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Albrecht von Lucke versprüht viele politische Visionen – Realutopien kommen aber auch nicht zu kurz:

[1]Mit diesem Titel weist der Jurist und Politologe Albrecht von Lucke nach, dass die These, der ehemalige SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder habe mit seiner „agenda 2010“ und weiteren so genannten „Reformgesetzen“ die deutschen Interessen mutig und erfolgreich vertreten und allenfalls seiner Partei geschadet, nur halb richtig ist.

Zwar stimme es, dass Schröder damit sowohl die Mitglied- als auch die Wählerschaft der SPD halbiert habe, es sei aber falsch, diese Gesetze als positiv für Deutschland zu bewerten.
Mit nämlich dem Verschwinden der SPD als potentiell regierungsführende Volkspartei in der deutschen Parteienstruktur sei derzeit eine Lage eingetreten, in der nur noch die Volkspartei CDU (einschließlich der CSU) mit dem Anspruch auf die Kanzlerschaft auftreten kann und die anderen deutschen Parteien lediglich als Mehrheitsbeschaffer dienen.

„Wir leben in einer amputierten Republik ohne politische Alternative“, befindet von Lucke. Dies aber sei ein Verlust für die parlamentarische Demokratie in Deutschland. Denn die Chance auf ein Wechsel in der Führung einer Regierung sei ein gewichtiges demokratisches Recht, das dem Wähler nicht verloren gehen sollte.
Im übrigen sei der Erfolg von Schröders neoliberal gefärbten Agenda für die Deutschen zu hinterfragen. So sei die Verringerung der Arbeitslosenzahlen im wesentlichen einem weltweiten Konjunkturaufschwung zu verdanken. Auch habe Schröders Reformwerk allenfalls eine Verschiebung von der Arbeitslosigkeit in den Niedriglohnsektor erreicht, zum anderen aber habe das Absenken der Arbeitslosenhilfe auf Sozialhilfeniveau und die gleichzeitige steuerliche Begünstigung der Gutverdienenden zu einer Entsolidarisierung in der Gesellschaft und zu einer weiteren Öffnung der Schere zwischen Arm und Reich beigetragen, analysiert der Verfasser.

Gerhard Schröder selbst konnte die SPD dank seines Amtsbonus im Vergleich mit der damals weitgehend unbekannten Angela Merkel in der Bundestagswahl 2005 noch bei 34% der Stimmen halten. In den Wahlen von 2009 und 2013 bekam die SPD dann aber doch die herbe Quittung für ihre Politik der Entsolidarisierung mit Werten von nur 23 bzw. 26% der Stimmen. Sie wurde damit nur Juniorpartner der CDU/CSU in der Großen Koalition und mitverantwortlich für deren umstrittene Flüchtlingspolitik. Das Ansehen des Exkanzlers Gerhard Schröder habe sich wegen seiner bezahlten Tätigkeit im Rahmen eines russischen Staatskonzerns und der- so von Lucke wortwörtlich- „Monitarisierung seiner Kanzlerschaft“ auch schlagartig verschlechtert.

In der Großen Koalitionen von 2005 und 2013 habe sich die SPD zwar um einzelne Korrekturen der „agenda 2010“, z.B. beim Arbeitslosengeld und beim gesetzlichen Mindestlohn, bemüht, ihre Minister konnten auch einzelne Erfolge verbuchen, dennoch gäbe es bisher keine klare Abkehr von dem, wie von Lucke meint, schröderschen Irrweg der SPD. Überdies trage der aktuelle Verzicht der SPD auf steuerliche Umverteilungen von „Oben nach Unten“ (z.B. auf die Vermögenssteuer) nicht dazu bei, das Image der SPD als Volkspartei der linken Mitte wiederherzustellen.
Auch aus den Entscheidungen und Äußerungen des SPD- Parteivorsitzenden und Vizekanzlers Sigmar Gabriel zu Verhandlungen über Freihandelsabkommen mit den USA und Kanada oder zu Rüstungsexporten sei keine klare Linie der SPD zu erkennen. Deshalb hält der Autor die SPD in ihrer heutigen Verfassung nicht tauglich zur Bestimmung der Richtlinien der deutschen Politik und somit zur Kanzlerschaft.

Von Lucke beschränkt aber seine Kritik nicht nur auf die SPD, er setzt sie genau so bei der Linkspartei an, die er akribisch in ihren vielen Strömungen von der SED/PdS zur Zeit der Wende bis zur heutigen Partei „Die Linke“ verfolgt. Inzwischen ordnet er sie, wie ihre Zusammenarbeit in Länderkoalitionen mit der SPD beweisen, eher als radikal- sozialdemokratisch denn als linksradikal ein. Gegen eine Koalition von SPD, Grünen und Linken im Bund, die zumindest eine Option auf eine Kanzlermehrheit erreichen könnte, sprächen heute nach von Lucke drei von der Linkspartei errichtete Hürden: Die Gegnerschaft gegen die deutsche Teilnahme am NATO-Militärbündnis; ein grundsätzliches Misstrauen gegen die EU- Institutionen in Brüssel und der persönliche Rachefeldzug von Oskar Lafontaine gegen die SPD. Von Lucke verlangt von der Linkspartei den Abbau dieser Hürden und mehr Vertrauen in rational begründete Kompromisse anstelle von starrsinniger Rechthaberei.

