Auf der Anklagebank vorn sitzen Göring, Heß, Ribbentrop, Keitel, Kaltenbrunner, Rosenberg, Frank, Frick, Streicher, Funk und Schacht (von links nach rechts). Hinten: Dönitz, Raeder, Schirach, Sauckel, Jodl, Papen, Seyß-Inquart, Speer, Neurath und Fritzsche

Hier berichten einige der letzten noch lebenden Augenzeugen vom ersten Versuch überhaupt, die Mächtigen einer Diktatur persönlich zur Rechenschaft zu ziehen. Gefragt, ob Ernest Lorch die Aufgabe übernehmen wolle, hat er sofort zugesagt – er ist 22 Jahre alt, eingetreten in die U. S. Army, um die Welt von den Nazis zu befreien, und selbstverständlich ist es ihm eine Ehre, einige der größten Verbrecher aller Zeiten der Gerechtigkeit zuzuführen. Mehr als eine Ehre: Es ist was Persönliches. An einem Vormittag Mitte August 1945 also steht der junge Sergeant Ernest Lorch in Bad Mondorf in Luxemburg vor der Laderampe eines Lastwagens und ruft auf Deutsch, in seiner Muttersprache: „Einsteigen bitte!“

Als Julius Streicher einsteigt, bis vor Kurzem Herausgeber des Hetzblatts Der Stürmer, kämpft Ernest Lorch den Reflex nieder, ihm einen Tritt zu geben. Er ruft den Männern zu: „Versuchen Sie nicht zu fliehen! Wir schießen!“ Ein gepanzerter Jeep fährt vorweg, es folgt der Laster, dahinter: Lorch, mit Pistole, im offenen Kommandowagen. Das Ziel: Nürnberg. Einmal halten sie unterwegs an. Die Gefangenen steigen aus und reihen sich auf, um ihre Notdurft zu verrichten, und Lorch findet, das sei ein schönes Motiv für ein Souvenirfoto. Nazis bei der Pinkelpause. Er drückt auf den Auslöser, aber das Bild wird später verloren gehen.

Ernest Lorch, 97, arbeitete beim
US-Geheimdienst CIC

Ernest Lorch ist heute 97 Jahre alt und wohnt in Carmel im US-Bundesstaat Indiana. Seine Beine wollen nicht mehr, sein Kopf schon. Er ist einer von vier noch lebenden Augenzeugen, die für diesen Text vom Versuch berichten, ein Weltgericht abzuhalten. 75 Jahre ist es her, dass – zum ersten Mal überhaupt in der Geschichte – die Mächtigen eines Unrechtsstaates in einem Strafprozess von einem internationalen Tribunal persönlich für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen wurden. Es war ein gigantisches Experiment, niemand hatte davor ein international gültiges Gesetz geschrieben oder verabschiedet, in dem stand, was einem Reichsminister, einem Reichsmarschall, einem Gauleiter verboten war.

Es ist Nachmittag, als Ernest Lorch in Nürnberg ankommt, seiner Heimatstadt. Hier ist er aufgewachsen, ein paar Häuser nur von Streichers Villa entfernt. Hier besaß Lorchs Vater ein Juweliergeschäft. Hier hat Lorch zusammen mit dem Totengräber ebendiesen Vater mit seinen eigenen Händen begraben. Den Vater, den Nazis am 9. November 1938 ermordet hatten, weil er Jude war. Knapp sieben Jahre ist es her. Das ist nichts, und doch eine Ewigkeit.

Im November 1938 ist Ernest 15 Jahre alt. Er flieht mit der Mutter nach New York. Die Army nimmt ihn gern, seine Deutschkenntnisse prädestinieren ihn für das Counter Intelligence Corps (CIC), Spionageabwehr. Am Ende des Krieges wird Lorch nach Spa geschickt, Belgien, dann nach Bad Mondorf, Luxemburg. Dorthin, erst nach Spa, dann nach Bad Mondorf, bringt man auch die wichtigsten Nazis, die man inhaftiert hat – diejenigen, die sich nicht umgebracht haben wie Hitler, Goebbels und Himmler. Fünf Verhörspezialisten des CIC nehmen sich die Gefangenen vor. Ernest Lorch übersetzt die Gesprächsprotokolle ins Englische und belauscht Stunde um Stunde die Gefangenen in ihren Zellen. Monatelang sammeln die Amerikaner Beweise für den Prozess. Wer befahl wem was, wer war wie wichtig im Nazi-Staat? Dann haben sie genug beisammen.

„Gell, Niki, dein Papa wird bald hängen?“
Ein historischer Ort: Saal 600 im Nürnberger Justizpalast 

Ernest Lorch erkennt Nürnberg kaum wieder. Die Straßen sind Canyons, an den Rändern türmen sich Gebirge aus Schutt auf. Zwischen den Ruinen irren ausgezehrte Gestalten umher. Ein Gebäude ruht unwirklich unversehrt inmitten der Trümmer: der Justizpalast mit seinen 530 Büros und 80 Verhandlungssälen. Aus diesem ganz praktischen Grund haben sich die Alliierten für diese Stadt entschieden. Es gibt schlicht kein anderes so großes Gerichtsgebäude, das noch steht.

Der Konvoi umrundet das Gericht, fährt durch eine dahinterliegende Gasse und stoppt vor einem weiteren intakten Gebäude, dem Gefängnis. Ernest Lorch steigt aus, sofort umringen Wachmänner den Lastwagen. Lorch bittet den diensthabenden Feldwebel, er möge ihm die Fracht quittieren. Der Feldwebel nimmt Zettel und Stift und bestätigt die Übergabe der live bodies.

Als Ernest Lorch im Nürnberger Gefängnis eintrifft, haben sich die Siegermächte USA, Großbritannien, Frankreich und Sowjetunion noch nicht darauf geeinigt, wer angeklagt werden soll. Dass es überhaupt zu einem rechtsstaatlichen Verfahren kommen wird, ist das Ergebnis langer Verhandlungen. In den Reihen der Alliierten hatte es viele Politiker und Militärs gegeben, die der barbarischen Verbrechen der Deutschen wegen keinen langen Prozess, sondern schnelle Hinrichtungen für die NS-Elite forderten.

