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Zutaten für einen Shitstorm – Lauterbachs missverständliches Zitat

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Paul A. Weber: „Das Gerücht“

Kontrolliert der SPD-Politiker Karl Lauterbach bald deutsche Privatwohnungen? Wie sich drei Sätze verselbstständigten und zum Shitstorm wurden. Am Tag, als Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) vor dem Parlament ihre Maßnahmen begründet, geht es hoch her. Und, wie immer mal wieder, auch um Karl Lauterbach. Im Plenum selbst redet der SPD-Gesundheits – Experte zwar nicht.
Aber er wird gleich mehrfach erwähnt, direkt und indirekt.
Und so wird die Debatte von heute auch ein Lehrstück darüber, wie schnell sich Halbwahrheiten in der politischen Debatte verselbstständigen.

 

1. Ein verhängnisvolles Exklusiv-Zitat

Die Geschichte des Shitstorms beginnt in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch. Da gibt die „Rheinische Post“ ein Exklusivzitat an die Nachrichtenagenturen: „Lauterbach fordert Kontrollen in privaten Wohnungen“. Das ganze Zitat besteht aus drei Sätzen:

  • „Wir befinden uns in einer nationalen Notlage, die schlimmer als im Frühjahr werden kann.
  • Die Unverletzbarkeit der Wohnung darf kein Argument mehr für ausbleibende Kontrollen sein.
  • Wenn private Feiern in Wohnungen und Häusern die öffentliche Gesundheit und damit die Sicherheit gefährden, müssen die Behörden einschreiten können.“

Es ist ein Aufreger, dessen Zutaten sich politische Gegner kaum besser hätten wünschen können.

Da ist zum einen der Inhalt:
Auf Kontrollen in Privatwohnungen hatte die Politik bisher aus gutem Grund verzichtet. Lauterbachs Satz klingt tatsächlich so, als wolle er das Grundgesetz einschränken.

Da ist zum zweiten der Zeitpunkt:
Kurz bevor die Ministerpräsidenten-Runde neue Maßnahmen beschließt, schießen die Spekulationen ins Kraut. Aus jeder Idee könnten schließlich Tatsachen werden.

Lockdown Das sind die neuen Corona-Regeln

Zur Eindämmung der Corona-Pandemie haben Bund und Länder einen Teil-Lockdown beschlossen, der ab dem 2. November gilt.

 

Und da ist die Person:
Lauterbach hat sich in der Krise den Ruf der notorischen „Alarmsirene“ erworben (so nannte ihn sogar die „ZEIT“ [2]). Er gilt als nerviger Warner, der stets übertreibt. Dass seine Warnungen vor ansteigenden Zahlen im Spätsommer ziemlich genau eingetroffen sind, wird dabei von manchen geflissentlich übersehen.

Wenn so jemand jetzt auch noch anlasslos Wohnungen kontrollieren will: Ist Deutschland damit nicht auf dem sicheren Weg zum Polizeistaat?

2. Das Zitat macht die Runde

Die Aufregung lässt nicht lange auf sich warten. Als am Vormittag AFP als erste Nachrichtenagentur das Zitat aufgreift, macht es schnell im Netz die Runde. Beinahe jede Nachrichtenseite berichtet, in sozialen Medien wird – wie leider üblich – gewütet und gedroht. Und – was Wunder – nutzen politische Gegner die Vorlage.

AfD-Fraktionschefin Alice Weidel schreibt auf Twitter über ein „ungeheuerliches Vorhaben“ – es zeige, „wie weit sich diese Regierung von der Demokratie … entfernt hat“.

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FDP-Chef Christian Lindner [3] reagiert ähnlich empört: Lauterbach schlage Maßnahmen vor, „die schärfer sind als bei der Terrorismusabwehr“.

3. Das Dementi

Nur: Zum Zeitpunkt, als Lindner das schreibt, hat Lauterbach längst erkannt, was er mit seinem missverständlichen Zitat angerichtet hat – und versucht, die Äußerung geradezurücken. Gleich zweimal reagiert Lauterbach auf Twitter:

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Und kurz darauf in einem Live-Interview mit n-tv [4]. Auch darin beteuert er, dass der grundgesetzliche Schutz der Wohnung von ihm nicht in Frage gestellt werde. Dass er keinesfalls Polizeikontrollen in Wohnungen fordere.

