Die aktuelle Corona-Pandemie lenkt den Blick in die Vergangenheit: Welche waren die größten Seuchen in der Geschichte und wie veränderten sie die Gesellschaft? Die Pest von 1348 gilt als schlimmste Seuche der Geschichte. Mit ihr verändert sich die Gesellschaft radikal: War die Seuche erst einmal ins Haus gekrochen, hatte kaum ein Bewohner eine Chance, so ansteckend war die Pest. Infizierte kamen auf eine Lebenserwartung von einem bis anderthalb Tagen. „Keiner, der Blut spuckte, überlebte“, berichtete ein Chronist aus dem mittelalterlichen Florenz. Der „Schwarze Tod“ raffte in den Jahren von 1347 bis 1352 etwa 40 Prozent der europäischen Bevölkerung dahin – eine Zahl, die noch heute jede Vorstellungskraft sprengt.
Zwischen Sizilien und Skandinavien löste die Pest Furcht und Panik aus. Gerüchte, sie sei irgendwo ausgebrochen, beunruhigten die Menschen, auch wenn sie weit entfernt lebten. Die Seuche kam, so glaubte man, „aus dem Osten“, aber wie sie entstanden war und wodurch sie sich ausbreitete, blieb ein Rätsel. Immer wieder gerieten Fremde, vor allem reisende Händler und auch Juden, in Verdacht, sie einzuschleppen. Und es kursierten abstruse Legenden: Ein flämischer Geistlicher schrieb, es habe in Indien Frösche, Schlangen, Eidechsen und Skorpione geregnet. Tags darauf seien Mensch und Tier durch einen furchtbaren Hagelschlag getötet worden, bevor am dritten Tag ein Feuer vom Himmel gefallen sei: Durch den Gestank der Kadaver seien die Küsten des Schwarzen Meeres mit einem Pesthauch überzogen worden.
Das fehlende Wissen ließ die Angst grassieren. Die Furcht vor ewiger Verdammnis ging einher mit dem existenziellen Bedrohungsgefühl, in jedem Moment sterben zu müssen. „Wie viele tatkräftige Männer, wie viele schöne Frauen, wie viele anmutige Jünglinge, denen, von anderen zu schweigen, Galen, Hippokrates und Äskulap eine blühende Gesundheit bescheinigt hätten, speisten am Morgen mit ihren Verwandten, Gesellen und Freunden, um am folgenden Abend in der anderen Welt mit ihren Vorfahren zu tafeln“, schrieb der Dichter Giovanni Boccaccio um 1349 in seinem Meisterwerk Decamerone. Das war nicht nur eine literarische Erfindung, sondern beruhte auf alltäglicher Beobachtung.
Michele da Piazza, Autor einer sizilianischen Chronik aus dem 14. Jahrhundert:
„Priester und Notare weigerten sich, in die Häuser zu gehen. Betrat einer von ihnen dennoch ein Haus, um ein Testament oder dergleichen aufzusetzen, konnte auch er dem baldigen Tod nicht entkommen. Die Minderbrüder, Dominikaner und anderen Ordensleute, die in die Wohnungen solcher Kranker gingen, damit diese ihnen ihre Sünden beichten und durch Reue der göttlichen Gerechtigkeit teilhaftig werden konnten, raffte selbst ein brüsker Tod hinweg, sodass einige gleich in den Sterbezimmern zurückblieben. Als die Leichen verlassen in den Wohnungen lagen, wagte es kein Priester, Sohn, Vater oder Verwandter hineinzugehen. Man bezahlte vielmehr Dienstleuten einen nicht geringen Lohn, damit diese die Toten zum Begräbnis brachten.“
Die Ärzte des Mittelalters wussten nicht, dass das hochinfektiöse Bakterium Yersinia pestis hinter der Seuche steckte – erst 1894 wurde der Erreger der Lungen- und der Beulenpest von Alexandre Yersin, einem schweizerisch-französischen Bakteriologen, entdeckt. Und es war unbekannt, dass Yersinia pestis durch die Flöhe von Ratten oder durch Tröpfchen, Blut und Sekret vom Menschen übertragen wird.
