie Sie zu der Einschätzung kommen, dass es sich hierbei um einen illegalen Pushback gehandelt hat«, sagte die Sprecherin schließlich.
Dabei lagen dem Bundesinnenministerium zu diesem Zeitpunkt längst Informationen vor, die genau darauf hindeuten.
Im Auftrag der EU-Grenzschutzagentur Frontex patrouillierten die deutschen Einsatzkräfte am 10. August in der Ägäis, nur wenige Hundert Meter von der griechischen Insel Samos entfernt. Dabei entdeckten sie ein Schlauchboot mit 40 Flüchtlingen an Bord. Auftragsgemäß hielten sie es an, allerdings nahmen sie die Menschen auf dem völlig überfüllten Boot nicht an Bord. Stattdessen warteten sie mehr als eine halbe Stunde, bis die griechische Küstenwache das Schlauchboot übernahm.
Wenig später fanden sich die Flüchtlinge plötzlich in türkischen Gewässern wieder. So beschreiben es interne Dokumente der EU-Grenzschutzagentur Frontex, die dem SPIEGEL vorliegen. Die türkische Küstenwache musste die 40 Migranten später retten. Fotos zeigen Männer, Frauen und kleine Kinder auf dem überfüllten Schlauchboot. Offensichtlich wurden die Menschen von den griechischen Grenzschützern illegal zurückgedrängt.
Griechische Küstenwache mit Migranten: Systematische Pushbacks
Als die griechischen Beamten in den Hafen zurück kehrten, wunderten sich die deutschen Polizisten. Die Küstenwache hatte keine Migranten an Bord und auch kein Schlauchboot im Schlepptau. Die Deutschen meldeten im Anschluss zwar die Details des Einsatzes – aber keine mögliche Menschenrechtsverletzung.
Was genau haben die Deutschen von diesem illegalen Pushback mitbekommen?
Bis heute haben die Bundespolizei und das Innenministerium nicht auf die Fragen des SPIEGEL geantwortet. Dabei finden sich die Antworten auf diese Fragen seit Wochen im Intranet der Bundespolizei, also in einem nur für Mitarbeiter zugänglichen Netzwerk. Anhand der elf SPIEGEL-Fragen legte die Bundespolizei-Führung ihre Sicht der Dinge ausführlich dar – noch am Tag der Veröffentlichung des Berichts. Die Fragen waren also längst beantwortet, nur abgeschickt wurden sie nie. Das Innenministerium erklärt das inzwischen auf Anfrage mit einem »Büroversehen«.
Eintrag aus dem Intranet der Bundespolizei
Die Ausführungen im Intranet der Bundespolizei sind politisch heikel. Auf den ersten Blick entlasten sie die deutschen Einsatzkräfte. Wörtlich heißt es, die Bundespolizisten hätten beobachtet, »dass durch die (…) griechischen Einsatzkräfte Migranten physisch an Bord genommen wurden.« Die deutschen Frontex-Beamten konnten also davon ausgehen, dass die Flüchtlinge zunächst in Sicherheit waren. Schließlich wurden sie vor ihren Augen auf ein Schiff der griechischen Küstenwache geholt und trieben nicht mehr in ihrem überfüllten Schlauchboot.
Warum hat das Innenministerium dieses Detail trotzdem bis heute verschwiegen? Will man im Ministerium die Griechen nicht als Lügner entlarven? Das Flüchtlingsboot, so hatten die griechischen Behörden erklärt, sei beim Anblick der
Beobachtungen der Deutschen entlarven die Ausrede der Griechen
Die Beobachtungen der Bundespolizisten widersprechen dieser Darstellung, die Bundespolizei stellt das in ihrem Bericht selbst fest. Wenn die Geflüchteten bereits an Bord des Schiffes der griechischen Küstenwache waren, können sie unmöglich freiwillig auf ihrem Schlauchboot umgekehrt sein. Sollten die Aussagen der Deutschen zutreffen, und davon ist auszugehen, bleibt keine andere vernünftige Erklärung als ein illegaler Pushback der griechischen Küstenwache.