Doch nun gehen seit Wochen Listen von Namen zwischen den Alliierten hin und her. Wer soll als Haupttäter angeklagt werden, wer nicht? Weitere Gefangene kommen aus Bad Mondorf an, aus England wird Rudolf Heß eingeflogen, Hitlers Stellvertreter, aus Berlin bringt man Erich Raeder, den Oberbefehlshaber der Kriegsmarine, und Hans Fritzsche, den Rundfunk-Propagandisten des Regimes.

Bis vor einem knappen Jahr hat er auf einer Burg im polnischen Krakau gelebt. Niklas’ Vater war der König, seine Mutter die Königin und er, Niklas, ein kleiner Prinz. Seine Familie hatte Diener, Köchinnen, Chauffeure, Kindermädchen, Leibwächter. An den Wänden hingen Originale von da Vinci, Rembrandt und Rubens.

Niklas Frank, 81, ein Sohn des Angeklagten Hans Frank 

Nun also zu sechst in zwei Zimmern

Als es so weit ist und Niklas zum ersten Mal zur Schule geht, muss er endgültig erkennen, dass er kein Prinz mehr ist. Die anderen Kinder behandeln ihn nicht, wie er es gewohnt ist, mit Ehrfurcht. Im Gegenteil. Einmal ruft ihm ein Junge hinterher: „Reichsminister, Reichsminister – Benzinkanister!“ Ein Schulkamerad fragt ihn: „Gell, Niki, dein Papa wird bald hängen?“

Niklas antwortet: „Ja.“

75 Jahre nach seinem ersten Schultag läuft Niklas Frank durch sein Haus in Ecklak, eine gute Autostunde von Hamburg entfernt. In den Regalen reihen sich ziegelsteindicke Ordner, darin Dokumente des Vaters, Briefe. In seiner kleinen Schreibstube zeigt er auf ein verblichenes Bild: „Schauen Sie, da ist der Feigling.“

Der Feigling ist sein Vater, Hans Frank, gelernter Jurist und Rechtsanwalt Hitlers schon in den Zwanzigerjahren, er herrschte von 1939 an als Generalgouverneur über Polen. Er war politisch verantwortlich für die Vernichtungslager Treblinka, Majdanek, Belzec und Sobibor.

Am 4. Mai 1945 haben ihn US-Soldaten in Bayern festgenommen und zunächst ins Gefängnis in Tegernsee gebracht. GIs, die gerade erst im KZ Dachau auf Leichenberge und ausgemergelte Überlebende gestoßen waren, droschen beim Spießrutenlauf auf ihn ein. Daraufhin versuchte Frank, sich mit einem Nagel die Pulsadern aufzuschlitzen – und traf Nervenstränge. Deshalb zittert nun in Nürnberg in Zelle 15, neben Alfred Rosenberg in der 16, Hans Frank unkontrolliert mit der linken Hand.

Die Zellen messen neuneinhalb Quadratmeter, 20 Minuten am Tag haben die Häftlinge Hofgang, auf Abstand. Miteinander reden ist verboten.

Vielleicht hören sie es beim Hofgang hämmern. Nebenan im Gerichtsgebäude wird renoviert. Im Schwurgerichtssaal, Nummer 600, installieren Handwerker die Simultananlage für die Dolmetscher, eine Weltneuheit. An den Pulten montieren sie Drehknöpfe, mit denen die Prozessbeteiligten eine Sprache wählen können: Englisch, Französisch, Russisch, Deutsch. Jeder Sitzplatz wird mit Kopfhörern ausgestattet. Die Anklagebank wird verbreitert. Tische werden in die Mitte des Saales gestellt, für die Anklagevertreter der Siegermächte. Um Platz für eine Zuschauertribüne zu schaffen, reißen die Handwerker eine Wand heraus.

Verfahren gegen das organisierte Verbrechen

13 Prozesse gegen die Mächtigen des Nazi-Staates werden in den nächsten Jahren in diesem Saal stattfinden, nicht nur Politiker und Befehlshaber werden sich hier verantworten, auch Juristen, Ärzte, Wirtschaftsführer. Der Plan ist, das ganze System offenzulegen. Los geht es mit dem wichtigsten Prozess: dem gegen die Hauptkriegsverbrecher. Ein Symbol.

Die Liste ist fertig: 24 Angeklagte. Zwei sind nicht in Nürnberg. Hitlers Sekretär Martin Bormann ist tot, aber das weiß man zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Die Alliierten vermuten ihn in Südamerika. Den siechen Industriellen Gustav Krupp von Bohlen und Halbach besucht eine Ärztekommission auf seinem Schloss bei Salzburg. Er ist verhandlungsunfähig.

Neben den 24 Nazis haben die Alliierten auch die Reichsregierung angeklagt, die SS, die SA und die Gestapo, insgesamt sieben Nazi-Organisationen. Der Nürnberger Prozess ist nicht zuletzt ein Verfahren gegen das organisierte Verbrechen.

Elly Kupfer ist 19 Jahre alt, eine hübsche junge Frau mit schulterlangem braunem Haar. Bis zum Frühjahr 1945 war sie auf einem Internat im oberösterreichischen Wels, dorthin hatten die Eltern sie geschickt, damit sie in Sicherheit wäre, wenn in Nürnberg die Bomben fielen. Nun hat sie ihr Abitur und ist zurück daheim. Die Familie hat Glück gehabt. Das Haus mit ihrer schönen großzügigen Wohnung steht noch. Elly hat wenig zu tun. Zukunftspläne hat sie keine. Das Leben lässt sich kaum weiter überblicken als bis zum nächsten Tag, bis zur nächsten Woche.

Die Mutter besitzt einen Modesalon. Früher kauften hier viele Juden, genauso wie die Gattinnen von Nationalsozialisten. Jetzt kleiden sich Amerikanerinnen und Russinnen bei der Mutter ein.

Diese Dinge – eine Russin bezahlte mit goldenen Löffeln – sind es, an die sich Elly, die heute Kupfer-Dierckx heißt, noch besonders lebhaft erinnert. Seitdem sie Witwe ist, seit elf Jahren, wohnt sie in einer Seniorenresidenz in Heidelberg, in einem großen Apartment mit Blick auf das Rheintal. Das Alter hat ihr die Schönheit nicht genommen, mit ihren 93 Jahren ist sie noch immer die Erscheinung, die sie offenbar schon als junges Mädchen war.