Der Chronist Michele da Piazza erklärte die Lungenpest mit den damals üblichen Argumenten: „Was ausgespuckt wurde, kam aus der infizierten Lunge zur Kehle herauf und versetzte den ganzen Körper in Fäulnis.“ Konkret beschrieb 1365 der päpstliche Chirurg Guy de Chauliac die beiden Varianten der Pest: Die eine war „durch anhaltendes Fieber und Blutspucken gekennzeichnet“, während sich bei der zweiten „Pusteln und Beulen auf der Haut entwickelten, besonders unter den Achseln und in der Leistengegend“.
Die Menschen sahen in der Seuche eine Strafe Gottes
Aus den Jahren nach 1348 sind etwa 25 Pesttraktate von Ärzten überliefert. Fast ausnahmslos wurde die Seuche mit der Theorie der fauligen Lüfte, der „Miasmen“, erklärt: Ein Überschuss an Hitze und Feuchtigkeit – im Körper wie in der Umwelt – bedeutete demnach hohe Infektionsgefahr. Mediziner ließen Infizierte und Gefährdete zur Ader, um die vier Körpersäfte Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle zu reduzieren, die von den Hippokratikern als heiß und feucht angesehen wurden. Hitze und Feuchtigkeit, wo immer sie auftraten und was immer man darunter verstand, begünstigten angeblich die „Luftverpestung“. Sonnenbestrahlung in schwüler Umgebung galt ebenso als infektionsfördernd wie warme Südwinde.
Auch wenn die Ärzte die Verantwortlichen beim Kampf gegen die Epidemie berieten, folgte die Obrigkeit ihren Ratschlägen nicht immer. Die hippokratische Theorie, dass die Miasmen die Seuche übertrugen, stand im Widerspruch zum Pragmatismus der Behörden, die auch bei klarer Luft für eine strenge Isolierung der Kranken plädierten.
Um das Volk zu beruhigen, versuchten die Behörden 1348 in Florenz
und auch in Venedig zunächst, die ersten Anzeichen eines Seuchenausbruchs herunterzuspielen ein Verhalten, das in der Geschichte der Epidemien durchaus als charakteristisch gelten kann.
In den spätmittelalterlichen italienischen, französischen und deutschen Städten ging es den Herrschenden darum, die Bewohner bei Laune zu halten, Unruhen zu vermeiden und der Wirtschaft möglichst wenig zu schaden. Selbst mit den Quarantänestationen, die erstmals in Marseille, Ragusa und Venedig nachweisbar sind, wurde zunächst das Ziel verbunden, dem Handel freien Lauf zu lassen. Wer allerdings unter den ausländischen Kaufleuten und Matrosen Symptome zeigte, wurde in Venedig, Pisa oder Genua in Lazarette gesperrt, die faktisch Gefängnisse waren.
Obwohl die letzte vergleichbare Katastrophe, die „Pest des Justinian“, so gut wie vergessen war, griffen die Behörden 1348 auf Handlungsmuster zurück, die sich bereits früher bei Seuchen bewährt hatten. Auch im Hochmittelalter war es zu Epidemien gekommen, die heute freilich schwer zu verifizieren sind. Als Luchino Visconti, der Tyrann von Mailand, seine Stadt 1348 militärisch abriegeln ließ, folgte er bekannten seuchenpolitischen Regeln. Der Erfolg blieb nicht aus: Die lombardische Hauptstadt wurde 1348 tatsächlich von der Pest verschont. Die Folge war allerdings, dass die Einwohner Mailands einige Jahre später, beim nächsten Ausbruch, umso schlimmer dezimiert wurden, da sie keine Immunität hatten ausbilden können, während die Sterblichkeit in Florenz, Venedig, Paris oder Genua, wo die Pest schon gewütet hatte, nun deutlich geringer ausfiel.
Eine strenge Kontrolle des Seuchenalltags durch die Behörden
galt bereits im Mittelalter als unverzichtbar.
Schon früh gab es in Italien entsprechende Notstandsverordnungen und eine Art Gesundheitspolizei. 1576 und 1631/32, als Venedig von einer mit der Epidemie von 1348 vergleichbaren Pestkatastrophe heimgesucht wurde, regelten die „Gesundheitsgesetze“ den Ablauf der Trauergottesdienste: Sie schrieben im Detail vor, welche Kleidung getragen werden und wie die Zeremonie der Beisetzung ablaufen musste. Das Läuten der Totenglocken verstummte, „weil die Erkrankten sie hören konnten und Gesunde wie Kranke darüber in Bestürzung gerieten“. Die Gefahr zu verdrängen war wie bei vielen Epidemien ein durchaus wichtiger Teil der Krisenbewältigung.
