Der Film führt uns in die Welt der Welt der Theaterkönigskinder der Berliner Schaubühne. Lars Eidinger in der Rolle eines todkranken Schauspielers hat ein Authentizitätsproblem beim Sterben, beim Spielen sieht man ihm hingegen gern zu. In der Tat gibt keine größere Wahrheit als die banalste: Dass nämlich der Tod keine Ausnahmen macht, dass sterben muss, was lebt. Das weiß auch Sven, dessen krebskranker Körper sich nicht schert um Svens großen Namen am Theater, wo er Abend für Abend einen umjubelten Hamlet gibt. Nun geht es nicht mehr. Die Rolle ist schon neu besetzt, auch wenn Sven noch immer die ganze Partie, nein, das ganze Stück im Schlaf zitieren kann.
Das Spiel ist aus. Es beginnt der langsame Verfall des privaten Menschen, dem die Haare ausgehen und dessen Haut bald über und über von den roten Pusteln einer Gürtelrose bedeckt ist.
Das also, behauptet „Schwesterlein“, ein Film des Schweizer Regieduos Stéphanie Chuat und Véronique Reymond, ist der eine Teil vom Rest, der bleibt. Hässlicher Lebensende-Realismus, dem das konventionelle Auflehnungs- und Verdrängungsprogramm nichts anhaben kann, wenn Sven noch einmal fallschirmspringt und sich durchs Nachtleben säuft. Doch das ist eben nur der eine Teil.
Der andere hat zu tun mit dem Milieu, in dem dieser Film spielt, und den Besetzungsentscheidungen, die Chuat und Reymond getroffen haben. Das Milieu wird schon zu Beginn mit dem titelgebenden Brahms-Lied umsungen. Die Welt der Theaterkönigskinder, die sich hier um die Berliner Schaubühne scharen, deren Star Sven ist; seine Schwester Lisa wiederum soll eigentlich Erfolgsstücke schreiben, leidet aber seit Svens Krebsdiagnose unter einer Blockade. Hin und wieder ist von Peter Zadek die Rede, von Peter Stein und Klaus Michael Grüber, der großen Theaterzeit, der vor allem Svens Mutter in ihrem Charlottenburger Alt-Diven-Palast voller Erinnerungsstücke nachträumt. Die Krankheit des Sohnes stürzt in diese Welt wie ein Ufo, unerwartet, unwirklich und doch extrem besonders. Daneben gibt es noch eine Welt, anders elitär, aber nicht weniger: In der Schweiz leitet Lisas Mann eine internationale Schule für die echten Königs- und Oligarchenkinder, deren Währung nicht die Kunst, sondern bare Münze ist. Zwischen diesen Welten, dem todkranken Theaterbruder und dem konfliktuösen Familienleben, hängt auch Lisas Leben in der Schwebe.
Chuat und Reymond haben die bemerkenswerte Entscheidung getroffen, die wichtigsten dieser Partien im wahrsten Sinne rollendeckend zu besetzen. Im Zentrum stehen mit Lars Eidinger als Sven und Nina Hoss als Lisa zwei tatsächliche Schaubühnen-Größen, mit Marthe Keller als Mutter der Geschwister und Jens Albinus als Lisas Ehemann weitet sich diese kleine Theaterfamilie international. Selbst Schaubühnen-Leiter Thomas Ostermeier kunstquatscht sich in einer Nebenrolle als „Hamlet“-Regisseur (im wahren Leben eine seiner erfolgreichsten Inszenierungen mit Lars Eidinger in der Titelrolle) sympathisch laienhaft durch den Film. Ein Meta-Vergnügen für Fans, das dem beschriebenen Milieu zwar einen selbstreflexiven Witz schenkt, dem Realismus der ersten Ebene aber geradezu verräterisch die Grenzen aufzeigt. Denn wer könnte für die Rolle des Sterbenden und im Sterben notwendig Authentischen weniger geeignet sein als eben jener Lars Eidinger, dessen liebevoll aufgebaute Popstar-Persona am Theater ihren speziellen Reiz in überlebensgroßen Ego-Shows findet, bei denen sich die Frage nach dem Authentischen des Spiels längst erübrigt hat? Eidingers Kunst besteht gerade in einer Verwandlung ohne Verwandelten, einer Parade von Masken, die trotzdem immer dasselbe, keineswegs aber das „wahre“ Gesicht zeigen. Darin ist er seine eigene Marke und Marken sterben bekanntlich schlecht. Seltsames Authentizitätsproblem: Man sieht es, aber bleibt doch ungläubig.
Spaß macht Eidinger allemal dort, wo er noch im Spiel spielen darf: Wenn Sven mit Lisas Kindern herumtollt, mit bunten Perücken die letzten Haarflecken verbirgt und sich Post-Its an die Stirn klebt. „Schwesterlein“ aber braucht ein anderes Gravitationszentrum, um bei aller kunstgewerblichen Beflissenheit zumindest eine echte Träne der Rührung hervorzupressen. Der Film findet es in Nina Hoss, die ein ungleich breiteres Register klassischer Rolleneinfühlung zeigt, wenn Lisa den Bruder wäscht und ihm beim Kotzen den Kopf hält, während die Fliehkräfte in der eigenen Familie immer größer werden. Da scheint es nur verdient, dass Sven ihr schließlich ein Geschenk macht: Im Sterben des Bruders kommt Lisas eigenes Schreiben wieder zu sich, weil die Wirklichkeit dieser Erfahrung radikal Schluss macht mit den bürgerlichen Zipperlein und Wohlstandsbeschwerden, mit denen sie zuvor nicht mehr weitergekommen war. Der Tod bleibt das echteste Echte. Aber im Theater und in der Liebe ist er vielleicht ein wenig weiter weg.