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Religion ist keine reine Privatsache – der Leiter des Collège de France im Gespräch

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Le Collège de France vous ouvre ses portes – Statue de Guillaume de Bude

Die Hochschulen seien zu islamfreundlich: Das hat der französische Bildungsminister den Universitäten vorgeworfen. Thomas Römer hält die Kritik für verfehlt. Der Leiter des prestigeträchtigen Collège de France erklärt im Gespräch, was der Bildung in seinen Augen fehlt:
? Herr Römer, Sie sind Hochschullehrer – Mitte Oktober ist ein Lehrer ermordet worden. Sie sind Theologe – jüngst wurden drei Kirchgänger umgebracht. Was haben diese islamistischen Attentate bei Ihnen ausgelöst?

Es war ein grosser Schock. In der Nacht nach der Enthauptung des Lehrers konnte ich nicht schlafen. Mord ist ja schlimm genug, aber Enthauptung – da fühlt man sich wirklich ins Mittelalter zurückversetzt. Und ich fragte mich dauernd, wie es sein kann, dass in einer aufgeklärten Republik Leute herumgehen, die andere aufgrund ihrer Ansichten vernichten wollen. Nach dem Attentat in Nizza und nun auch in Wien wirkt es, wie wenn wieder Glaubenskriege ausbrechen würden, und dies in einer Situation, in der die europäischen Staaten wegen der Covid-19-Krise sehr geschwächt sind. Dazu kommt auch die Sorge, dass sich die Gesellschaft weiter spaltet und grundsätzlich Stimmung gemacht wird gegen den Islam und die Muslime. All das beschäftigt mich sehr.

Der Umgang mit Religion, heisst es nun immer, sei in Frankreich ein ganz besonderer. Sie haben in Deutschland studiert und lange in der Schweiz gelehrt. Das sind ja auch säkulare Staaten – wie hebt sich die französische Haltung zur Religion davon ab?

Es gibt gerade in der Mentalität tatsächlich erhebliche Unterschiede, die sich auch deutlich in den Institutionen spiegeln. In Deutschland und in der Schweiz ist es ja zum Beispiel ganz selbstverständlich, dass theologische Fakultäten in die Unis eingegliedert sind. In Frankreich ist das völlig anders, einzig die Uni Strassburg bietet ein Theologiestudium an, und dies auch nur, weil das Elsass nicht zu Frankreich gehörte, als 1905 die Trennung zwischen Kirche und Staat beschlossen wurde. Während also anderswo die Auseinandersetzung mit der Religion zur Bildung und gewissermassen auch zur Kultur dazugehört, ist das in Frankreich nicht der Fall.

Weil Religion in Frankreich schlicht Privatsache ist. Was ist daran schlecht?

Man verstehe mich nicht falsch: Ich bin ein Verfechter der Laizität, natürlich muss der Staat neutral sein, und die Religion zu lobpreisen, liegt mir fern. Nur glaube ich, dass Religion einfach keine reine Privatsache ist. Sie ist ein Teil des öffentlichen Diskurses, sie hat die Geschichte und die Gegenwart stark beeinflusst, sie im Guten wie im Schlechten geprägt. In meinen Augen wäre es deshalb sehr wichtig, zumindest gewisse Grundkenntnisse über die Religionen zu vermitteln und eben nicht alles ins Private abzuschieben.

Verstehe ich richtig: Sie sind der Meinung, dass man mehr reden müsste über die Religionen, zum Beispiel in den Schulen?

Ja! Über Jahrzehnte hinweg hat man es nicht geschafft, einen laizistischen Religionsunterricht einzurichten. Die Schulkinder werden zwar mit den antiken Klassikern vertraut gemacht, sie lesen Homer und erfahren etwas über das Gilgamesch-Epos. Aber sobald es um die Bibel und den Koran geht, beginnt das Schweigen. Wenn die Franzosen bezüglich Christentum, Judaismus oder Islam etwas lernen, dann hauptsächlich in privaten Institutionen. Ich halte das für ein grosses Problem, da so eine gemeinsame Wissensbasis fehlt.