Horst Seehofer muss sich deshalb die Frage gefallen lassen, warum sein Haus die Verbrechen der griechischen Behörden deckt. Statt aufzuklären, führt er die Öffentlichkeit offenbar in die Irre. So fügt Seehofer sich in das System des Schweigens.
»Das Innenministerium scheint sich zum Komplizen der Griechen zu machen«
Frank Schwabe, menschenrechtspolitischer Sprecher der SPD
Seit Juni hat SPIEGEL in gemeinsamen Recherchen mit der Medienorganisation Lighthouse Reports und »Report Mainz« genau dokumentiert, wie die griechischen Pushbacks ablaufen: Die Küstenwache fängt die Migrantinnen und Migranten meist noch auf dem Wasser ab. Manchmal zerstört sie den Außenbordmotor der Schlauchboote, um diese manövrierunfähig zu machen. Dann werden die Schutzsuchenden mit gefährlichen Manövern Richtung Türkei zurückgedrängt. Die Menschen werden auf den Booten oder auf aufblasbaren Rettungsflößen mit Seilen aufs offene Meer gezogen, vom SPIEGEL ausgewertete Videos belegen das.
Die griechische Küstenwache zieht Geflüchtete auf einem aufblasbaren Rettungsfloß Richtung Türkei (Video via Aegean Boat Report)
Griechische Grenzschützer bedrohen die Geflüchteten mit Waffen, nicht selten fallen Schüsse. Bisweilen schleppen die Beamten sogar Menschen aufs Meer, die es schon auf die griechischen Inseln geschafft haben.
Auch Frontex-Einheiten stoppen immer wieder Flüchtlingsboote und übergeben sie anschließend an die griechische Küstenwache. Seit Anfang März wird das so gehandhabt. Die Frontex-Einheiten, darunter deutsche Bundespolizisten, unterstehen in der Ägäis der griechischen Küstenwache. Sie werden so zu Gehilfen der Griechen, die bei ihren illegalen Praktiken nicht mal besonders verdeckt vorgehen.
»Das Innenministerium scheint sich zum Komplizen der Griechen zu machen«, sagt der menschenrechtspolitische Sprecher der Sozialdemokraten, Frank Schwabe. »Dazu müssen sowohl Frontex als auch Innenminister Seehofer dem Bundestag Rede und Antwort stehen.«
Das Innenministerium teilte auf Anfrage mit, dass eine abschließende Bewertung des Sachverhaltes aufgrund der vorliegenden Informationen nicht möglich sei. Die Bundespolizei habe sich jedenfalls nicht an illegalen Pushbacks beteiligt. Eine vollständige Aufklärung bleibe abzuwarten und Berichte von griechischen Behörden würden nicht kommentiert.
Die griechischen Behörden bleiben bei ihrer Version der Ereignisse. Das für die Küstenwache zuständige Ministerium teilte mit, der Fahrer der Schlauchbootes sei in Richtung Türkei zurückgefahren, nachdem er die griechische Küstenwache erblickt habe.
»Wir müssen davon ausgehen, dass Seehofer die Regelverstöße der griechischen Küstenwache deckt, weil sie ihm politisch in den Kram passen«
SPD-Vize Kevin Kühnert
Doch in der Opposition und auch beim eigenen Koalitionspartner ist der Unmut groß. Selbst SPD-Vize Kevin Kühnert schaltet sich nun in die Debatte ein. Durch die schriftlich festgehaltenen Erkenntnisse der eigenen Beamten festige sich der Eindruck, dass es in der Ägäis in der Tat zu Pushbacks komme, sagt er. Deshalb müsse Seehofer nun politisch reagieren. »Frontex muss die mutmaßliche griechische Pushback-Praxis endlich effektiv verhindern und die Zugänge zum Asylverfahren sicherstellen«, so Kühnert. »Sollte dies durch die Bundesregierung kurzfristig nicht durchsetzbar sein, muss das deutsche Kontingent unverzüglich aus der Mission abgezogen werden.«
Kühnert möchte nun von Seehofer »noch in diesem Jahr dargelegt bekommen, wie und bis wann er auf Frontex einwirken wolle, um die Zusammenarbeit mit der griechischen Küstenwache wieder auf eine rechtskonforme Grundlage zu stellen.« Mit seiner Salamitaktik bei der Preisgabe von Informationen werde der Innenminister auch der Fürsorgepflicht gegenüber seinen eigenen Beamten nicht gerecht, mahnt Kühnert. »Wir müssen davon ausgehen, dass Seehofer die Regelverstöße der griechischen Küstenwache deckt, weil sie ihm politisch in den Kram passen. Alles daran wäre inakzeptabel.«
Neben Seehofer gerät auch Frontex-Chef Fabrice Leggeri durch die Beobachtungen der deutschen Polizisten in Erklärungsnot. Bis heute beteuert Leggeri, dass sich seine Grenzschützer nicht an Pushbacks beteiligen oder von ihnen wissen. Daran zweifelt aber inzwischen selbst die EU-Kommission.