Von Lucke erkennt zudem, dass die Grünen ihre bisherigen Koalitionsaussagen zugunsten der SPD nicht mehr wiederholen, sondern jedwede Koalitionsaussage bis auf die Zeit nach den Wahlen verschieben werden. Er sieht auch durchaus viel sogenanntes „bürgerliches Potential“ bei den Grünen, die- wie in Hessen und Hamburg- schwarzgrüne Koalitionen ermöglichen. Umso mehr plädiert er für eine Zusammenarbeit von SPD und Linkspartei mit dem Teil der Grünen, der sich einer Koalition mit der CDU/CSU auf Bundesebene voraussichtlich versagen wird. Er erkennt ebenso, dass inzwischen eine Sechs- Parteien- Konstellation im Deutschen Bundestag mit einer mittelstarken „Alternative für Deutschland (AfD)“ heranreift; einer neuen, mit den „Altparteien“ nicht koalitionsfähigen Partei. Sie profiliert sich erfolgreich als „Ein- Punkt- Partei“ gegen die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin.

Eine Rückkehr zum Normalzustand der deutschen Demokratie mit mindestens zwei Volksparteien, die sich im Kanzleramt je nach Wahlergebnis abwechseln, hält von Lucke allerdings nur dann für möglich, wenn sich SPD und Linkspartei zusammenschließen und mit einem gemeinsamen überzeugenden linken Programm auftreten. Geschehe das nicht, sei Deutschland auf lange Zeit zu einer „Schwarzen“, sprich CDU/CSU- geführten, Republik verurteilt. Das sei aber wenig reizvoll für die Wähler und würde voraussichtlich die Wahlbeteiligung weiter absinken lassen und die Parteienverdrossenheit weiter fördern.

Einen Zusammenschluss der beiden sozialdemokratischen Parteien hält der Autor jedoch nur für sinnvoll, wenn die SPD klarer als gegenwärtig ihre Wirtschafts-, Sozial- und Steuerpolitik so ausrichtet, dass sie die Einkommens- und Vermögenskluft zwischen Arm und Reich im nationalen Rahmen unter anderem durch höhere Spitzensteuersätze und eine Vermögensabgabe sichtbar verringert, die Beschäftigung Jugendlicher garantiert, die Finanzmarkt- Regulierung vorantreibt und die Waffenexporte drosselt. Die Linkspartei sieht der Verfasser vor der Aufgabe, die NATO-Bindung Deutschlands und die sehr mühsamen Arbeitsweisen der Europäischen Union zu akzeptieren und vor allem, wie in Länderregierungen bereits geschehen, die Radikalität der Forderungen auf eines reales Maaß zurückzuschrauben.

Eine vereinigte Linke müsse nach Lucke ihre Europapolitik gänzlich auf mehr Beschäftigung und Wirtschaftswachstum in allen Länder der EU und weniger auf eine Austeritätspolitik zur Erhaltung der Stabilität der €- Währung setzen. Sei eine gemeinsame EU- Wirtschafts-, Währungs- und Fiskalunion nicht zu schaffen, müsse sogar überlegt werden, besonders betroffenen Ländern wie Griechenland oder Spanien, einen geregelten Austritt aus der €- Zone zu ermöglichen, damit sie durch Währungsabwertungen wieder konkurrenzfähig werden können. Wichtig sei aber vor allem, dass die wirtschaftlich starken EU- Länder wie Deutschland, die ja ihre Stärke u.a. auch den notleidenden Staaten verdanken, ihren schwächeren EU-Schwestern (zum Bespiel durch die Akzeptanz von Eurobonds) beistehen. Merkels europäisches Konkurrenzmodell sei dagegen zu verwerfen. Schließlich schlägt von Lucke vor, die äußere Sicherheit Europas durch europäische Streitkräfte und nicht durch nationale Armeen zu festigen.

International müsse eine vereinigte Linke dafür stehen, Freihandelsabkommen nur zum Zollabbau und zur Vereinheitlichung technischer Normen und Zulassungsverfahren zu unterstützen und solche zum Abbau nationaler Gesundheits-, Umwelt-, Arbeits- und Sozialstandards abzulehnen. Dass eine gemeinsame Linke in der UNO diplomatische Bemühungen für friedliche Lösungen und nicht für kriegerische Interventionen favorisiert, versteht sich von selbst.

Albrecht von Lucke:
Die Schwarze Republik und das Versagen der Linken
232 Seiten, gebunden 18.- €