Ein Indizienprozess erschüttert Jütland. Der für sein Mitgefühl bekannte Pastor Sören Qvist lässt sich für ein Verbrechen verurteilen, das er nicht begangen hat. Freunde bemühen sich um entlastendes Material, seine Kinder eröffnen ihm eine Fluchtmöglichkeit aus dem Gefängnis. Doch Sören Qvist bleibt standhaft.
Was bewegt einen Menschen dazu, seine moralische Integrität über sein Leben zu stellen?
Dieser Roman, der auf einer wahren Begebenheit aus dem Jahr 1625 basiert, leuchtet mit seinen Fragen hell in unsere Gegenwart hinein.
Hierzulande ist Janet Lewis eher unbekannt. Die US-amerikanische Autorin, die 1998 in hohem Alter gestorben ist, hat kurz nach dem Zweiten Weltkrieg drei auf historischen Tatsachen basierende Romane geschrieben. „Der Mann, der seinem Gewissen folgte“ reicht zurück bis ins frühe 17. Jahrhundert.
Die Geschichte beginnt gegen Ende des Dreißigjährigen Krieges. Die Dörfer im dänischen Jütland sind noch halb versehrt, gerade erst wieder einigermaßen intakt nach den Plünderungen. Es herrscht Misstrauen, ja Angst. Ein unheimlicher Kriegsheimkehrer betritt die Szene. Der Mann hatte als Söldner im Heer Wallensteins gedient, hat einen Arm verloren: Es könnte das Setting eines Western sein. Gibt es die Kategorie „Northern“? Hier würde sie passen.
Kriegsheimkehrer fordert sein Erbe
„Er stieg den kleinen Hügel hinunter, humpelnd, da an einem Stiefel der Absatz fehlte und sich an dem anderen die Sohle löste, sodass Sand und lauter Steinchen hineindrangen. Er kam zum Wirtshaus und klopfte an die Tür.„
Der abgerissene Mann findet nirgendwo ein Dach über dem Kopf, erst im alten Pfarrhaus kann er bleiben. Hier hatte er vor dem Krieg als Knecht gedient, unter einem legendär gerechten Pastor. Pastor Sören Qvist ist lange tot. 1646 spielen diese ersten, geradezu archaischen Szenen: Der Heimkehrer fordert das Erbe seines verstorbenen Bruders, eines in Stadt und Land bekannten Mistkerls.
Geheimnis im Pastorengarten
Janet Lewis‘ Story fängt da erst richtig an. Von Kapitel fünf an springt die Geschichte ins Jahr 1626 zurück, in die Zeit vor der Kriegszerstörung und mitten hinein in eine relativ intakte bäuerliche Welt. Der gerechte Pastor legt sich mit dem erwähnten Mistkerl an. Dem einsetzenden erzählerischen Malstrom kann man sich kaum entziehen. Im Pastorengarten, da ruht ein Geheimnis:
„Hans sagte nichts und begann zu graben. Die Erde war locker und gab leicht nach. Morten sah ihm zu und beugte sich in wachsender Erregung vor. Plötzlich rief Hans aus: „Gott steh uns bei!“
Der Roman basiert auf einer historischen Tatsache, die schon Anfang des 19. Jahrhunderts aufgeschrieben wurde. Janet Lewis, die in den USA Literatur gelehrt hat und 1998 gestorben ist, verwandelte sie 1947 in eine Parabel von der Stunde null – von einem Anfang, der keiner ist, der verdorben ist. Damals und heute ein hochaktuelles Motiv. Dass die deutsche Erstausgabe jetzt endlich erscheint, ist deshalb ein Glücksfall.
Stimmungsbild wie ein holländisches Gemälde
„Die Sonne schien hell auf die Gemeindemitglieder von Vejlby, die jetzt blinzelnd aus der Kirche traten, und hell auf die unebenen Kalksteinmauern; sie schien ohne Unterschied auf die festliche Kleidung, auf das aufblitzende Rot hier und da und das wolkengleiche Weiß, auf das kräftige Grün und Braun und Rostrot, sie schien hell auch auf das Grün der Gräser und der Büsche auf dem Friedhof.“
Janet Lewis arbeitet mit Rückblenden, mit dramaturgisch klugen Schnitten. Ihre Sprache ist ungekünstelt, sie leuchtet Interieurs aus wie auf holländischen Gemälden. Zugleich webt sie mittelalterlichen Hexenglauben hinein, nur mühsam von der Reformation übertüncht. Der Roman zeigt seelische Widersprüche. Der gerechte Pastor hat eine Schattenseite, er ist fast krankhaft jähzornig. Das war er schon als Kind.
„Überwältigt von Hunger und Erbitterung hatte er unablässig mit all seiner Kraft auf den Hund eingedroschen und ihm am Ende so lange mit einem Felsbrocken auf den Kopf geschlagen, bis er sich nicht mehr rührte.“
Schon nach wenigen Seiten fühlt man sich mit dieser Welt vertraut. Sie ist nie Tapete, kulissenhaft: Hier wird gefeiert, sich verlobt, wird Butter geschlagen und Fischsuppe gelöffelt. Der Pastor und seine junge Tochter stehen im Zentrum.
Ein brutales – ein zeitloses Drama
Was sich hier aufrollt, ist ein Kriminalfall, ein Gerichtsdrama. Der Stil nimmt sich komplett zurück, ist fast altmodisch dem Erzählen verpflichtet. Umso eindrücklicher wirkt, wie hier ein Mensch nach allen Regeln der Intrige zerstört wird. Das ist brutal und zeitlos. Schon von Anfang an ist klar, wie es ausgeht. Die Kunst Janet Lewis‘ ist es, das Ende vergessen zu machen.
Ganz zum Schluss blickt man auf graue und trostlose Meeresküsten. Janet Lewis hat eine enorm plastische Prosa geschrieben. Ihr dunkler „Northern“ wird zur Ballade über das menschliche Gewissen.
Janet Lewis
Der Mann, der seinem Gewissen folgte
272 Seiten
Verlag: dtv
Übersetzung: Susanne Höbel
ISBN: 978-3-423-28190-4
22 Euro