„Die gesungene kleine None aufwärts, mit der die Verse über Maria am Kreuz ihres Sohnes beginnen, setzt ein Schmerzenszeichen voller Tradition, der Wolfgang Rihm auch nicht ausweicht, wenn sich Bariton und Bratsche zu Konsonanzen finden, reinem B-Dur auf ‚lacrimosa‘, einem Dur-Moll-Wechsel auf ‚gladius‘ – das Schwert, das durch die Seele geht. … Die Viola, meist zweistimmig spielend, wird immer mehr zu (s)einem Alter Ego. Sie widerspricht in höchsten, kaum noch zu greifenden Tönen, wenn der Sänger im Gesang das Haupt zu neigen scheint, sie setzt seinen ‚Liebesdrang‘ zu Jesus ganz allein als Raserei voller Akzente fort. Der Solistin Tabea Zimmermann ist das wirklich auf Leib und Seele komponiert. Sie spielt vollkommen sinnlich, ohne den Verstand zu verlieren – und nimmt uns so mit hinein in den Klang …“
„Stabat Mater“: Weinen und rasen
Wolfgang Rihm holt den mittelalterlichen Klagehymnus „Stabat Mater“ ins Jetzt und braucht dafür nur Christian Gerhahers Stimme und Tabea Zimmermanns Bratsche:
„Mein ganzes Leben drin, auch der ganze Katholizismus“, sagte Wolfgang Rihm vor acht Jahren im Gespräch, als sein Vers une Symphonie Fleuve geprobt wurde. Ein Choral ragt da aus den Fluten, Gedanken, Urwäldern des Orchesters heraus wie ein verwittertes Monument, eine Kindheitserinnerung.
Das Sakrale hatte diesen geräumigen Geist aber schon vorher interessiert, etwa in den Sieben Passions-Texten, in denen sechs Sänger auch den abstrakten Qualitäten des Lateinischen folgen. Jetzt, mit 68 Jahren, hat Rihm einen der berühmtesten Texte der Liturgie einer intimen Besetzung anvertraut: Ein Bariton und eine Viola begeben sich in den mittelalterlichen Hymnus Stabat Mater. Oder holen sie ihn zu uns?
Neugierig war man auf diese Uraufführung in der Berliner Philharmonie allein schon, weil Wolfgang Rihm als Komponist unberechenbar ist, immer sich entwickelnd und nie in nur eine Richtung, mitunter exzessiv im einen Werk und kontrolliert im andern aus derselben Zeit, das alles verbunden durch eine lichte Gravitation. Das letzte Programm des Musikfests war mit 636 Besuchern zwischen 1614 gesperrten Plätzen ausverkauft, natürlich auch, weil der Sänger Christian Gerhaher hieß und die Bratschistin Tabea Zimmermann. Als sie aufs Podium traten, war die hygienische Beklommenheit schon der Weite gewichen, die sechs Philharmoniker in Rihms Sphäre nach Studie (2002) realisierten. Eine wunderbare Landschaft mit Harfe, Schlagzeug, Klavier, zwei Kontrabässen. Sandsteinocker, Quarzweiß, blaugraue Wolkenstreifen.
Vor so einem Horizont wirkte das Stabat Mater umso persönlicher, dramatischer – ohne dass die Weite verloren ging. Die gesungene kleine None aufwärts, mit der die Verse über Maria am Kreuz ihres Sohnes beginnen, setzt ein Schmerzenszeichen voller Tradition, der Rihm auch nicht ausweicht, wenn sich Bariton und Bratsche zu Konsonanzen finden, reinem B-Dur auf „lacrimosa“, einem Dur-Moll-Wechsel auf „gladius“ – das Schwert, das durch die Seele geht. Solche Akkorde werden dann seltener in dem Maß, in dem die Musik tiefer in den Text geht, bis eine einzige Silbe in einen vieltönigen Klagelaut über drei Takte mündet, wenn das lyrische Ich selbst ruft, es wolle mit dem Gekreuzigten weinen, „solange ich gelebt haben werde“.
Die Viola, meist zweistimmig spielend, wird immer mehr zu (s)einem Alter Ego. Sie widerspricht in höchsten, kaum noch zu greifenden Tönen, wenn der Sänger im Gesang das Haupt zu neigen scheint, sie setzt seinen „Liebesdrang“ zu Jesus ganz allein als Raserei voller Akzente fort. Der Solistin Tabea Zimmermann ist das wirklich auf Leib und Seele komponiert. Sie spielt vollkommen sinnlich, ohne den Verstand zu verlieren – den nimmt sie mit hinein in den Klang, er geht darin auf, nicht unter. Umso spannender ist ihre Verbindung mit Christian Gerhaher, der auch in größter Emphase einen Rest kontrollierender Distanz behält. Was dazu passt, dass Rihm sich bewusst in der (Musik-)Geschichte liturgischer Exegese bewegt.
Zugleich aber macht der Komponist sich und uns den Text völlig zu eigen. Es ist, geschützt und gestützt von Symbolen und Zäsuren, auch eine neugeborene, junge Verzweiflung und Sehnsucht in seinen Linien, die man sich auch weniger „wissend“ gesungen denken könnte – freilich nur, weil Christian Gerhahers Differenzierungskunst einen so vieles verstehen lässt. Was man alles erlebt hat in diesen gerade mal 200 Takten, leuchtet weit über den gedämpften „letzten“ Ton der Bratsche hinaus, der eher ein Blick aus weiter Ferne ist.
Wie ein Sprung ins pralle, drängende, zerfetzte Leben folgte Rihms Male über Male 2 (2008), die mit neun Instrumenten „übermalte“ Fassung eines Werkes für Soloklarinette. Jörg Widmann ging – überwältigend intensiv – an sieben Notenpulten entlang einen Weg, dessen Potential schon anfangs deutlich wird, enge Intervalle vom höchsten G aus, ein Sturz um mehr als drei Oktaven. Die Klänge um dieses extreme Subjekt – Harfen, Klavier, Schlagzeug, tiefe Streicher – wandeln sich zu einem eigenen Wesen, so, wie man hinter Passanten und Fassaden den Drive einer ganzen Stadt entdeckt. Das zu koordinieren ist – bei der Impulsivität der Solostimme – eine Aufgabe, die man nicht souveräner meistern kann als der Dirigent Stanley Dodds.
Mit fast tonlosen Klappengeräuschen wandert der Solist aus dem Stück, verblassende akustische Fußstapfen. Die Spuren aber, die dieser Abend hinterlässt, führen in die Zukunft der Musik.