Kurz nach dem Krieg kommt es vor, dass die Mutter, wenn Stoff übrig ist, ihrer Tochter etwas näht. Ellys ganzer Stolz ist ein rotes Jackett. Damit fällt man auf in einer grauen Stadt, die in Sack und Asche geht.

Elly Kupfer-Dierckx, 93, war Sekretärin der Verteidigung. 

Eine Freundin erzählt Elly, ihr Onkel sei jetzt Pflichtverteidiger beim Internationalen Militärgerichtshof. Er soll die Gestapo verteidigen. Eigentlich ist er Wirtschaftsjurist. Es heißt, er sei ganz erschrocken gewesen, als ihm die Aufgabe angetragen wurde. Dass Elly ein paar Wochen später ebenfalls dabei helfen wird, die Nazis zu verteidigen, ahnt sie da noch nicht.

Zum Prozess sind die wichtigsten Reporter der Welt nach Nürnberg gereist. Viele mussten einst vor den Nazis fliehen. Jetzt wollen sie miterleben, wie die Gesichter der Diktatur demaskiert werden. Erich Kästner ist da, Erika Mann, Alfred Döblin, außerdem John Dos Passos, Ernest Hemingway, John Steinbeck, Rebecca West und Willy Brandt, der als Korrespondent für skandinavische Zeitungen schreibt. Der Prozess ist das bis dahin vielleicht größte globale Medienereignis der Geschichte. Am 20. November soll es losgehen. Am Tag davor: Generalprobe.

Dolmetscher sitzen hinter ihren Glasscheiben und testen die Kopfhörer. Elektriker prüfen das Funktionieren der großen Lichtersträuße, die von der Decke hängen. Ein amerikanischer Sergeant mit der eifrigen Miene eines Requisiteurs glättet die vier Flaggen, die hinter dem Richterpodium stehen werden. Wachen mit weißen Helmen auf dem Kopf, weißen Schlagstöcken und weißen Pistolentaschen werden auf ihre Posten gewiesen. Die Darsteller sind nervös, Auf- und Abtritte klappen noch nicht. Wie können wir morgen so den Vorhang hochgehen lassen?

Die Welt soll den Prozess als gerecht empfinden

Verschwörung, Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Das sind die Anklagepunkte – Straftatbestände, von denen man in Deutschland zum Teil noch nie gehört hat. Monatelang haben die Siegermächte darum gerungen, zu definieren, was die führenden Nazis getan haben – und wie es sich von dem abgrenzen lässt, was man ihnen, den Siegern, womöglich selbst vorwerfen könnte. Wer ist schon gänzlich ohne Schuld in einem Krieg? Zivilisten wurden getötet, Lebensgrundlagen zerstört. Sogar die größte aller Bomben wurde eingesetzt. Wo beginnt die Grausamkeit, wo das Unrecht?

Der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess ist ein politischer Prozess. Sieger urteilen über Verlierer, sie erklären für gesetzeswidrig, was in Hitlers „Drittem Reich“ gar nicht strafbar war. Ist das fair? Andererseits: Wie sonst kann man über die beispiellosen Verbrechen der Nationalsozialisten Recht sprechen, über das industrielle Töten von Menschen?

Die Ankläger, die Amerikaner vor allem, wollen, dass die Welt den Prozess als gerecht empfindet. Deshalb der Versuch, die individuelle Schuld eines jeden Täters zu bemessen. Die Beschuldigten sollen, wie es sich für ein juristisch sauberes Verfahren gehört, Verteidiger an ihrer Seite haben. Eine Liste von zugelassenen Anwälten wird den Beschuldigten zusammen mit der Anklageschrift überreicht. Es sind Juristen, die unter den Nazis wurden, wer sie sind, die sich aber nicht allzu viel haben zuschulden kommen lassen.

Die Sieger kümmern sich fürsorglich um ihre Gefangenen. Jeden Morgen servieren sie ihnen Brot und Hafergrütze, viermal die Woche gibt es Fleisch, täglich kommt der Friseur zur Rasur, der Arzt zur Visite. Nachts werden bei Bedarf Beruhigungsmittel ausgegeben, der Kaplan steht jederzeit für seelsorgerische Gespräche bereit.

Je generöser die Sieger sich geben, desto mehr steigern sie ihre moralische Überlegenheit gegenüber den Repräsentanten eines Unrechtsregimes. Roland Freisler, der Präsident des Volksgerichtshofs, hatte die Attentäter des 20. Juli zusammengebrüllt, bevor er sie hinrichten ließ. Das Nürnberger Gericht soll nicht brutal sein. Es will den Gefangenen keine Chance geben, sich zu Märtyrern zu stilisieren.

Der Psychiater der Gefangenen, Major Douglas M. Kelley, kam zu dem Schluß, dass ihr IQ nicht unter dem eines Durchschnittsmenschen läge, der von Hjalmar Schacht, Karl Dönitz und Hermann Göring sogar weit darüber; sie seien als hochintelligent zu bezeichnen. Weiterhin fand der Psychiater heraus, daß sich ihre Persönlichkeiten in der Gruppe gegenseitig ergänzten und sie deshalb ein effektives Team gebildet hätten. Sie seien ein Beispiel dafür, was passieren kann, wenn sich Menschen von den Prinzipien der Menschlichkeit abwenden, auf denen die Zivilisation basiert.

Am 20. November holen Aufseher 20 Männer, einen nach dem anderen, aus ihren Zellen. Eigentlich wären es 22 gewesen. Doch vier Tage nach Zustellung der Anklage hat sich Robert Ley, einst Leiter der Deutschen Arbeitsfront, mit einem Stofffetzen stranguliert, den er an die Toilettenspülung gebunden hat. Seitdem steht vor jeder Zelle rund um die Uhr ein Wachmann. Außer Ley fehlt auch Ernst Kaltenbrunner, letzter Chef des Reichssicherheitshauptamts. Er hatte kurz vor dem Prozessauftakt ein Hirnaneurysma und wurde ins Krankenhaus gebracht. Er wird erst später wieder zu den anderen Angeklagten dazustoßen.