Die Menschen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit sahen in der Seuche eine Strafe Gottes. Denn dass die Menschheit sündig und verkommen war, wurde von kaum jemandem bestritten. Francesco Petrarca, mit Boccaccio der wohl bekannteste Intellektuelle der Epoche, monierte allerdings, dass die Generationen zuvor kaum frommer gelebt hätten, ohne in vergleichbarer Weise bestraft worden zu sein. Hier zeigte sich ein neuer Skeptizismus. Die Vorstellung der ordo medievalis, nach der die Gesellschaft, jede staatliche oder städtische Hierarchie, ein Abbild der göttlichen Ordnung darstellte, war brüchig geworden.
Die Schicksalhaftigkeit der Pest bewirkte eine quälende Unruhe – für den einzelnen Menschen wie für die Gesellschaft. Soziale Netzwerke zerbrachen in den Seuchenzeiten. Jedermann wusste aus Erfahrung, dass den Betroffenen nicht nur Leid und Tod, sondern ebenso gesellschaftliche Ausgrenzung und Vereinsamung drohten, dass Freundschaften und Familienbande zerbrechen konnten. Die Pestwellen, die vom 14. Jahrhundert an Europas Großstädte, aber auch den muslimisch geprägten Vorderen Orient heimsuchten, hatten etwas von einer düsteren Wiederkehr. Sie ließen Zweifel an der Gerechtigkeit Gottes aufkommen und machten es schwer, auch nur halbwegs optimistisch in die Zukunft zu blicken.
Es verblüfft daher heute, dass Petrarca die Zeit vor der Pest als mundus senescens, als vergreiste, starre Gesellschaft sah, die nach Verjüngung und geistigem Aufbruch lechzte. Die Vorstellung einer durch greisenhaftes Denken fehlgeleiteten Gesellschaft zirkulierte also bereits vor 1348. Petrarca beschreibt eindrucksvoll das Versagen der Alten im Kampf gegen die Seuche:
Die Zeit der Angst wurde zum Eldorado der Krisengewinnler
Wehe mir, was muss ich erdulden?
Welch heftige Qual steht
Durch das Schicksal mir bevor?
Ich seh’ eine Zeit, wo die Welt
Sich rasend ihrem Ende nähert,
um mich herum in Scharen
Jung und Alt dahinsterben.
Kein sicherer Ort bleibt mehr,
kein Hafen tut sich auf der ganzen Welt mir auf.
Es gibt, wie es scheint, keine Hoffnung
auf die ersehnte Rettung.
Unzählige Leichenzüge seh’ ich nur,
wohin ich angstvoll die Augen wende,
und sie verwirren meinen Blick.
Die Kirchen hallen vom Klagen wider
Und sind gefüllt mit Bahren.
Ehrlos liegen die Vornehmen
tot neben dem gemeinen Volk.
Diese Zeilen schrieb Petrarca unmittelbar nach 1348. Sie zeigen die Entwurzelung des christlichen Intellektuellen, der den Eindruck gewonnen hat, dass Philosophie, Poesie und Kunst angesichts der tödlichen Herausforderung keine echte Lebenshilfe mehr boten. Selbst jahrelange Übungen in der ars moriendi, „der Kunst des Sterbens“, die im christlichen Mittelalter einen selbstverständlichen Teil der ars vivendi, der Lebenskunst, darstellte, erschienen nutzlos. Wer wie Petrarca vor Einbruch der Pest „eiserne Duldsamkeit und gänzliche Härte gegen alle Fallen des Schicksals“ gepredigt hatte, musste nun während der Epidemie ebenso verzweifeln wie jene, die in den Tag hinein gelebt hatten.
Die depressive Stimmung, der Zweifel an Gott und der Welt, schlug sich in Briefen, Chroniken, in der Poesie und auch in der bildenden Kunst nieder. Das Motiv des Totentanzes wie des Triumphs des Todes setzte nun für Jahrhunderte vor allem in der italienischen, deutschen und französischen Malerei Akzente. Die darin mitschwingende Warnung memento mori – sei dir deiner Sterblichkeit bewusst – beeindruckte die Besucher von Kirchen oder Friedhöfen. Selbst als die Pest abgeklungen war, blieb der Tod in den Werken der Maler und Zeichner als bedrohlicher Reiter, als Spielmann, als Schnitter, als Rattenfänger, als verführerischer Musikant, vor allem aber als furchterregendes Skelett präsent. Und so lautete die eindeutige Botschaft, dass der Tod in absehbarer Zeit diesen oder jenen Betrachter, vielleicht aber auch Unzählige gleichzeitig aus der Schar der Lebenden holen werde.
