Vor genau 400 Jahren läutete der englische Grosskanzler Francis Bacon ein neues Zeitalter ein, das Zeitalter der Wissensgesellschaft.

Mit der Publikation seines „Novum Organum Scientiarum“ (Titelbild), dem „neuen Instrument der Wissenschaften“, bezweckte er nämlich nichts Geringeres als das: die Grundannahmen dessen, was Wissen ist, wie es zustande kommt und wozu es dienen soll, radikal zu reformieren. Sein «Novum Organum» von 1620 bildete den Eckstein einer komplexen und ambitionierten «instauratio magna», einer «grossen Erneuerung», deren Ausführung seiner Einschätzung nach mehrere Generationen in Anspruch nehmen würde.

Seit dem frühen 13. Jahrhundert wurde an den Universitäten ein aristotelisches Wissensideal propagiert, das auch noch zu Bacons Zeiten dominant war. Darin wird uns Wissen als ein persönlicher Zustand beschrieben, in welchem der Wissende Wahrheiten aus sicherer Kenntnis der Ursachen ableiten kann. Aristotelisches Wissen und Wissenschaft sind somit persönlich, sicher, deduktiv und – weil sie die höchsten Stufen der Seelenkräfte involvieren – auch tugendhaft.

Dieser Auffassung setzte Francis Bacon ein Modell entgegen, in dem wir ohne Zögern das moderne Wissenschaftsideal wiedererkennen: Wissen bedeutet keine persönliche epistemische Sicherheit, sondern ist das vorläufige Resultat einer kollektiven Suche nach Wahrscheinlichkeiten. Ihr Zweck ist nicht die Tugend, sondern Wohlfahrt und Macht.

Die Welt wird grösser

Mit der Entdeckung der Neuen Welt war deutlich geworden, dass es auf dieser Erde Dinge zu entdecken gab, welche die antiken Gelehrten buchstäblich noch nicht kartiert hatten. Zudem liessen technologische Erneuerungen – im Rückblick oft emblematisch verkürzt auf Kompass, Buchdruck und Schiesspulver – verwegene Geister bereits im 16. Jahrhundert behaupten, man sei dabei, der Antike den Rang abzulaufen. Bacon verknüpfte diese zwei Elemente in der richtigen Bemerkung, «in unserer Zeit werden viele Teile der Neuen Welt wie auch die äussersten Gebiete der Alten Welt entschlossen, und die Zahl der Experimente wächst ins Unermessliche».

Dennoch kamen die Grundfesten des aristotelischen Weltbildes eigentlich erst 1610 ins Wanken, als sich wegen der Publikation von Galileo Galileis teleskopischen Himmelsbeobachtungen das Blatt zugunsten von Kopernikus’ heliozentrischer Kosmologie zu wenden begann. Wenn sich nämlich die Erde tatsächlich um die Sonne drehen sollte, war nicht nur Aristoteles’ Astronomie falsch, sondern auch seine ganze Physik, deren vier Elemente ja aus der Logik der Erde als Weltmittelpunkt gedacht waren.

Im frühen 17. Jahrhundert brach das alte Weltbild auseinander

Doch wo war das neue? In dieser Krisensituation probierte sich mancher Gelehrte als neuer Aristoteles zu inszenieren. Die Figur des genialen Erlösers, damals «novator» oder «Neuerer» genannt, definiert die ganze Ahnenreihe der frühmodernen Philosophie von Bernardino Telesio und Giordano Bruno bis hin zu René Descartes, der ja eigenhändig Epistemologie, Metaphysik, Physik und alle daraus ableitbaren Disziplinen zu reformieren versuchte.

Über alle Grenzen hinaus

Francis Bacon hat als Einziger auf diese Krise anders reagiert. Zwar ist auch er damals der Kategorie der «Neuerer» zugeordnet worden, doch trug sein Gegenvorschlag radikal andere Züge. Die Idee sicherer, persönlicher Kenntnis liess er zugunsten einer kollektiv betriebenen Forschung fahren. Bei ihm bezeichnet das Wort «Wissenschaft» deswegen auch nicht länger einen Zustand, sondern vielmehr eine Tätigkeit, und zwar die des fleissigen Versammelns von empirischen Befunden. Diese Sammlungen sollten einerseits Schlüsse auf verborgene Naturgesetze und -prozesse ermöglichen und andererseits nutzbringend in verschiedenen technischen und medizinischen Bereichen zur Anwendung kommen.

Diese neuartige Zielsetzung wird auf dem berühmten Titelblatt seines «Novum Organum» programmatisch abgebildet, auf welchem die Symbolik nautisch-militärischer Entdeckungen erstmals auf das Gebiet der wissenschaftlichen Erkenntnis übertragen wird. In einem kühnen ikonografischen Griff adaptiert Bacon dabei die zwei Säulen des Herkules, die zur Devise der spanischen Habsburger geworden waren und die auch heute noch die spanische Flagge zieren. Spanien hatte den Islam zurückgedrängt bis hinter die Strasse von Gibraltar, welche die zwei Säulen des Herkules einst gesäumt haben sollen, und eigneten sich seither auch stets neue Gebiete jenseits des Atlantiks an.