Hermann Göring steht oft im Mittelpunkt

Einzeln werden die 20 verbliebenen Männer zum Gerichtsgebäude geführt und mit dem Aufzug in Saal 600 gefahren. Eng nebeneinander nehmen sie in zwei Reihen auf der Anklagebank Platz.

Göring trägt eine lichtgraue Jacke mit goldenen Knöpfen. Die Abzeichen der Reichsmarschallwürde sind entfernt worden. Die Orden sind verschwunden. Es ist eine Art Chauffeurjacke übrig geblieben. (…) Rudolf Heß hat sich verändert. Dadurch wirken die schwarzen Augenbrauen geradezu unheimlich. Wenn er mit Göring oder Ribbentrop spricht, stößt er ruckartig mit dem Kopf. Wie ein Vogel (…). Alfred Rosenberg hat sich nicht verändert. Seine Hautfarbe wirkte immer schon kränklich. Manchmal zupft er an der Krawatte. Sehr oft fährt er sich mit der Hand übers Gesicht. Die Hand allein verrät seine Nervosität. Neben ihm sitzt Hans Frank, der ehemalige Generalgouverneur von Polen. Manchmal zeigt er die blitzenden Zähne. Dann verzieht ein zynisches stummes Lächeln die scharfen Züge.
Erich Kästner, Die Neue Zeitung

Den ganzen ersten Verhandlungstag dauert es, bis die Anklage, 70 Seiten, verlesen ist. Es geht um Folter, Erschießungen, Hunger, Massenmord. Es ist die Verlesung eines Menschheitsverbrechens.

Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Am nächsten Tag tritt Chefankläger Robert H. Jackson ans Mikrofon: „Dass vier große Nationen, erfüllt von ihrem Siege und schmerzlich gepeinigt von dem geschehenen Unrecht, nicht Rache üben, sondern ihre gefangenen Feinde freiwillig dem Richterspruch des Gesetzes übergeben, ist eines der bedeutsamsten Zugeständnisse, die die Macht jemals der Vernunft eingeräumt hat.“

Die Angeklagten werden gefragt, ob sie sich schuldig bekennen. „Nicht schuldig“, sagt einer nach dem anderen, sagt Göring, der den Befehl gab, die „Endlösung der Judenfrage“ zu organisieren, sagt Alfred Jodl, der als General den Überfall auf die Sowjetunion mitplante, sagt Streicher, der gegen die Juden hetzte. Auch Frank, der „Schlächter von Polen“, hält sich für „nicht schuldig“.

Eine Woche später, am 29. November, dunkeln Gerichtsmitarbeiter den Verhandlungssaal ab. Ein Film wird auf eine Leinwand projiziert. Er ist zusammengeschnitten aus Szenen, die die Alliierten bei der Befreiung der Konzentrationslager gedreht haben.

Verbrechen gegen die Menschlichkeit –
wer bis dahin nicht wusste, was das sein soll, nun weiß er es.

Wenn der Film schon alle Angeklagten (bis auf Heß, Streicher und Sauckel) tief bewegte, war er für die Verteidiger geradezu niederschmetternd und demoralisierend. Beim gemeinsamen Abendessen gab es keine Unterhaltung, und niemand hatte richtigen Appetit. Man ging bleichen Angesichts nach Hause, wenn auch kaum zum Schlafen, sondern um weiter zu grübeln, wie man etwas verteidigen soll, was nicht zu verteidigen ist.

Nach dem Film ging ein Anwalt mit seinem Kommentar sogar so weit zu erklären: „Je eher man meinen Mandanten hängt, desto besser.“
Erika Mann, London Evening Standard

Am Schliersee bekommt der sechsjährige Niklas Frank die Neue Zeitung in die Finger, ein in der amerikanischen Besatzungszone herausgegebenes Blatt. Dort sind Bilder abgedruckt, die ihm den Atem rauben: Berge von Leichen, manche der Toten haben kleine, zarte Körper, es sind Kinder, so alt wie er.

Niklas kann nicht begreifen, was er da sieht. Vor allem versteht er nicht, warum in den Bildunterschriften immer wieder dieses Wort auftaucht: Polen. Wie kann das sein, fragt er sich. Polen gehört doch seiner Familie. Wieso türmen sich dort die Leichen?

Auch Niklas’ älterer Bruder Norman sieht die Bilder. Er geht zur Mutter und sagt: „Mutti, wenn diese Bilder stimmen, hat der Vati keine Chance.“

Elly Kupfer, die Tochter der Nürnberger Modesalon-Besitzerin, hört von ihrer Freundin, dass der Onkel, der die Gestapo verteidigt, zwei neue Sekretärinnen sucht. Die Freundin soll einen der Jobs bekommen. „Hast du auch Lust?“, fragt sie Elly.

Ein besseres Jobangebot gibt es zu jener Zeit nicht. Elly wird kostenlos zu essen bekommen, mittags und abends. Sie wird die Mahlzeiten zusammen mit den Verteidigern und deren Assistenten einnehmen, und mit den Zeugen der Verteidigung.

Bei Gericht gehört Elly Kupfer zu den Jüngsten. Sie tippt Texte auf Deutsch und Englisch. Zeugenaussagen, Korrespondenzen zwischen den Anwälten. Am Gericht werden unglaubliche Mengen Papier produziert. Geht Elly an den Büros der Anklage vorbei, staunt sie über die unzähligen am Boden verstreuten Blätter. Doch die Übersetzer, die mit den Dokumenten hantieren, scheinen mit schlafwandlerischer Sicherheit nach den Papieren zu greifen. Bei der Verteidigung, an Elly Kupfers Arbeitsplatz, ist es aufgeräumter. Alles ordentlich in Kladden abgeheftet.

Ein Haufen von Egomanen

Vom Inhalt der Kladden ist Elly ähnlich schockiert wie Niklas Frank von den Bildern in der Neuen Zeitung. Sie erfährt von Grausamkeiten, die sie sich nie hätte vorstellen können. Unglaublich erscheint es ihr, dass alle Angeklagten sich für nicht schuldig erklärt haben. Manchmal beugt sie sich mit ihrer Freundin über die Unterlagen, und sie überlegen, wer von den Angeklagten wirklich nicht schuldig ist und wer doch.