Zugleich weist er auf eine unerwünschte Folge von Beschränkungen hin: „Die Kneipen sind zu – aber man feiert in gleicher Besetzung drinnen weiter. Damit hätten wir nichts gewonnen.“ Denkbar sei, so Lauterbach, ein Besuch der Ordnungsämter „vor der Wohnungstür“. Später am Abend in der ZDF-Sendung „Markus Lanz“ [5] wiederholt Lauterbach diese Erläuterung: „Das bedeutet nicht, dass die die Wohnung stürmen dürfen. Aber dass die dort hinkommen, vor die Tür treten und sagen, da muss jetzt Schluss sein.“ – Und das, das muss sein dürfen (tno).

4. Die Rechtslage

Diese Idee wiederum ist nicht so neu, wie sie klingt. Tatsächlich wurde die Polizei ja schon vor Corona [6] bei „Ruhestörungen“ durch Partys gerufen – was jede Wohngemeinschaft schon einmal erlebt haben dürfte. In Corona-Zeiten [7] könnte dies nun ebenso passieren.

De facto neu ist die Lage seit heute in Bayern, wo das Kabinett von Ministerpräsident Markus Söder (CSU) Kontaktbeschränkungen auch für Privatwohnungen beschloss – auch dort dürfen sich demnach nur maximal 10 Personen aus zwei Hausständen aufhalten. Durchsetzen, so Söder heute, solle die Polizei das Verbot von größeren Treffen in Wohnungen auf die gleiche Weise, wie sie gegen Ruhestörungen vorgehe. „Dann können die Nachbarn entsprechende Hinweise geben und dann kommt die Polizei.“

Eine Idee und ein Aufruf, über den man in der Tat diskutieren muss.

5. Die Wirkung

Doch um solche Feinheiten geht es heute nicht mehr. Die Geschichte von Lauterbachs Kontrollwahn hat sich längst verselbstständigt – auch in der politischen Debatte. In der Aussprache zu Merkels Regierungserklärung [8] fragt FDP-Fraktionschef Christian Lindner heute:

Sollen die Zügel so angezogen werden, dass irgendwann auch die Wohnungsdurchsuchungen aus der Vorstellungswelt bestimmter Mitglieder dieses Hauses durchgeführt werden?

Zuvor hatte AfD-Chef Gauland den SPD-Gesundheitspolitiker direkt angesprochen: „Herr Lauterbach stellt in einem Interview … sogar die Unverletzlichkeit der Wohnung zur Disposition. Mit Verlaub, meine Damen und Herren, schnappen wir allmählich über?“

Lauterbach selbst eilt noch während der Debatte [9] nach vorn ans Pult von Bundestagspräsident Schäuble. Er möchte, wie er  später berichtet, sein Zitat auch im Plenum richtigstellen. Doch Schäuble will die laufende Debatte dafür nicht unterbrechen.

Nur wenig später veröffentlicht Lauterbach auf seinem Twitter-Account [10]eine Sammlung von Morddrohungen gegen seine Person.

Lauterbach sorgte zu guter Letzt bei Markus Lanz mit einer weiteren Aussage für Aufsehen: Sehen Sie den Ausschnitt hier auf  Youtube. [11]

Der Fall zeigt:
Wie schon in der Flüchtlingskrise vor fünf Jahren übertönt die Kakophonie des permanenten Alarmismus den sachlichen Austausch von Argumenten. Daran tragen nicht nur die verblendeten Schreihälse und die omnipräsenten Wichtigheimer eine Mitschuld, sondern auch wir Journalisten – und die Regierenden. Man kann die Entscheidungen der Kanzlerin, der Bundesminister und Ministerpräsidenten für richtig halten und trotz alledem die Art und Weise kritisieren, wie sie zustande kommen. Da ist zu viel Hinterzimmer und zu wenig Transparenz, zu viel Durchregieren und zu wenig Debatte. Das schadet der Akzeptanz der Politik und dem gesellschaftlichen Frieden. Die Art und Weise, wie die jüngsten Corona-Beschlüsse in kürzester Zeit angebahnt, gefällt und durchgesetzt wurden, ist ein Beispiel dafür.
Als „Merkels Coup“ muß dies eben drum deshalb schon auch  bezeichnet werden dürfen (tno)