Doch scheint die Pest auch besondere Kräfte freigesetzt zu haben. So beerdigte Agnolo di Tura, Autor einer italienischen Stadtchronik, seine fünf an der Pest gestorbenen Kinder „mit eigenen Händen in einer Grube“. Unvergessen blieben nach der Pest auch jene Zeitgenossen, die sich mutig um Kranke und Sterbende kümmerten. Viele Klöster hatten hohe Opferzahlen zu beklagen, weil Mönche und Nonnen geblieben waren und Nächstenliebe praktiziert hatten.
In den Pesthospitälern übernahmen Mitglieder von Pflegeorden die Krankenfürsorge. Allein das Konvent Scuola della Carità in Venedig beklagte unter seinen Mitgliedern mehr als 300 Tote. Im Dominikanerkonvent von Santa Maria Novella in Florenz, wo Boccaccio die Rahmenhandlung des Decamerone beginnen lässt, kamen von 130 Brüdern 80 um. Konsterniert stellte der für die Eintragungen ins Totenbuch zuständige Fra Paolo Bilenchi fest: „Möge der Nachwelt dieses Ereignis nicht wie eine Sage aus dem Volk erscheinen.“
In Paris brachte man 1348 täglich 500 Leichen vom Hôtel-de-Dieu zum Begräbnis auf den Friedhof. Jean de Venette berichtet, wie sich Ordensleute auch hier in der Pflege verausgabten und die Zahl der Helfer, obgleich heftig dezimiert, sofort durch Freiwillige wieder aufgestockt wurde. Besonders die Schwestern des Hôtel-de-Dieu sollen großen Mut gezeigt haben. Sie „hatten keine Furcht, pflegten die Kranken mit aller Zuneigung und vergaßen all ihre Angst“. Die Pestkranken litten auch an seelischen Qualen, weshalb gerade geistlicher Rat gefragt war.
Es gab auch Menschen, die das Risiko der Infektion in Kauf nahmen, um sich zu bereichern. Sie überfielen Sterbende oder plünderten Tote in ihren Häusern aus. Die Zunahme der Kriminalität blieb über Jahrhunderte ein hartnäckiges Begleitsymptom von Seuchen. Oft genug waren Exekutive und Rechtsprechung während der Epidemien außer Kraft gesetzt, da die zuständigen Behörden derart dezimiert waren, dass sie funktionsunfähig wurden. Auch dies förderte die Plünderei, was in den Städten in der Regel zu nächtlichen Ausgangssperren führte.
Von den Seuchen profitierten nicht nur Kriminelle, sondern auch skrupellose Geschäftemacher. Die Zeit der Angst wurde zum Eldorado der Krisengewinnler. In Florenz stiegen die Preise für Lebensmittel sprunghaft an. Backwaren und Zucker wurden maßlos teuer, ebenso Eier und Hühner, deren Fleisch, vor allem in der Suppe, als Prophylaktikum galt. Manchen gelang es, durch die Pest reich zu werden. Tatsächlich explodierte angesichts des großen Bedarfs an Totenkerzen der Wachspreis. Niemand durfte in Florenz mehr als zwei Kerzen kaufen – und das nur bei einem Trauerfall in der eigenen Familie. Totengräber versetzten zu Höchstpreisen gebrauchte Bahren, Decken und Kissen. Die Leichenbekleidung für eine Frau kostete vor 1348 etwa drei Florin – während der Pest schnellte der Preis auf 30 Florin hoch „und wäre noch weiter auf hundert Florin gestiegen, hätte man nicht aufgehört, die Toten zu bekleiden“, wie der Chronist Marchionne di Coppo Stefani ausführt.
„Ärzte fanden sich nicht mehr, da sie dahinstarben“
Er berichtet auch, wie die medizinische Versorgung in der Toskana in kürzester Zeit zusammenbrach: „Ärzte fanden sich nicht mehr, da sie wie die anderen Menschen dahinstarben. Und traf man noch einige, so forderten sie im Voraus eine unverschämte Geldsumme auf die Hand, sobald sie ein Pesthaus betraten. Waren sie aber eingetreten, tasteten sie den Puls nur mit abgewandtem Gesicht.“ Man merkte freilich bald, dass die Mediziner kein Mittel kannten, um die Krankheit zu heilen.