Wenn nichts zu tippen und auch sonst nichts zu tun ist, geht Elly Kupfer auf die Zuschauertribüne. Benötigt der Anwalt während der Verhandlung ihre Hilfe, sitzt sie unten auf der Bank der Verteidiger, direkt vor den Angeklagten. Göring, schräg rechts hinter ihr, ist die markanteste Figur, er schwimmt in seiner viel zu großen Uniform. Offenbar fällt umgekehrt auch ihm die junge Elly mit der roten Jacke auf. „Hello, red jacket“, begrüßt er sie.

Nach der Vorführung des Films über die Konzentrationslager sagen die ersten Zeugen aus. Ein deutscher Geheimdienstoffizier gibt preis, dass der frühere Außenminister Ribbentrop und der Ex-General Keitel Befehle zur Ermordung von Juden, Polen und russischen Kriegsgefangenen erteilt hätten. Ein ehemaliger SS-Einsatzgruppenführer berichtet von Massenhinrichtungen.

Man könnte denken, die Angeklagten hätten eine verschworene Gemeinschaft gebildet, aber davon ist auf der Anklagebank nichts zu sehen. Da sitzt ein Haufen von Egomanen, die sich gegenseitig verachten. Göring und Streicher haben sich vor langer Zeit wegen eines Mädchens zerstritten. Der einstige Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht hält Göring, Keitel, Rosenberg und Ribbentrop für „Kriminelle“, Karl Dönitz, Hitlers Nachfolger als Reichspräsident, verabscheut Streicher, Frank hasst alle außer Ribbentrop. Die Gruppendynamik ist so kompliziert, dass die Gefängnisleitung bald entscheidet, die Gefangenen beim Essen aufzuteilen. Göring, der immer wieder Mithäftlinge piesackt, muss alleine essen. Er tobt.

Im Januar 1946 fliegt ein Komplott auf. In Fürth, der Nachbarstadt von Nürnberg, wird ein unterirdisches Depot mit Dynamit gefunden. SS-Männer planten, Göring, Heß und andere Häftlinge aus dem Gefängnis zu befreien. Sie hatten vor, sich falsche Ausweispapiere und alliierte Uniformen zu besorgen und in den Gerichtssaal einzudringen. Dort wollten sie Richter und Ankläger ermorden. Die Alliierten verstärken daraufhin den Schutz des Justizpalastes.

Yves Beigbéder, 96, assistierte einem der Richter. 

Yves Beigbéder hat die knarzende, rollende Stimme eines 96-Jährigen. Natürlich ist er seit Langem in Rente. Er vertreibt sich die Zeit damit, politische Kommentare zu verfassen, die er an Freunde schickt, und nimmt – wegen der Pandemie inzwischen auf Zoom – an Konferenzen mit ehemaligen Kollegen von den Vereinten Nationen teil. Beigbéder ist Jurist, Spezialgebiet: Völkerrecht. Als er im Frühjahr 1946 in Nürnberg ankommt, ist er 22 Jahre alt und hat gerade seinen ersten Jura-Abschluss gemacht. Kurz zuvor hat ihn der Hilferuf seines Onkels ereilt, der einer von zwei französischen Richtern in Nürnberg ist. Der Onkel benötigt einen Assistenten. Am besten einen, der auch Englisch spricht, denn der Onkel kann nur Französisch und Deutsch.

Die französische Delegation ist quasi mittellos, ihre Mitglieder repräsentieren ein durch Krieg und Besatzung ausgezehrtes Land. Insgesamt gibt es in Nürnberg nicht mehr als 50 französische Mitarbeiter, Amerikaner und Briten dagegen haben Hunderte.

Yves Beigbéder kennt als frischgebackener Jura-Absolvent das Recht nur in der Theorie, allerdings geht es ihm da gar nicht so anders als seinem Onkel, der eigentlich Professor für Strafrecht ist und noch nie ein Urteil gesprochen hat. Der zweite französische Richter war früher beim Kassationsgericht. Nach dem Einmarsch der Deutschen in Paris war er abgesetzt worden. Yves, die beiden Richter und deren Frauen leben in Nürnberg in einer Art Wohngemeinschaft in einem beschlagnahmten Haus.

Die Amerikaner und die Briten versorgen die armen Franzosen mit allem Nötigen. Beigbéder ist beeindruckt von ihrer Großzügigkeit. Morgens werden die französischen Richter zu Hause von amerikanischen Bodyguards abgeholt. Wollen Beigbéders Onkel und sein Richterkollege am Wochenende einen Ausflug machen, dürfen sie mit einem Wagen der Briten durch die Gegend fahren.

Am Gericht hat Yves Beigbéder die Aufgabe, die französischen Wortlautprotokolle der Verhandlungen zusammenzufassen. Der Onkel hat ihm die Zuständigkeit für sieben Angeklagte übertragen. Rudolf Heß gehört zu ihnen, außerdem (ZEIT). Baldur von Schirach, der für die Hitlerjugend verantwortlich war. Yves war mal bei den Pfadfindern. Sein Onkel denkt, er könnte sich deshalb für von Schirach interessieren.

In seinem kleinen Büro, das nah am Saal 600 liegt, verdichtet Beigbéder das, was zuvor Simultandolmetscher übersetzt und Protokollanten niedergeschrieben haben. Mit Heß hat er nicht viel Arbeit, da der den Prozess weitgehend teilnahmslos absitzt. Für die Richter resümiert Beigbéder, was von Schirach erklärt hat, der Mann, der eine ganze Generation von Heranwachsenden mit Herrenrasse-Ideologie und Untermenschen-Gedanken vergiftet hat: Jetzt bedauere er, behauptet von Schirach, die Jugend für Hitler erzogen zu haben. Beigbéder nimmt ihm das Bedauern nicht ab.

