Für die Künstler, für das Publikum, für die Kunst: Wir beenden unser Festival jetzt nicht, wir verschieben nur sein Ende: Ab Montag, den 02. November 2020, unterbricht Enjoy Jazz den Festivalbetrieb bis voraussichtlich Ende des Monats. Nach vier erfolgreichen Wochen, in denen wir trotz stark
reduzierter Publikumskapazitäten gemeinsam begeisternde Konzerte mit vielen spannenden Neuentdeckungen feiern durften, holen wir nun kurz mal tief Luft. Die uns auferlegte
konzertfreie Zeit werden wir u. a. dazu nutzen, die im November nicht stattfindenden Konzerte so zu verschieben, dass diese zum nächstmöglichen Zeitpunkt stattfinden können.
Das bedeutet: Der Jazz-Herbst wird dieses Jahr bis in den Winter reichen. Die neuen Termine werden wir rechtzeitig bekanntgeben, die bereits für diese Konzerte gekauften
Karten behalten ihre Gültigkeit
Es ist sehr bedauerlich, dass wir das Festival nach dem kommenden Sonntag unterbrechen müssen – trotz der minutiösen Planung und dem riesigen Engagement durch mein Team sowie funktionierender Hygienekonzepte der Veranstaltungsstätten und dem überaus
verantwortungsvollen Verhalten der Zuschauer. Wir hoffen, dass die Wiederaufnahme des Festivalbetriebs im Dezember möglich sein wird und stehen mit unseren Veranstaltungspartnern und den beteiligten Musikern über neue Termine im Austausch.
Denn erstes Ziel ist es nun, die Engagements der Künstler zu sichern, einen Verdienstausfall zu vermeiden sowie dem treuen Publikum die angekündigten Konzerte zu
präsentieren.
Als Festival, dem das Wohl seines Publikums, seiner Künstler und seiner Mitarbeiter selbstverständlich das allerwichtigste ist, haben wir angesichts der Entwicklung des Infektionsgeschehens Verständnis für die drastische Maßnahme zur KontaktbeschränInternationales
Festival für Jazz und Anderes. twendige Unterbrechung unseres Festivals, die bei gleichbleibenden Ressourcen den Aufwand massiv erhöht.
Worüber wir uns aber offen gestanden wundern, ist: Erstens, dass der sogenannte „Lockdown light“ ausgerechnet die Kultur und die Gastronomie in den Fokus rückt und damit, trotz umfassender und gut funktionierender Abstands- und Hygieneregeln, erneut zu existenziellen Härtefällen macht.
Und zweitens über die Begründung von Frau Merkel. Die
Bundeskanzlerin erklärte, dass derzeit bei 75% der Corona-Infektionen die Quelle nicht identifizierbar sei, weswegen man nicht davon sprechen könne, dass Gastronomie- und
Veranstaltungsbesuche unproblematisch seien. Gerade diese 75%-Tatsache aber ist das Hauptargument gegen die Stilllegung von Bereichen, die mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit nicht oder nur sehr wenig zum Anstieg der Infektionszahlen beigetragen haben.
Die Situation ist sehr komplex und wird jeden Tag komplexer. Deshalb gibt es keine einfachen Antworten – natürlich habe auch ich keine solche. Wenn man allerdings analysiert,
warum diese für den Herbst voraussehbare Situation nicht vermieden werden konnte, dann sind Zweifel am Krisenmanagement der Regierung angebracht.
Ich verstehe und sehe ein, dass aufgrund des aktuellen Infektionsgeschehens die drastische Maßnahme eines Lockdowns unabdingbar ist. Aber nun wurde ausgerechnet der Kultur- und Veranstaltungsbereich, neben der ebenfalls hoch reglementierten Gastronomie, faktisch mit einem vollumfänglichen zweiten Lockdown belegt. Warum gerade diese beiden Bereiche nun herhalten müssen, um die bisherigen unzulänglichen und erfolglosen Maßnahmen
zu korrigieren oder anders gesagt, warum nun davon ausgegangen werden kann, dass der Lockdown in diesen beiden Bereichen zur Reduktion von Neuinfektionen führen soll, ist zumindest mit rational logischen und evidenzbasierten Argumenten nicht nachvollziehbar. Jedenfalls muss aus meiner Sicht mit der jetzigen Maßnahme auch eine Änderung im zukünftigen Management der Krise einhergehen.
Der aktuell verfügte Lockdown ist alles andere als „light“, sondern schwere Kost für die Kultur- und Kreativwirtschaft. Er ist für viele Akteure existenzbedrohend und wird die Branche noch dramatischer verändern als durch die Vorschädigungen aus dem Frühjahr und Sommer ohnehin zu befürchten war.
Deshalb sind wir der Ansicht, dass es spätestens jetzt an der Zeit ist, gesamtgesellschaftlich darüber zu diskutieren, welchen Stellenwert wir der Kultur in Deutschland aktuell und in Zukunft beimessen wollen. Dass eine komplette Branche, noch dazu ausgerechnet jene, die sich in der Krise bisher weitestgehend vorbildlich, kooperativ und verantwortungsvoll verhalten hat und die bis heute unseren weltweiten Ruf als „Kulturnation“ begründet, nun erneut massiv geschädigt und beschädigt wird, statt sie in die Krisenbewältigungsstrategien
aktiv miteinzubeziehen, ist unverantwortlich. Zum einen, weil sie eine Wirtschaftskraft von rund 160 Milliarden Euro pro Jahr repräsentiert. Zum anderen, weil sie eine einzigartige
Funktion als Garant von sozialem Frieden und Lebensqualität erfüllt.
Eines ist dann aber doch sicher in der großen Unsicherheit derzeit, wenn man sich den Krisenverlauf anschaut: ein Agieren in alten Krisenbewältigungsmechanismen ist nicht
erfolgreich. Den Kulturbereich für eine Strategie zu opfern, deren Erfolg unsicher ist, ist weder klug, noch mit dem existierenden Gesellschaftsvertrag vereinbar.
Wenn in der post-pandemischen Erholungsphase dann der Ruf nach (der) Kultur groß ist – dass es so sein wird, lehrt uns die Geschichte –, darf man sich nicht wundern, wenn keiner mehr da ist, der diesen Ruf noch hört.
Rainer Kern
Festivalleiter Enjoy Jazz