Bestattungen gerieten zur „Entsorgung“. Es galt, die große Mehrheit der Bevölkerung vor der Minderheit der Erkrankten, aber auch vor den infektiösen Leichen zu schützen. Außerhalb der Städte legte man Notfriedhöfe an. Schichtweise wurden hier die Leichen übereinandergestapelt, wie Marchionne und Boccaccio berichten. Es besteht kaum Zweifel, dass Sterbende meist hart und unbarmherzig behandelt wurden, da die Überlebensinteressen der Mehrheit höher gewertet wurden als die Würde des Einzelnen. Für Mitleid, Nächstenliebe und die Tröstung anderer blieb wenig Raum. „Das gewaltigste, schrecklichste und furchtbarste Sterben, von dem je berichtet wurde“, nannte der Chronist Agnolo di Tura das Wüten der Pest. Der Schwarze Tod im 14. Jahrhundert gilt deshalb zu Recht als eines der grauenhaftesten Ereignisse unserer Geschichte.
Dennoch ging die Welt nicht unter. Die pessimistische Mentalität, die vor allem Intellektuelle ergriff und die alles Vergangene infrage stellte, kündigte in Wirklichkeit ein neues Zeitalter an. In vielen Städten verlor die kleine Schicht der Patrizier an Einfluss und Macht – auch viele Angehörige der Oberschicht waren Opfer der Pest geworden. Stattdessen stiegen die Zünfte auf und nahmen den Platz der Aristokratie ein. Die Zusammenschlüsse von Handwerkern und Gewerbetreibenden schrieben Preise und Qualitätsstandards vor, regelten die Berufsausbildung, die Vergütung von Gesellen oder die Versorgung von Witwen.
Die Zünfte waren einer der Gründe, warum nach der Pest die Städte in Europa aufblühten. Die Städte profitierten von der Landflucht, die nach der Epidemie einsetzte: Viele Menschen verließen die Dörfer, um in den Metropolen ein besseres Leben führen zu können. Der Handel florierte rasch wieder, obwohl die Zahl der Abnehmer gesunken war. Das massenhafte Sterben auch unter den Wohlhabenden hatte dazu geführt, dass die Überlebenden viel Kapital erbten, das sie investieren konnten: in neue Betriebe, Handelshäuser, Schiffe oder Immobilien.
Aber nicht nur Reiche profitierten. „Da die Leute nur noch wenige waren und Grund und Boden im Überfluss erbten, vergaßen sie die Vergangenheit. Das niedrige Volk wollte nicht mehr in den alten Berufen arbeiten, da Männer und Frauen vom Überfluss überwältigt wurden, den man in allen Bereichen vorfand“, berichtet der Chronist Matteo Villani. „Man verlangte nach teuren und köstlichen Speisen, und bei Hochzeiten kleideten sich die Frauen und Kinder niedrigen Standes in all die schönen und teuren Gewänder der Vornehmen, die umgekommen waren.“
Neu am Kiosk
Kaufleute suchten und fanden neue Geschäftspartner. Generell zeigten sich die Menschen, die dem massenhaften Sterben entgangen waren, offen für Neues. Es entstanden Akademien und Universitäten, aber auch das Kunsthandwerk und die Malerei erfuhren höchste Wertschätzung und wurden von Mäzenen gefördert. Stiftungen, oft aus ererbtem Kapital finanziert, spielten nun eine wichtige Rolle.
Der Kulturhistoriker Egon Friedell sah in der Pest von 1348 nicht ohne Grund den Beginn der Neuzeit. Der kulturelle Triumph der Frührenaissance war für ihn auch eine Folge des Schwarzen Todes. Vieles spricht für diese These. Ein neuer Individualismus kam auf, und herausragende Zeitgenossen wie Petrarca und Boccaccio begründeten das Zeitalter des Humanismus. Auch wenn der Mentalitätswandel schon früher eingesetzt hatte, das Urvertrauen in Gott und den von ihm geplanten Lauf der Geschichte schon vor dem Ausbruch der Pest ins Wanken geraten war – die tödliche Seuche verstärkte diese Zweifel.
Klaus Bergdolt: „Die Pest. Geschichte des Schwarzen Todes“
C. H. Beck Verlag, München 2017