Schifffahrt, Handel und Eroberung – der Mensch wagt sich vor ins Ungewisse: Titelblatt von Andrés García de Céspedes’ «Regimiento de navegación» (Madrid, 1606).

Schifffahrt, Handel und Eroberung – der Mensch wagt sich vor ins Ungewisse: Andrés García de Céspedes’ «Regimiento de navegación» (Madrid, 1606).

«Plus ultra» – «Weiter hinaus» – war denn auch die dazu gehörende, passende Devise der spanischen Könige. Beim spanischen Kartografen und Instrumentenmacher Andrés García de Céspedes stehen Schiff und Säulen für Schifffahrt, Handel und Eroberung. Dass nun der englische Grosskanzler Bacon das Emblem des mit England rivalisierenden spanischen Königs übernimmt mitsamt dessen Devise «Plus ultra», ist an sich bereits erstaunlich. Für uns ist jedoch von grösserer Bedeutung, dass er die Symbolik von alte Grenzen überwindenden Schiffen auf die Eroberung neuer Wissensgebiete und auf die Empirie von Forschungsprogrammen übertragen hat.

Das Ideal des Fortschritts

Das Motto, das Bacon unter seine Schiffe setzt, ist jedoch nicht spanisch, sondern dem biblischen Buch Daniel entnommen. Luther hat den betreffenden Bibelvers so übersetzt: «So werden viele darüberkommen und grossen Verstand finden.» Doch auf Lateinisch wie auf Englisch klingt der Bibelvers moderner: «augebitur scientia» kann, etwas anachronistisch, als «science will grow» übersetzt werden, und genau so will es Bacon auch verstanden haben.

Im «Novum Organum» bezeichnet er nämlich das herkömmliche Vertrauen in die antiken Wissenschaften als «schicksalhafte Säulen», die den Weg zu wissenschaftlicher Erneuerung versperrten. Wissenschaft dürfe nicht blosses Anlernen von Erworbenem bleiben, sondern müsse vor allem eine Methodologie zur Entdeckung von Neuem bieten und Fortschritt ermöglichen. «Fortschritt» ist denn auch ein Schlüsselwort von Bacons Rhetorik, die stets hinderliche Grenzsäulen passieren und alte Idole niederreissen will.

Für die Protagonisten der wissenschaftlichen Revolution und der Aufklärung war Bacon ein Held. D’Alembert beispielsweise spricht schlichtweg von «l’immortel Chancelier d’Angleterre». Seit dem 19. Jahrhundert hat allerdings der Glanz seines Namens an Leuchtkraft eingebüsst. Viel ist darüber gestritten worden, ob sein Fortschrittsideal, in welchem alttestamentarische Prophezeiungen wie die bereits zitierte Daniel-Passage mitschwingen, wirklich als modern gelten könne. Und ist die von ihm propagierte Induktionsmethode überhaupt praktikabel?

Niemand weiss, wohin die Reise geht

Radikaler ist die Frage, ob Bacons utilitaristischer Wissensbegriff uns nicht auf Abwege geführt hat. Steht seine Auffassung der Natur als einer flüchtigen und rätselhaften Gestalt, welcher wir alle Geheimnisse mit List und Gewalt abringen müssen, nicht am Anfang dessen, was wir heute als ungehemmte Ausbeutung von Naturressourcen durch immer raffiniertere Technologien erleben?

Wie man auch über Bacon denken mag, wenn man den Beginn der Moderne und ihrer Wissensauffassung begreifen will, kommt man um sein Werk nicht herum. Und genau dort, wo sein wissenschaftliches Programm sich ideologisch von dem unseren unterscheidet, stellen sich wichtige Fragen. So war ja für Bacon die Überwindung des aristotelischen Weltbildes zugleich auch ein Verlangen nach alttestamentarischen Zuständen, wo Mensch und Natur sich im Angesicht Gottes unverfälscht begreifen konnten.

Der von ihm ersehnte Fortschritt postulierte somit zumindest teilweise auch eine Rückkehr zu einer ursprünglichen, unsündigen Naturerkenntnis. Wir haben somit von Bacon zwar die Idee des Fortschritts durch wissenschaftliche Forschung geerbt, doch im Gegensatz zu ihm können wir nicht mehr benennen, wohin die Reise führen soll. Die Vorstellung eines unschuldigen Urzustands samt Einblick in das Wesen der Natur ist uns seither abhandengekommen. Und so ist die optimistische Devise «Plus ultra» zu einem rastlosen «Stets weiter» verkommen, das sich nur noch negativ definieren kann, als Überwindung all dessen, was wir momentan wissen.

Okt. 2020 | Allgemein, Essay, Feuilleton, Junge Rundschau, Politik | Kommentieren