Wo man den unerhört umtriebigen Autor, Filme- und Hörspielmacher, Medienkünstler und Juristen Alexander Kluge überhaupt orten kann – wer das schon immer wissen wollte – der bekommt in seinem jüngsten Hörspiel „Das neue Alphabet“ die ersehnte Antwort: „Ich sitze unterm Tisch, während die Erwachsenen reden. Das ist meine Lebensposition.“

Der achtundachtzigjährige Kluge ist stets das neugierige Halberstädter Landarztkind geblieben, als das er 1932 auf die Welt kam. Als solches nimmt er aus seiner Deckung heraus bis heute die Welt um sich herum wahr. Kluge ist dabei jedoch nicht nur Beobachter, also Augenmensch, sondern ebenso sehr Zuhörer und ganz lauschendes, auf Empfang gestelltes Ohr.

Es ist daher wohl kein Zufall, dass in dem von seinem langjährigen Radiopartner Karl Bruckmaier für den Bayerischen Rundfunk inszenierten Hörspiel immer wieder ein fast gespenstisch anmutendes Brizzeln und Knacken zwischen und während den Textpassagen zu hören ist; wie von alten Telefonen oder Stromleitungen. Man könnte allerdings auch Tritte auf harschem Schnee assoziieren – dieser wird gleich in mehreren Zusammenhängen von Isidor von Sevilla bis zu den „Schneelandschaften“ Gerhard Richters aufgerufen.

„Das neue Alphabet“:
Das zweiteilige Hörspiel von und mit Alexander Kluge

Es spinnt Interviews und Erzählungen zu einem einhundertminütigen Gesprächsgarn mit losen Enden und je nachdem, was ihn persönlich berührt, entscheidet jeder Hörer des mit leichter Hand in Szene gesetzten Hörstücks selbst, welchen der zahllosen Assoziationsfäden er aufgreift und welchen er hängen lässt.
Man kann „Das neue Alphabet“ immer wieder aufs Neue hören und dabei fündig werden. Es ist poetisch und rätselhaft, verspielt und humorvoll, verbindet Sprache mit Geräusch und Musik zu einer stimmigen Collage. Und es befeuert das eigene Denken.
An einer Stelle wird Hermann Parzinger zitiert. Der Prähistoriker hält die Erfindung der Nähnadel für bahnbrechend. Nicht nur, weil man damit auf einmal Tierfelle zusammenschnüren und sich so besser vor Kälte schützen konnte. Sondern auch, weil sie für Veränderungen im mentalen Haushalt sorgte: „Die Nähnadel im Kopf verknüpft Sätze und die Berichte der Generationen. Umbau im Gehirn.“
Inhaltlich knüpft das Hörspiel an das am Berliner Haus der Kulturen der Welt angesiedelte gleichnamige Langzeitforschungsprojekt an. Bis 2021 soll dort in Ausstellungen und Gesprächsrunden gefragt werden, was wir den Nullen und Einsen der digitalen Technologien entgegenzusetzen haben, die die Gegenwart in zunehmendem Maße beherrschen.
Kluge bestritt im Januar 2019 den Eröffnungsabend und forderte: „Die Leute in Silicon Valley halten uns für Eingeborene. Wir sind nicht auf Augenhöhe. Die sehen uns vielleicht gar nicht. Und es ist wichtig, dass wir mit denen zusammenarbeiten einerseits, aber auch einen Gegenalgorithmus aufbauen.“
In seinem Hörspiel präzisiert der intellektuelle Partisan Kluge diesen Gedankengang. Gegen die „neuen Barockgötter“ des Silicon Valley und ihr binäres Alphabet leistet er Widerstand durch etwas Homerisches, ziemlich Altes: das Erzählen:

„Mündlichkeit ist des Poeten Pulver.“

Ob der Knall jedoch laut genug sein wird, damit ihn auch ein Jeff Bezos oder Mark Zuckerberg hört?
So oder so: Die Idee ist schön, die Logik, die dahinter steht, einleuchtend: „Wo ein Algorithmus ist, brauchen wir einen Gegenalgorithmus. Dann entstehen wieder Gleichgewichte“, lässt sich dem Hörspiel entnehmen.
Natürlich steckt hinter dieser Denkbewegung die Sozialisation bei Adorno und Horkheimer in den Fünfzigerjahren, auf die Alexander Kluge selbst zu sprechen kommt. Die Hörspielinszenierung führt über die thematische Stoßrichtung hinaus vorzüglich in Kluges Art und Weise zu denken ein; dies umso mehr, als man auf der beigefügten Bonus-CD Karl Bruckmaiers schönes Kluge-Porträt von 2012 nachhören kann.