Abends geht er gerne mal aus. Dafür gibt es für die internationalen Gäste in Nürnberg genau einen Ort. Das Grand Hotel ist wie der Gerichtspalast von den Bomben verschont geblieben. Hier wohnen viele Gerichtsmitarbeiter. Kronleuchter, Buffets, Drinks, Tänzerinnen – eine glitzernde Welt, die jeden Abend für ein paar Stunden vergessen lässt, worüber in den Stunden zuvor in Saal 600 gesprochen wurde. Im Grand Hotel kommen sich sogar die einander sonst so misstrauisch beäugenden Amerikaner und Russen näher. Hauptankläger Jackson gibt zu Ehren des stellvertretenden sowjetischen Außenministers ein Abendessen, bei dem der Ehrengast einen Toast ausbringt: „auf die Hinrichtung aller Angeklagten“.

„Wir wussten davon nichts“

Elly Kupfer darf nicht ins Grand Hotel, eigentlich. Deutschen, die nicht im Hotel arbeiten, ist der Zutritt verboten. Aber sie hat jemanden, der sie reinschleust. Elly hat einen jungen Belgier kennengelernt, einen Übersetzer, der wie sie für die Verteidigung arbeitet. Er stand eines Tages hinter ihr und diktierte ihr etwas, das sie in ihre Maschine tippte. So ging es los. Elly ist verliebt.

Ihr neuer Freund hat ihr erzählt, dass er in Brüssel eine Prüfung ablegen musste. Er hatte eine Seite aus Alfred Rosenbergs Mythos des 20. Jahrhunderts zu übersetzen, jener Schrift, die dem Nationalsozialismus das ideologische Fundament verleihen sollte. Ellys Freund hat am Gericht von den Gräueln in den Konzentrationslagern gehört. Nun hat er Fragen an sie.

„Wir wussten davon nichts“, sagt Elly zu ihm. Sie nimmt den Freund bald auch mit nach Hause. Dort stellt er den Eltern die gleichen Fragen, sie lassen ihn einfach nicht los. Die Eltern, die nicht in der NSDAP waren, aber auch nicht im Widerstand, sagen: „Wir wussten nichts.“ Nur ein paar Andeutungen seien über die Radiosendungen der BBC zu ihnen durchgedrungen, die sie heimlich gehört haben. Der Freund versteht es nicht. Trotzdem glaubt er Elly und den Eltern, da ist sich Elly Kupfer-Dierckx heute noch sicher.

Der Prozess verläuft nach amerikanischem Muster: Die Ankläger präsentieren das belastende Material. Die Verteidiger legen Entlastendes vor. Dann werden die Angeklagten von beiden Seiten ins Kreuzverhör genommen. Der amerikanische Ankläger Jackson und Göring liefern sich im März 1946 ein Duell. Jackson will unter anderem belegen, dass Göring aktiv den Krieg vorbereitet hat. Er wirft ihm vor, im Geheimen die Mobilmachung vorangetrieben zu haben. Göring kontert ironisch: „Ich glaube mich nicht zu erinnern, die Mobilmachungsvorbereitungen der Vereinigten Staaten jemals vorher gelesen zu haben.“ Göring gewinnt das Duell.

Er hatte erfolgreich den Oberankläger Jackson angebrüllt, einen Richter des höchsten Gerichts der Vereinigten Staaten. Zu einem „Kampf der Ideen“ kam es nicht, weil Jackson auf keine zu kommen schien. Es war nicht mehr – und das war schlecht genug – als ein wichtiger Kampf zwischen dem Denken und den Charakteren zweier gegensätzlicher Männer, und Göring war in beidem der Überlegene. Darüber hinaus zeigte er ein phänomenales Gedächtnis und eine bemerkenswerte Gabe für spitzfindige Manöver, und natürlich wußte er mehr über die Nazis und die übrige europäische Geschichte.

(…) Jacksons tiefe Überzeugung, die Nazi-Angeklagten seien nichts anderes als gewöhnliche Verbrecher, führte logischerweise dazu, sie in jener aufbrausenden Art zu behandeln, die bei Prozessen unterer Instanzen üblich ist. Bei den feigen kleinen Ganoven führte das zum Erfolg, aber beim Kreuzverhör mit dem ungewöhnlichen Verbrecher Göring, der selbst besser toben konnte, war es für Jackson verheerend.
Janet Flanner, The New Yorker

Elly Kupfer hat den Eindruck, dass ihr Chef sehr einverstanden damit ist, wie jetzt den Nazis der Prozess gemacht wird. Manchmal nimmt er sie mit auf Außer-Haus-Termine. Einmal fahren sie zusammen ins Kriegsgefangenenlager Friedberg. Die Zeugen, die dort einsitzen, werden in einen Raum gebracht, wo der Chef sie vernimmt. Immer sucht er nach Fällen, in denen die Gestapo jemanden verschont, eine Person nicht nach Auschwitz geschickt hat. Selten wird er fündig. Dann hat Elly Kupfer wieder etwas zu tippen.

Hans Frank macht seine Aussage

Zeitungen und Radio informieren regelmäßig über den Prozess, im Kino berichtet die Wochenschau. Sobald die Bilder aus Saal 600 über die Leinwand flimmern, herrscht bei den Franks helle Aufregung. Sie hoffen, den Vater zu sehen. Schwenkt die Kamera über die Köpfe von Göring und Heß weiter nach rechts, bis zu Hans Frank, fangen Niklas und seine Geschwister an zu jubeln. „Schau, da ist der Vati!“, rufen sie aufgeregt. Niklas’ Mutter findet, ihr Mann sei der am besten aussehende Angeklagte.

Am 18. April 1946 tritt Hans Frank in den Zeugenstand. Er hat sich im Gefängnis taufen lassen. Er spricht Unglaubliches: „Ich selbst möchte aber hier ganz aus der Tiefe meines Empfindens und aus dem Erleben der fünf Monate dieses Prozesses heraus sagen, dass ich, nachdem ich nunmehr den letzten Einblick gewonnen habe in all das, was an furchtbarem Grauen geschehen ist, das Gefühl einer tiefen Schuld in mir trage (…). Tausend Jahre werden vergehen und diese Schuld von Deutschland nicht wegnehmen.“

Göring ist empört, Franks eigener Anwalt überrumpelt. Und Yves Beigbéder ist elektrisiert. Unter dem Eindruck von Franks Auftritt setzt er sich an seine Reiseschreibmaschine und verfasst einen Artikel für die französische Wochenzeitung Réforme. „Der ehemalige Gauleiter übernimmt mutig die Verantwortung für die Ereignisse in Polen seit 1939, indem er eine späte Reue zeigt, aber sicher eine ehrliche.“

Kann das sein? Bringt das Nürnberger Gericht tatsächlich die Täter zu einer Auseinandersetzung mit ihren Taten?

