Um 1300 entstand in Zürich eine der schönsten Handschriften des Mittelalters. Ausgestellt wird sie nur noch selten, derzeit aber gerade in Mainzi n einer Ausstellung über Macht und Herrschaft der Kaiser. Er ist der mächtigste Mann der Welt. Höchstens vor dem Papst geht er auf die Knie. Aber eigentlich nicht einmal das. Oder nur dann, wenn er sich etwas davon verspricht. Am Ostermontag 1191 wird Heinrich VI. vom Papst zum Kaiser des Römischen Reichs gekrönt. Vielleicht müsste man eher sagen: Er lässt sich vom Papst zum Kaiser krönen.

Der Papst und der Kaiser, das sind im Früh- und Hochmittelalter die universalen Mächte der westlichen Welt. Aber das Verhältnis, das sie verbindet, ist heikel.

Wer oben ist und wer unten, ist nicht leicht zu sagen
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Die Antwort hängt vom Standpunkt ab und von der politischen Grosswetterlage. Die Kaiserkrönung ist ein Machtpoker mit einigermassen festen Regeln, die aber jedes Mal wieder neu zur Disposition gestellt werden. Beide Seiten haben Forderungen, stellen Bedingungen, manchmal geht es hart auf hart. Bündnisse, Verhandlungsgeschick und Versprechungen entscheiden darüber, wer sich durchsetzt und zu welchem Preis. Irgendwo muss man sich treffen, schliesslich hat jeder seine Bedürfnisse. Und seine Wünsche. Frieden vielleicht. Ruhm. Oder Macht.
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Mächtig sind beide, Kaiser und Papst. Aber auch ein Papst braucht politische Rückendeckung, manchmal sogar militärischen Schutz. Mit dem König im Bund fällt vieles leichter. Anderseits ist es für den König von Vorteil, mit der Kirche gut zu stehen. Wer den Stellvertreter Christi zum Gegner hat, um dessen Seelenheil steht es nicht zum Besten. Am Ende führt der Weg in den Himmel durch die Kirche, und vor Höllenstrafen gibt es keine Standesunterschiede.

Vor allem aber: Nur der Papst kann den König zum Kaiser machen. Am Weihnachtstag des Jahres 800 hatte sich Karl der Grosse im Petersdom in Rom von Papst Leo III. die Kaiserkrone aufs Haupt setzen lassen. Seither galt: Der Papst krönt den Kaiser. Aber er muss es nicht tun. Nicht jeder deutsche König wird zum höchsten weltlichen Herrscher der lateinischen Christenheit. Anderseits bestimmen die Kaiser manchmal auch darüber, wer Papst werden darf.

Der Hofstaat reist durch die Länder

Römisch-deutscher König ist Heinrich schon lange, als er sich mit Papst Coelestin III. über die Modalitäten der Kaiserkrönung einigt. Als Dreijähriger wurde er von den Fürsten und Bischöfen des Reichs in Bamberg zum König gewählt und kurz darauf in Aachen gekrönt. Alles auf Betreiben seines Vaters Friedrich I. Barbarossa. Später, mit einundzwanzig, war Heinrich nicht mehr nur römischer König, sondern auch König von Italien. Und wenige Jahre darauf konnte er sich dazu noch König von Sizilien nennen.

Ein zielstrebiger Aufstieg. Als Heinrich Kaiser wird, ist das Heilige Römische Reich so gross, wie es noch nie war. Es umfasst fast das ganze heutige Mittel- und Südeuropa von der Nordsee bis ans Mittelmeer, von Südfrankreich bis zur Elbe. Über eine Million Quadratkilometer Fläche, gegen zweihundert Bistümer, Hunderte von Abteien und Städten, insgesamt gegen zehn Millionen Einwohner. Über das ganze Gebiet verteilt stehen weit über hundert Pfalzen – Palastresidenzen –, in denen sich der Kaiser aufhält, wenn er im Reich unterwegs ist.

Und das ist er fast immer. Eine feste Residenz gibt es nicht, die mittelalterlichen Kaiser regieren gewissermassen im Sattel. Ihr Hofstaat ist ein Tross von Hunderten, manchmal Tausenden von Menschen, die dauernd durch die Länder ziehen, sich ein paar Tage da, ein paar Wochen, vielleicht einmal Monate dort aufhalten. Macht hat nur, wer sie ausübt. Und das heisst: Präsenz zeigt. Herrschaft heisst Kontrolle. Beziehungen wollen gepflegt, Abhängigkeiten bestätigt werden. Nur so lassen sich unbotmässige Machtgelüste von Landesfürsten, Bischöfen oder Beamten eindämmen, bevor sie zu politischen Flächenbränden werden, die nicht mehr zu beherrschen sind. Auch ein Kaiser muss Macht teilen. Aber er darf sich nie darauf verlassen, dass die, mit denen er sie teilt, sie nicht gegen ihn verwenden.

«Mir sind die Reiche und die Länder untertan», schreibt Heinrich VI. in einem Gedicht, das in der schönsten erhaltenen Sammlung mittelhochdeutscher Lyrik zu lesen ist: der Manessischen Liederhandschrift. Um 1300 ist sie in Zürich entstanden, ein prachtvolles Buch, das Werke von mehr als hundert Autoren zu einer Anthologie höfischer Dichtung versammelt. Eine der schönsten mittelalterlichen Handschriften, aufwendig illustriert mit Bildern in einer Qualität, wie sie nur in wenigen mittelalterlichen Handschriften zu finden ist.