Kluge bleibt sich auch im „Neuen Alphabet“ treu

Leicht schmunzelnd bezeichnet er sich als „Hofpoeten“ der Kritischen Theorie und definiert deren „Kern“ in einem Satz, der dazu angetan sein könnte, dicke Lehrbücher überflüssig zu machen: „Aufklärung ist nicht einfach: Wir gewöhnen uns die Religionen und die Mythen ab. Stattdessen nehmen wir die Kraft von Menschen, die in den Mythen steckt, und wenden sie zur Besiegung der Mythen der Jetztzeit.“ Adorno und Horkheimer greifen in ihrer „Dialektik der Aufklärung“ auf den Odysseus-Mythos zurück. Für Kluge sind Amazon und Google die Sirenen von heute.
Der Gegenpol zu kalter Technologie, hochgerüsteter KI und digitaler Bilderflut besteht mithin in lehrreichen Anekdoten, dichten Beschreibungen, erfahrungssatten autobiografischen Geschichten. Kluge: „Ich werde zunehmend Ikonoklast.“

Wenn sie nicht gerade im Chor das Alphabet singen, tragen Schauspieler wie Katja Bürkle, Peter Fricke und Lilith Stangenberg die Erzählungen vor. In ihnen geht es quer durch Zeit und Raum, von Georg Christoph Lichtenberg bis zu Niklas Luhmann, von der Stadt Uruk bis zum Londoner U-Bahn-Bau. Und immer wieder hüpft der putzmuntere Kluge, fast wie der von ihm erwähnte Springsaurier, noch weiter in die Geschichte zurück, zu den Anfängen des Lebens. So als wolle er in Gefahr und größter Not – „Maschine plus Freiheit wäre ein Monstrum“ – sich der Evolution versichern.
Diesen Gedanken hat er bereits in der „Chronik der Gefühle“ ausbuchstabiert, wo es heißt: „Gegenwart nennen wir bekanntlich, wenn es hoch kommt, 90 Jahre. Das Wirkliche an dieser Gegenwart ist die Schubkraft von 20 Milliarden Jahren.“
Schubkraft für sein sprunghaftes Denken holt sich Kluge seit jeher auch von anderen Künstlern. Früher war Heiner Müller so ein unersetzlicher Kollaborateur. Weshalb er auch hier noch einmal in alten Aufnahmen zu Wort kommt. Flüsternd berichtet der Dramatiker, wie er nach seiner Kehlkopfoperation das Sprechen neu lernen musste. Vor allem die Vokale machten ihm Schwierigkeiten: „Es braucht wohl eine geschmeidige Stimmlippe.“ Die Tonbandaufnahme ist jedoch nicht nur als Hommage gedacht, denn in einem weiteren hineinmontierten Mitschnitt forderte Müller schon vor mehr als 25 Jahren „einen hippokratischen Eid für Computerspezialisten“.

Heute ist Helge Schneider für Kluge einer der wichtigsten Gesprächspartner. Der Tausendsassa schlüpfte für ihn schon in viele Rollen. Diesmal gibt er einen Roboter, der seine Mittelohrentzündung mit „Drops“ heilt, was Kluge ein verblüfftes „Ach“ entlockt. Helge Schneider, der Roboterflüsterer mit Mülheimer Thekenjargon.
Wer glaubte, das Hörspiel würde jeden Buchstaben des Alphabets durchdeklinieren, hat sich geirrt. Vielmehr setzen nur einige von ihnen Kluges Gedanken unter Strom: A wie Aufklärung und Abbildung. L wie Landarzt und Lichtenberg-Figuren. K wie Kritische Theorie und Kooperation. Und vielleicht auch wie Kindskopf (unter dem Tisch hockend).
Wie man „Das neue Alphabet“ hören sollte? Am besten macht man es wie der Autor. Man schließt die Augen und wartet, welche Bilder sich einstellen. Und dann könnten auch bei einem selbst „die Assoziationen gewaltig rauschen“.

Alexander Kluge: Das neue Alphabet.
Mit Alexander Kluge, Katja Bürkle, Helge Schneider und anderen
Der Hörverlag, München 2020. 22 Euro.
2 CDs plus eine Bonus-CD, 2 Stunden 53 Minuten

Nov. 2020 | Allgemein, Buchempfehlungen, Feuilleton, Junge Rundschau, Senioren | Kommentieren