Die eigentliche Verhandlung ist zu Ende

Vom Korridor vor dem Nürnberger Gerichtssaal führt eine schmale Steintreppe hinauf zu der Besuchergalerie und zu den Senderäumen. Ich habe diese Treppe oft benutzt. Eines Tages stieß ich etwas unsanft mit einem Mann zusammen, der mir plötzlich entgegenkam. Ich entschuldigte mich, er tat das gleiche. (…) Der Mann, mit dem ich zusammenstieß, war klein, hatte einen blauen Anzug an, war etwa 40 Jahre alt und schien einer der kleinen Angestellten zu sein, die das Justizgebäude bevölkerten. Etwa eine halbe Stunde später sah ich den Mann im blauen Anzug im Zeugenstand wieder. Er nannte seinen Namen: Rudolf Höß, der Lagerkommandant des Vernichtungslagers Auschwitz (…). Nach seinen eigenen Aussagen hatte er zwei Millionen Menschen getötet. Es ist eine erschreckende Feststellung, dass ein millionenfacher Mörder wie ein kleiner, braver und tüchtiger Angestellter aussehen kann.
Karl Anders, Im Nürnberger Irrgarten

Höß ist nicht angeklagt. Er soll eigentlich als Entlastungszeuge auftreten. Doch es läuft anders, als die Verteidigung sich das gedacht hat. Höß sitzt vor einer Landkarte, auf der die Standorte von 22 Konzentrationslagern sowie von 1202 Außenlagern und Außenkommandos eingezeichnet sind. Yves Beigbéder registriert, wie unglaublich nüchtern Höß darlegt, was in Auschwitz geschehen ist. Das Gas. Die medizinischen Experimente. Später wird Höß in Polen selbst angeklagt und zum Tode verurteilt werden.

Als er jetzt in Nürnberg aussagt, poltert Göring los. Gerade hat er, Göring, dem Gericht erklärt, dass ein Massenmord, wie er ihnen vorgeworfen wird, in den Lagern technisch gar nicht möglich gewesen wäre. Und nun berichtet Höß von millionenfachem Töten.

Es wird Sommer. Ankläger und Verteidiger, Zeugen und Angeklagte wurden gehört. Letzte Worte werden gesprochen. Göring säuselt etwas von „heißer Liebe“ zu seinem Volk, Heß rafft sich doch noch einmal zu einer Beteiligung am Verfahren auf: „Selbst wenn ich es könnte, wollte ich diese Zeit nicht auslöschen aus meinem Dasein.“

Hans Frank nimmt das Schuldbekenntnis, das den jungen Beigbéder so sehr beeindruckt hat, wieder zurück. „Ich muss nur noch ein Wort von mir berichtigen. Ich sprach im Zeugenstand von tausend Jahren, die die Schuld von unserem Volke wegen des Verhaltens Hitlers in diesem Krieg nicht nehmen könnten“, sagt Frank in seinem Schlussplädoyer. Doch die „riesigen Massenverbrechen entsetzlichster Art, die, wie ich jetzt erst erfahren habe, vor allem in Ostpreußen, Schlesien, Pommern und im Sudetenland von Russen, Polen und Tschechen an Deutschen verübt wurden und noch verübt werden, haben jede nur mögliche Schuld unseres Volkes schon heute restlos getilgt“.

Die eigentliche Verhandlung ist zu Ende, die Richter ziehen sich zu ihren Beratungen zurück. Einen ganzen Monat werden sie brauchen. Yves Beigbéder isst weiterhin jeden Abend zusammen mit den beiden französischen Richtern, aber während sie ihre Suppe löffeln, verlieren die beiden kein Wort über das, was sie tagsüber mit ihren Kollegen besprechen.

Elly Kupfers Mutter fragt: Wozu hinrichten? Lebenslange Haft würde auch reichen.

Der Verteidiger Alfred Seidl, der sowohl Hans Frank als auch Rudolf Heß vertritt, besucht die Franks am Schliersee. Seidl eröffnet Niklas’ Mutter, dass er fest mit einem Todesurteil rechne. Die Beweise gegen ihren Mann seien einfach erdrückend.

Es ist ein strahlender Spätsommertag Ende September 1946, als sich mehrere Familien auf den Weg durch das zerstörte Nürnberg in Richtung Gefängnis machen. Emmy Göring kommt mit ihrer Tochter Edda, die Ribbentrops sind da, die Ehefrau und die Kinder des ehemaligen Reichsinnenministers Wilhelm Frick. Niklas trägt eine kurze Hose, dazu ein Jäckchen über dem Hemd. Seine Mutter hat einen Hut mit breiter Krempe und eine Sonnenbrille aufgesetzt. Die Görings, die Ribbentrops, die Fricks und Franks dürfen den Vater, den Ehemann besuchen.

Sie gehen durch Türen und Gänge, und am Ende stehen sie in einer Art Wartezimmer. Es ist ziemlich voll. Die Kinder dürfen nur einzeln oder mit der Mutter zum Vater, die anderen müssen so lange draußen bleiben. Um Niklas herum sind die Kinder der anderen Gefangenen, sein großer Bruder Norman unterhält sich mit dem Sohn von Julius Streicher.

Auf einmal geht die Tür auf. Seine Mutter bedeutet Niklas, dass er nun an der Reihe ist. Niklas steht auf, die Mutter nimmt ihn an der Hand, und zusammen gehen sie in den dunklen Besucherraum.

Der Erste, den Niklas beim Eintreten erkennt, ist Hermann Göring. Er hockt gleich gegenüber der Eingangstür – wie alle Gefangenen hinter einer Glasscheibe. Er spricht mit seiner Frau Emmy und der Tochter Edda. Niklas geht nach rechts. Sein Vater lächelt ihn an. Er sagt durch die Scheibe: „Niki, bald werden wir wieder schön und lustig Weihnachten feiern im Schoberhof.“

Niklas, den die Mutter auf ihren Schoß gehievt hat, hört artig zu. Innerlich fragt er sich: Warum lügt der? Er weiß doch, dass er gehängt wird.