Erinnerung an grosse Zeiten

Eröffnet wird die Sammlung mit dem Bild von Heinrich VI. und drei Gedichten aus seiner Feder. Das Bild zeigt den Kaiser auf einem Thron sitzend, die Krone auf dem Kopf, mit Zepter und Schwert, neben sich das Reichswappen, einen schwarzer Adler auf goldenem Grund, und die vom Reichsadler bekrönte Helmzier. Da sitzt er, der mächtigste Herrscher auf der Welt, der höchste Richter und oberste Lehensherr. Aber zu den Symbolen der Macht kommt etwas hinzu: In der linken Hand hält Heinrich nicht den Reichsapfel, sondern eine Schriftrolle, die sich elegant in die Höhe schwingt und zeigt: Der Mann kann nicht nur herrschen. Er hat es auch mit den schönen Künsten, er ist ein Literat.

Als die Manessische Liederhandschrift entstand, war Heinrich VI. schon lange tot. 1197 war er in Messina gestorben, kurz bevor sein Schiff in See stechen sollte, um einen Kreuzzug nach Palästina anzuführen. Heinrich wollte vollenden, was sein Vater sieben Jahre vorher begonnen hatte: Barbarossa war auf dem Weg in den heiligen Krieg gestorben, ertrunken in einem Fluss in der Türkei. Die Herrschaft Heinrichs VI. war nur noch eine ferne Erinnerung, als die Maler der Manesse-Handschrift sein Bild anfertigten. Aber die Erinnerung war lebendig geblieben, auch beim Zürcher Patrizier Rüdiger Manesse, der die Liedersammlung zusammen mit seinem Sohn in Auftrag gab und ihre Entstehung begleitete.

Im Rückblick erschien den beiden die Zeit der Stauferkaiser offensichtlich als Blüte der von ritterlichen Idealen geprägten Adelskultur. Zugleich war ihnen wohl auch bewusst, dass das Kaisertum mit dem Tod Heinrichs seine grosse Zeit überschritten hatte. Die Bemühungen des Kaisers, das Reich in eine Erbmonarchie zu verwandeln, waren gescheitert. Nach seinem Tod erhob der Papst den Anspruch, gleichberechtigt mit den deutschen Fürsten bei der Wahl des Königs mitzureden. Er blockierte anstehende Entscheidungen, und es dauerte rund zwei Jahrzehnte, bis Heinrichs Sohn Friedrich II. den Thron besteigen konnte. Als letzter Staufer und für Jahrzehnte auch als letzter Kaiser des Heiligen Römischen Reiches.

Alles hängt an einer Frau

Die Manessische Liederhandschrift ist nicht nur eine Anthologie von Gedichten und Liedern, die man bereits damals als klassisch empfand. Sie ist auch eine Hommage an die höfische Kultur. Und man kann in ihr Entdeckungen machen. Die drei Lieder zum Beispiel, die unter dem Namen Heinrichs VI. überliefert sind. Ob sie tatsächlich von ihm selber stammen? Wahrscheinlich schon, es gibt keinen Grund, daran zu zweifeln. Der Kaiser war gebildet, er konnte lesen und schreiben, das wissen wir aus zeitgenössischen Chroniken. Und am Hof der Staufer spielten Literatur, Kunst und Musik eine wichtige Rolle. Schon als Kind kam Heinrich mit Dichtern und Malern in Kontakt.

Man liest seine Gedichte nicht ohne Schmunzeln. «Mir sind die Reiche und die Länder untertan», schreibt der Kaiser und fügt sofort hinzu, seine ganze Herrschaft hänge allein an einer Frau, seiner Geliebten. Nur wenn er bei ihr sei, gehörten ihm die Länder und Reiche: «Sooft ich von ihr Abschied nehme, / sind all meine Macht und mein Reichtum dahin; / sehnsüchtigen Kummer nenn ich dann meinen Besitz.» Ohne seine «minneclîche» ist er nichts: «Ehe ich sie aufgäbe, gäbe ich lieber die Krone her.»

Das sind formelhafte Wendungen, wie sie für die mittelalterliche Liebesdichtung typisch sind. Über den Menschen, der sie schrieb, sagen sie kaum etwas. Seinen Zeitgenossen galt Heinrich VI. als grausam, ja barbarisch, besonders wenn es darum ging, Aufständische zu bestrafen. Was Macht bedeutet, wusste er sicher besser als jeder andere. Er wusste, wie zerbrechlich sie ist. Wie wenig es braucht, bis man sie verliert. Und dass sie manchmal von Dingen abhängt, die niemand beeinflussen kann. Nicht einmal ein Kaiser.

Die Manessische Liederhandschrift ist in Mainz ausgestellt. Vis-à-vis mit dem Original
„Grosse Heidelberger Liederhandschrift“

Die Manessische Liederhandschrift ist eine der berühmtesten Handschriften aus dem Mittelalter. Seit Ende des 19. Jahrhunderts befindet sie sich in der Universitätsbibliothek Heidelberg und wird deshalb auch Grosse Heidelberger Liederhandschrift genannt. Den Raum, in dem sie unter strengen Sicherheitsvorkehrungen und genau festgelegten klimatischen Bedingungen gelagert wird, verlässt sie nur noch alle fünfzehn bis zwanzig Jahre. 1991 wurde sie in Zürich gezeigt, 2006 in Magdeburg. In der Landesausstellung «Die Kaiser und die Säulen ihrer Macht» im Landesmuseum Mainz ist sie bis Ende Oktober zu sehen. Dann wird sie durch ein Faksimile ersetzt. Die Ausstellung dauert bis zum 18. April 2021 und gibt einen Überblick über die Kaiserherrschaft im Mittelalter vom 9. bis zum 13. Jahrhundert.
Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen
(Preis im Buchhandel: 69.90).

Okt. 2020 | Heidelberg, Allgemein, Buchempfehlungen, Feuilleton, Senioren | Kommentieren