Woher rührt eigentlich diese besonders strikte Trennung der Sphären?

Unter anderem kann man sie durch die spezielle Ausgangslage in Frankreich erklären. In der Schweiz oder in Deutschland gab es seit der frühen Neuzeit Protestanten und Katholiken, die sich zusammen arrangieren mussten. In Frankreich dagegen waren Gesellschaft und Politik lange fast exklusiv von der katholischen Kirche dominiert. Bei der Trennung von Kirche und Staat ging es hier darum, eine besonders stark ausgeprägte katholische Vormachtstellung zu brechen, und darum wurde die Trennung auch besonders rigid durchgesetzt und auch von protestantischen und jüdischen Intellektuellen stark unterstützt.

Man könnte meinen, dass Frankreich auch in anderen Bereichen besonders kompromisslos sei: Das in der Aufklärung erkämpfte Recht auf freie Meinungsäusserung etwa wird momentan vehement verteidigt. Blickt man etwas zurück, präsentiert sich die Sache jedoch diffuser. Jacques Chirac zum Beispiel hat sich 2006 kritisch geäussert zu den damals publizierten Mohammed-Karikaturen, die er als Provokation erachtete. Was ist in der Zwischenzeit geschehen?

Chirac warnte davor, Öl ins Feuer zu giessen. Sicher hätte er sich nie gegen die Meinungsfreiheit ausgesprochen, aber er hatte wohl eine etwas differenziertere Haltung als Macron. Jedoch wäre es sehr gefährlich, deftige Religionskritik nur noch selektiv anzuwenden, etwa am Christentum, um die Sensibilitäten der Muslime nicht zu stören. So würde man zuletzt in einem Konstrukt leben, das keine Republik mehr ist, sondern eine Ansammlung von verschiedenen und verschieden zu behandelnden religiösen oder ideologischen Gruppen. Da halte ich es mit Macron: Man muss versuchen, ein gemeinsames Zusammenleben hinzubekommen.

Absolut einverstanden. Aber weil wir ja eben Meinungsfreiheit haben, kann man doch auch fragen: Muss man denn immer alles tun, was man tun darf? Genauso wie die Meinungsfreiheit ist ja auch die Vernunft ein Erbe der Aufklärung, und in manchen Situationen könnte sie es einem gebieten, auf Dinge zu verzichten, die man eigentlich tun dürfte.

Natürlich, die Lage ist hier sehr kompliziert. Jules Ferry, einer der Gründerväter der Dritten Republik, hat Wert darauf gelegt, dass etwa Grundschullehrer frei und offen sprechen, dabei aber auch bedenken, wie ihre Reden bei den Eltern ankommen können. Ohne sich zu zensieren, sollte man diese Frage immer einbeziehen in seine Überlegungen. Samuel Paty, der ermordete Lehrer, hat freilich genau das gemacht und muslimischen Kindern angeboten, dass sie den Raum vor der Diskussion über die Karikaturen verlassen könnten . . . Insgesamt habe ich aber oft den Eindruck, dass Frankreich ein viel emotiveres Land ist, als man glaubt.

Wie meinen Sie das?

Man hält die Vernunft und die Rationalität zwar immer sehr hoch, lebt aber nur beschränkt danach. Deutlich wird mir das oft in der Politik, die nüchternen Auftritte von Merkel oder Berset im Kontext der Covid-19-Krise sind mit jenen von Macron nicht zu vergleichen, und auch die Bevölkerung hat eine viel emotionalere Haltung zur Autorität. Man kritisiert die Macht zwar ständig, erwartet aber doch, dass ein starker Mann die Dinge sicher führt. Ich sehe das auch selber auf meinem Posten: Weil ich an der Spitze der Organisation stehe, meinen viele Kollegen und Angestellte, dass ich auf alles eine Antwort hätte.

Auf Ihrem Posten brauchen Sie sowieso ein dickes Fell: Ich habe gelesen, dass Sie Drohbriefe von fundamentalistischen Christen erhalten.

