In Sachen Freiheitsbegehren waren wir hierzulande schon mal weiter. Vor 50 Jahren haben die 68er das muffige Deutschland durchgelüftet. Oswalt Kolle klärte die Republik auf, die Pille wurde erfunden, der kecke Minirock passte trefflich zur Popmusik der Beatles und Stones, Alice Schwarzer stritt mit „Emma“ für die Frauenemanzipation.
Es herrschte – endlich – ein Klima geistiger Freiheit, der offenen Debatte, bis hin zur Provokation. Dabei wurden selbstverständlich auch Religionen nicht verschont. So wurde der Papst als „Pillen Paul“ von Schülerzeitungen verhöhnt und die Satire-Zeitschriften „Titanic“ und „Pardon“ überschütteten in Wort und Karikatur Papst und Bischöfe mit ergötzlich-atemberaubender Häme.
50 Jahre später wird ein Lehrer in Frankreich geköpft, nur weil er im Unterricht über Mohammed-Karikatur diskutiert. Der Karikaturenstreit und die Empörung unter den Muslimen begann vor 15 Jahren, als in der dänischen Zeitung Jyllands-Posten Mohammed mit einer Bombe unterm Turban abdruckte – ein satirisch trefflich überzeichnetes Bild für eine Religion, in deren Namen ein Kreuzzug gegen die aufgeklärte westliche Welt geführt wird.
Über derartige Karikaturen sollte eigentlich im 21. Jahrhundert – nach der Französischen Revolution vor 230 Jahren und den bewegten 68ern – allenthalben geschmunzelt werden können. Weit gefehlt. Unser finsteres christliches Mittelalter mit Hexenverbrennung und Verfolgung freiheitlicher und aufklärerischer Ideen erlebt in Teilen des Islams eine Renaissance: Frauen werden dort im Namen der Religion unter die Burka gezwungen, Homosexuelle und Ehebrecher gesteinigt. Redakteure der Satirezeitung „Charlie Hebdo“ werden von islamistischen Eiferern niedergemetzelt. Und in Manhattan, Madrid, London, Djerba, Berlin, Nizza, Dresden und anderswo müssen Menschen durch den Terror fanatischer Islamisten sterben.
Es ist geistig und intellektuell eine regelrechte Zumutung für jede freie Bürgergesellschaft, sich überhaupt mit irregeleiteten religiösen Eiferern auseinandersetzen zu müssen. In Europa sind mit Blut und Tränen der nach Freiheit dürstenden Bürger die finsteren klerikalen Mächte des Mittelalters vertrieben worden. Seitdem sind Religion oder auch Nichtglauben reine Privatsache, mehr nicht. Unsere demokratischen Wurzeln, wahrlich, das sind nicht das Christentum, sondern die Prinzipien der Aufklärung seit der Französischen Revolution.
Und, es ist wieder Frankreich, das sich heute beherzt wider den religiösen Terror der Islamisten entgegensetzt. Ja, es ist für jeden Demokraten selbstverständlich, dass Emmanuel Macron den Religionskritikern ein Recht auf Blasphemie einräumt. Dafür aber bekommt er den ganzen Hass der islamischen Welt zu spüren. Erdogan bezeichnet ihn gar als psychisch krank.
Wo bleibt angesichts dieses Terrors gegen Macrons Frankreich der Aufschrei in Europa? Von der Leyen, Merkel? Funkstille. Wo sind in Deutschland die Massendemos von Linken und Grünen, die doch ach so stolz auf ihre 68er Veteranen sind? Wo sind die Liberalen, die sich in Festtagsreden für die Trennung von Religion und Staat einsetzen? Und eigentlich könnten sich angesichts des religiös motivierten Terrors ja auch Vertreter religiöser Gemeinschaften – allen voran der Islam im Schulterschluss mit dem Christentum – lautstark und ohne Wenn und Aber für unsere bürgerlichen Freiheiten einsetzen.
Es ist beschämend, wie feige und verdruckst Macron vom angeblich so aufgeklärtem Europa im Stich gelassen wird. Man mag sich kaum vorstellen, was von unserer freiheitlichen Demokratie in 50 Jahren noch übrigsein wird, wenn wir uns weiterhin hasenfüßig den Befindlichkeiten religiöser Eiferer unterwerfen.
04.Nov..2020, 20:46
Auch Deutschland sollte eine Lehre ziehen aus den jüngsten islamistischen Terroranschlägen: Indem es nämlich den Paragrafen gegen Gotteslästerung abschafft (§ 166 StGB), der Gotteslästerung immer dann bestraft, wenn sie „den öffentlichen Frieden stören“ kann. Die Folge: Beleidigungen christlicher oder anderer Religionen werden praktisch nie bestraft. „Als hingegen 2006 ein Mann in Nordrhein-Westfalen Toilettenpapier mit dem Wort ‚Koran‘ bedruckte, reagierte das Amtsgericht drastisch. Der Richter verwies auf die damals weltweiten, gewaltsamen Proteste gegen Mohammed-Karikaturen in der dänischen Zeitung Jyllands Posten. Und er ging deshalb den Angeklagten besonders hart an: ein Jahr Freiheitsstrafe auf Bewährung plus dreihundert Sozialstunden. … Wenn Kleriker oder Gläubige sich besonders harsch jeden Spott verbitten und zu Gewalt aufrufen – dann zollt das deutsche Strafrecht ihnen zumindest insofern Respekt, als es die Spötter besonders streng ansieht.“
Manuel Stinnes
08.Nov..2020, 15:49
Nach dem Mord an dem Lehrer Samuel Paty hat Emmanuel Macron klargemacht, dass Frankreich die Idee der Meinungsfreiheit – inklusive der Mohammed-Karikaturen – nicht fallen lassen wird. Tayyip Erdogan verlangt seitdem, dass Macrons Geisteszustand überprüft wird und ruft zum Boykott französischer Waren auf. Er ist damit nicht allein: Es sind Einzelne, die Stimmung machen. Doch in den antifranzösischen Chor reihen sich gewichtige Stimmen ein wie die Al-Azhar-Universtität in Kairo, die nicht zum Boykott aufruft, aber von einer ‚Kampage gegen den Islam‘ faselt; Groß-Imam Ahmed al-Tajib sieht eine ’systematische Kampagne‘ am Werk, und die Organisation für Islamische Zusammenarbeit spricht von einem Angriff auf Muslime. Karim El-Gawhary berichtet im einzelnen über Reaktionen in muslimischen Ländern auf Macrons Äußerungen.
Ich kritisiere einerseits den Antirassismus in Europa, der die Gefahr des Islamismus herunterspiele, andererseits das Gebaren der Türkei: Es ist völlig berechtigt, den westlichen Kolonialismus zu kritisieren, aber soll man darüber den osmanischen Imperialismus vergessen, der so viele Jahrhunderte das östliche Europa und den Mittelmeerraum besetzt hat und heute in Berg-Karabach den Genozid an Christen und Armeniern vollenden will, der Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts begangen wurde? Es handelt sich hier um ein expansives Imperium, das Europa für vergangene Verbrechen schuldig spricht und sich gleichzeitig weigert, seine eigenen anzuerkennen, das überall Dschihadisten bewaffnet und antreibt. Ich bedaure, dass Deutschland der Türkei so furchtsam gegenübertritt.
Michael Witt