Auf deren Drängen schilderte Leggeri schriftlich die Details des Vorfalls vom 10. August. In seinen Antworten verschwieg aber auch Leggeri, dass die griechische Küstenwache laut den Deutschen die Flüchtlinge bereits an Bord geholt hatten – obwohl er wohl davon hätte wissen müssen. Die Bundespolizei jedenfalls hat auch dieses Detail des Einsatzes nach eigener Aussage an Frontex gemeldet.
Frontex teilte auf Anfrage mit, wegen der laufenden Untersuchung keine Angaben zum Vorfall machen zu können.
Frontex-Direktor Fabrice Leggeri hat die Öffentlichkeit getäuscht
Frontex-Direktor Fabrice Leggeri hat die Öffentlichkeit getäuscht Foto:
Virginia Mayo / AP
Für Leggeri ist die Angelegenheit besonders misslich, weil sich in seinen Aussagen ein Muster erkennen lässt: Der Frontex-Direktor täuscht die Öffentlichkeit, um die Pushbacks zu vertuschen. Vor den EU-Parlamentariern verteidigte er sich unlängst mit einer Falschaussage, indem er behauptete, dass der SPIEGEL und seine Recherchepartner sich bei ihren Recherchen zu einem Pushback im April geirrt hätten. Am fraglichen Tag habe es gar keinen Frontex-Aufklärungsflug gegeben, sagte Leggeri. Keine zwei Tage später musste er einräumen, dass das nicht stimmte. Weitere Vorfälle, die Experten als klare Pushbacks werten, erwähnte Leggeri entweder gar nicht oder nur auf Nachfrage in internen Schreiben.
EU-Kommission rechnet mit Leggeri ab
Inzwischen wirft auch die EU-Kommission Leggeri »irreführende« Aussagen vor. Das geht aus einem Brief der Kommission an ihn hervor. In dem Streit geht es um die Einstellung von Grundrechtsbeobachtern. Eigentlich hätte Frontex bis zum 5. Dezember 40 Mitarbeiter einstellen müssen, die darauf achten soll, dass die Rechte von Migranten an Europas Grenzen gewahrt werden. Bis heute hat Leggeri allerdings nicht einen solchen Mitarbeiter eingestellt.
Der Frontex-Direktor macht die Kommission für die Verzögerung verantwortlich, die wiederum gibt Leggeri die Schuld. Leggeris Äußerungen zu dem Thema würden die Kommission »bestürzen« und »beunruhigen« heißt es in dem Brief. Das Schreiben liegt dem SPIEGEL vor, es liest sich wie eine Kampfansage.
Die Verzögerungen bei den Grundrechtsbeobachtern seien skandalös, sagt die Grünenbundestagsabgeordnete Luise Amtsberg. Die Sache zeige, dass die Grenzschutzagentur den Menschenrechtsschutz schlicht nicht ernst genug nehme. »Die Bundesregierung muss endlich klare Konsequenzen aus den völkerrechtswidrigen Handlungen im Rahmen von Frontex-Missionen ziehen.«