Das kommt vor, ja. Ich betrachte die Bibel möglichst objektiv und untersuche sie als historischen Text wie jeden anderen – das gefällt nicht allen. Einige wollen mich nur auf den richtigen Weg zurückbringen. Aber einmal habe ich einen Briefumschlag mit Asche erhalten, dazu den Vermerk, dass ich so enden würde, wenn ich weiter meine Bücher veröffentlichte.

Wie gehen Sie damit um?

Damit muss man einfach leben. Ebenfalls sind Forschungen von mir auf fundamentalistischen islamistischen Webseiten erschienen. Da hiess es dann: Seht her, Professor Römer hat bewiesen, dass in der jüdischen Bibel alles erstunken und erlogen ist. So gekapert zu werden, stört mich natürlich sehr, ich bin ja dafür, dass man den Koran auf genau die gleiche Weise analysiert, wie ich es mit der Bibel mache. Aber man darf wegen dieser Extremisten nicht beginnen, sich selber zu zensieren, es gibt sie nun einmal auf allen Seiten.

Während aber die einen Extremisten „nur“ widerwärtige Briefe schreiben, greifen die anderen zum Beil.

Ja, zwar gibt es bei allen drei grossen Monotheismen gewisse integristische Tendenzen, aber die Strukturen sind doch sehr unterschiedlich. Auch bei dem Lehrermörder zeigt sich ja inzwischen, dass seine Tat kein blosser individueller Akt war, sondern dass er sich in einem ideologisch aufgeladenen Umfeld bewegte. Offensichtlich gibt es im islamistischen Extremismus Organisationen, die einen Religionskrieg heraufbeschwören wollen.

Man müsste geeint sein vor dieser Bedrohung, tatsächlich wirkt aber gerade die intellektuelle Welt momentan sehr zerstritten. Der französische Bildungsminister hat den Universitäten vorgeworfen, den Islam allzu freundlich zu behandeln, was Zustimmung, Protest und letztlich Zwist hervorgerufen hat. Wie beurteilen Sie diese Kritik?

Ich wüsste wirklich nicht, auf welcher Hochschule dem Islamismus der Hof gemacht würde. Die Kritik, dass die Unis von «islamo-gauchistes» durchsetzt seien, halte ich für verfehlt. Natürlich gibt es an Hochschulen Forscher, die versuchen, die Genese von integristischen Strömungen zu verstehen, das bedeutet ja aber nicht, dass man sie begrüsst oder gar fördert. Und selbstverständlich finden sich an den Unis unterschiedliche Positionen in der Frage, inwieweit man den Islam als Religion in der Öffentlichkeit zu respektieren hat. Diese Debatte führt man aber schon lange.

Es hat sich über die Jahre aber etwas verschoben: Die Linke, die die Laizität einst erkämpfte und verfocht, ist im Umgang mit den Muslimen immer stärker abgerückt von dem Konzept.

So pauschal würde ich das nicht sagen. Es gibt bei den Linken, sei es bei Intellektuellen oder in den Parteien, verschiedene Strömungen. Denjenigen, die die Laizität hochhalten, stehen zwar tatsächlich solche gegenüber, die den Islam quasi als unterdrückte Religion sehen. Diese Seite macht dann Abstriche an der laizistischen Grundhaltung, um den Muslimen entgegenzukommen. Aber insgesamt hat die Begeisterung für den Islam bei den Linken in den letzten Jahrzehnten merklich abgenommen.

Das müssen Sie mir erklären.

Als ich in den frühen 1980er Jahren erstmals für längere Zeit nach Paris kam, herrschte hier unter Intellektuellen eine wahre und ziemlich blauäugige Islamophilie. Philosophen feierten den Islam als aufgeklärteste aller Religionen, einige wechselten auch den Glauben, Christen- und Judentum erschienen als ewiggestrig. Diese Euphorie ist vollkommen verschwunden. Wenn heute über Islamfreundlichkeit diskutiert wird, geht es um viel pragmatischere Fragen. Es geht immer darum, inwiefern der Islam sichtbar sein soll in der Französischen Republik, es geht also etwa um den Burkini am Strand oder ums Schweinefleisch in den Schulkantinen.