Dann erzählt der Vater ihm eine Geschichte: Der Huber-Toni, der ein Räuber war, habe nie im Wald scheißen wollen – aus Angst vor anderen Räubern. Mehr kommt vom Vater nicht.

Nach knapp zehn Minuten ist die Besuchszeit vorbei. Niklas klettert vom Schoß der Mutter und geht zum Ausgang. Er dreht sich noch einmal um. Der Vater lacht und winkt ihm zu.

Hermann Göring war schneller als der Henker

Ein paar Tage später, am 1. Oktober 1946, sitzt Niklas’ Mutter in ihrer Wohnung am Schliersee um 15 Uhr vor dem Radiogerät. Der Bayerische Rundfunk überträgt die Urteilsverkündung live aus dem Gerichtssaal.

Brigitte Frank hat eine Liste mit den Namen der Angeklagten angefertigt. Hinter jedem, der zum Tode verurteilt wird, will sie ein Kreuz machen. Sie hört den Reporter die Urteile verkünden.

Hermann Göring, Tod durch den Strang.

Brigitte Frank macht ein Kreuzchen hinter dem Namen Hermann Göring.

Rudolf Heß: lebenslänglich.
Joachim von Ribbentrop: X.
Wilhelm Keitel: X.
Ernst Kaltenbrunner: X.
Alfred Rosenberg: X.
Albert Speer: 20 Jahre Haft

Als Hans Frank dran ist, ruft die Stimme aus dem Radio: „Und jetzt wird zwischen zwei amerikanischen Soldaten der Angeklagte Hans Frank hereingeführt. Heute Morgen wurde der Schlächter von Polen in den Anklagepunkten drei und vier schuldig gesprochen, nämlich Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Er tritt an den Tisch, auf dem die Kopfhörer liegen, er setzt sie sich auf, jetzt spricht Lordrichter Lawrence das Strafmaß: Angeklagter Hans Frank, gemäß den Punkten der Anklageschrift, unter welchen Sie für schuldig befunden wurden, verurteilt Sie der Internationale Militärgerichtshof zum Tode durch den Strang.“

Hans Frank: X.

Elf Todesurteile, dazu das von Bormann, der in Abwesenheit verurteilt wird. Einer der Gefangenen findet den Galgentod unehrenhaft: Widerstandskämpfer gegen Hitler starben am Strick. Das will er nicht. Der Gefangene stellt einen Antrag, man möge ihn erschießen. Abgelehnt.

Als ein Wärter um 22.47 Uhr durch das Guckloch in die Zelle schaut, liegt der Gefangene röchelnd auf dem Bett. Er hat eine Zyankalikapsel geschluckt.

Hermann Göring war schneller als der Henker.

Zwei Stunden später wird der erste der verbliebenen zehn Todeskandidaten aus seiner Zelle abgeholt und in die Turnhalle des Gefängnisses gebracht, es ist Joachim von Ribbentrop.

Die zehn ehemals bedeutendsten Männer in Hitlers Reich, das 1000 Jahre hätte währen sollen, mußten 13 Holzstufen zu einer etwa zweieinhalb Meter hohen und zweieinhalb Quadratmeter großen Plattform hinaufsteigen. Die Stricke hingen von einem Querbalken herab, der von zwei Pfosten getragen wurde. Für jeden Mann wurde ein neues Seil verwendet.
Joseph Kingsbury Smith, International News Service

Niklas Frank ist für eine Weile ins Kinderheim in Schäftlarn geschickt worden. Nach dem Tod ihres Mannes holt die Mutter Niklas und die beiden Geschwister zu einem Spaziergang ab. Das Wetter ist schön. Sie sagt, der Vater sei nun im Himmel. Während seine zwei Geschwister anfangen zu weinen, bleibt Niklas stumm. Er hat nichts anderes erwartet.

Die obersten Nazis sind tot. Einige Dutzend weitere müssen sich in den folgenden Jahren und Jahrzehnten für ihre Taten vor Gericht verantworten. Die meisten Männer und Frauen jedoch, die mit den Nazis sympathisierten, Geschäfte machten, sie unterstützten, kommen ungeschoren davon. Sie setzen im Nachkriegsdeutschland ihre Karrieren fort, lehren als Professoren an Universitäten, arbeiten als Lehrer in Schulen, nehmen auf Richterstühlen Platz. Noch heute wird gegen KZ-Wächter und andere Kriegsverbrecher ermittelt und prozessiert. Es sind die letzten Möglichkeiten, Recht zu sprechen. Noch leben die letzten Täter, noch leben die letzten Zeugen.

Niklas Frank beschäftigt sich bis heute als Journalist und Autor mit den Taten des Vaters. Er ist jetzt 81 Jahre alt. Vor Kurzem hat er ein Buch geschrieben: Auf in die Diktatur! Die Auferstehung meines Nazi-Vaters in der deutschen Gesellschaft.

Elly Kupfer arbeitet nach dem Urteil im Hauptkriegsverbrecherprozess noch einige Zeit weiter als Sekretärin des Militärtribunals. Sie heiratet den Übersetzer, den sie am Gericht kennengelernt hat, und lebt bis zu dessen Tod mit ihm in Belgien.

Yves Beigbéder macht Karriere bei den Vereinten Nationen und der Weltgesundheitsorganisation, er wird Professor für internationales Recht. Er schreibt über die Aufarbeitung der Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien, in Ruanda, in Kambodscha, über den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, der 2003 seine Arbeit aufnimmt, und über die direkte Linie, die sich von Nürnberg nach Den Haag ziehen lässt.

Ernest Lorch bleibt, nachdem er die Gefangenen abgeliefert hat, noch eine Woche in seiner alten Heimatstadt. Er sucht und findet das Juweliergeschäft seines Vaters, sein Elternhaus, das Grab seines Vaters. Dann reist er in die USA ab. Dreimal kehrt er noch nach Nürnberg zurück, zuletzt vor ein paar Jahren. Er sagt, er spüre nach wie vor eine Verbindung zu dieser Stadt.

Nov. 2020 | Allgemein, Essay, In vino veritas, Junge Rundschau, Politik, Sapere aude, Senioren, Zeitgeschehen | Kommentieren

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