Diese Debatten drehen sich oft im Kreis. Was kann eine intellektuelle Institution wie die Ihre zu einem weiterführenden Diskurs beitragen?

Wir können und müssen immer weiter daran arbeiten, Wissen zugänglich zu machen, und zwar ohne Tabus. «Docet omnia» ist unser Motto, alles soll gelehrt werden. Darum habe ich mich zum Beispiel dafür eingesetzt, dass am Collège de France als Pendant zu meinem Lehrstuhl auch einer zu den Anfängen des Korans eingerichtet wird. Mein Kollege zeigt dort, dass der Koran nicht einfach vom Himmel gefallen ist, sondern wie die Bibel ein historischer Text ist.

Am Collège de France stehen die Vorlesungen zwar allen Interessierten offen, aber besuchen am Schluss nicht doch nur Leute aus der Intellektuellenblase solche Kurse?

Nein – das ist nun auch wieder ein französisches Spezifikum. In der Schweiz und in Deutschland habe ich manchmal an Volkshochschulen unterrichtet. Wenn dort 100 Leute kamen, war das ein grosser Erfolg. Hier am Collège de France füllen wir mit humanwissenschaftlichen Themen regelmässig den grössten Saal und referieren vor 450 Personen. Im Lockdown wurde auch sehr stark auf unser Online-Angebot zugegriffen. Der Wissensdurst ist da. Und auch die Bereitschaft, sich mit Dingen auseinanderzusetzen, die man vielleicht nicht ganz versteht, ist hier ermutigend gross.


Thomas Römer – ein deutscher Theologe auf dem französischen Olymp

[2]Ans Collège de France berufen zu werden, gilt in der akademischen Welt als Ritterschlag. Das 1530 gegründete Forschungsinstitut mit Sitz in Paris umfasst gut 50 Lehrstühle, die von der Kosmologie über die Sprachphilosophie bis zur Informatik alle Wissenschaftszweige abdecken. Fixe Studiengänge gibt es hier nicht, die Vorlesungen sind kostenlos und stehen der Allgemeinheit offen. Mit welchen Forschungsgrössen die Lehrstühle besetzt werden, legt das Gremium der Professoren fest. 2007 hat es Thomas Römer nach Paris geholt und dem Theologen und Alttestamentler einen Lehrstuhl unter dem Titel «Milieux bibliques» geschaffen. 1955 in Mannheim geboren, hat Römer in Tübingen und Heidelberg studiert und sich schon früh in Paris aufgehalten, ehe er an der Universität Genf und ab 1993 als ordentlicher Professor für hebräische Bibel in Lausanne lehrte. In Paris ist Römer inzwischen eine besondere Ehre zuteilgeworden: 2019 ist er als erster Ausländer zum «Administrateur», also zum Leiter, des Collège de France ernannt worden.
[3]Römer hat zahlreiche, meist auf Französisch verfasste Bücher veröffentlicht, auf Deutsch ist von ihm zuletzt erschienen:
«Die Erfindung Gottes. Eine Reise zu den Quellen des Monotheismus»
(wbg, 2018   49.95
Klappentext: Wie konnte ein Gott unter vielen zu „dem Gott“ werden? Das ist die Grundfrage, die Thomas Römer in seiner Untersuchung zu den Ursprüngen des Monotheismus beantwortet. Woher stammt dieser Gott? Was waren seine Attribute und wie lautete sein Name, bevor dieser zum unaussprechlichen Tabu wurde? In welchen Erscheinungsformen wurde er verehrt? Wie kam es, dass die anderen Gottheiten ihm gegenüber an Macht verloren? Im Lichte der historisch-kritischen Philologie und Exegese sowie unter Berücksichtigung der neusten archäologischen und epigraphischen Erkenntnisse zeichnet das Buch die Etappen der Er-Findung des einen Gottes über ein ganzes Jahrtausend nach – auf den Spuren eines Wetter- und Kriegsgottes, der nach seinem „Sieg“ über seine Rivalen zum einzigen, universellen und transzendenten Gott wurde.