Zwar „fördert die EU den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten“, das jedenfalls steht im Vertrag über die Europäische Union. Aber:  Damit ist es nicht mehr weit her, heute kommen die EU-Vertreter mehrheitlich als selbstsüchtige Eigennutze einher. Auf dem ersten Gipfeltreffen in Brüssel seit Monaten, auf dem die 27 Staats- und Regierungschefs sich endlich wieder ohne Videoschalte in die Augen schauen und gegenseitig ins Gewissen reden konnten, stehen formal der Aufbauplan zur Bewältigung der Corona-Krise und der Finanzrahmen bis 2027 auf der Agenda.

Jedoch geht es um viel mehr: um die Frage nämlich, ob die Allianz noch die Kraft hat, ihre Zukunft selbst zu gestalten, statt ihren schleichenden Niedergang zu verwalten.

Dann die Meldung: Die Einigung auf ein billionenschweres Corona-Paket steht – nach viertägigem Verhandlungspoker. Schon als gestern Abend die Eilmeldung von einer Teil-Einigung über die Ticker kam, klingelte das Aber sofort hinterher: Weitere wichtige Fragen noch offen. Nur ein erster Schritt. Schaler Kompromiss. Giftige Stimmung zwischen den Verhandlern. Dieser sauer und jener düpiert.
Die Antwort der EU auf die größte Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten droht durch nationale Feilscherei zerlegt zu werden. Statt 500 soll das Corona-Hilfspaket nun nur 390 Milliarden Euro an Zuschüssenbeinhalten, hinzu kommen 360 Milliarden Euro an Krediten. Ein paar Zahlen hin oder her? Mitnichten. Der Streit ums Geld offenbart schonungsloser als je zuvor, dass am Brüsseler Verhandlungstisch inzwischen ziemlich viele Damen und Herren sitzen, die nicht der Glaube an gemeinsame Prinzipien zusammenschweißt, sondern die vor allem Egoismus antreibt. Der niederländische Premier Mark Rutte sprach es frank und frei aus: „Jeder macht hier Geschäfte für sein eigenes Land.“ Das gelingt dem einen besser und dem anderen schlechter, und mancher scheint gar nicht zu merken, wie sein Einfluss und seine Stellung schrumpfen. Viele der EU-Chefs sind allenfalls noch Scheinriesen. Zwerge? Sieben!

Der erste ist Ratspräsident Charles Michel, der eigentlich hätte konstruktive Kompromisse schmieden sollen, der dabei aber ein ums andere Mal von den Regierungschefs zurechtgestutzt worden ist. Unter dem Druck knickte er früh ein, was sowohl die sparsamen Länder um Österreich und die Niederlande als auch Ungarn und Polen ermunterte, immer neue Forderungen zu stellen. Ihm fehlt zum erfolgreichen Schlichter nicht nur die Erfahrung, sondern offenbar auch die Kaltschnäuzigkeit und das Machbewusstsein seines Vorgängers Donald Tusk.

Zum Zweiten Ursula von der Leyen: Auch sie ist längst nicht so einflußreich, wie sie sich offensichtlich als EU-Kommissionspräsidentin selbst sieht. Überbordendes Ego oder Ungeschicktheit? Jedenfalls liefert sie sich mit Ratspräsident Michel Konkurrenzkämpfchen, statt sich mit ihm die Bälle zuzuspielen und die Länderchefs so zu besseren Ergebnissen zu treiben.

Drittens Viktor Orbán und viertens Mateusz Morawiecki: Die Ministerpräsidenten Ungarns und Polens treten europäische Prinzipien mit Füßen und kommen als moralische Kleingeister daher. Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und Pressefreiheit sind im Jahr 2020 in der EU keine Selbstverständlichkeit mehr, sie werden von Semi-Autokraten zermürbt. Dass auf einem Brüsseler Gipfel überhaupt darüber verhandelt werden muss, ist an sich schon ein Skandal. Eigentlich dürften Regierungen, die demokratische Grundregeln derart eklatant verletzen, keinen einzigen Cent mehr aus dem EU-Haushalt bekommen – so lange, bis die Normen wiederhergestellt sind.

Das fand fünftens früher auch mal Emmanuel Macron, heute aber ist er längst nicht mehr der Überflieger, als der er einst gestartet ist. Die Gelbwestenproteste, die Implosion seiner En-Marche-Bewegung und die Corona-Krise haben ihm die Flügel gestutzt. Sein Wort hat in Brüssel nicht mehr das entscheidende Gewicht, das einem französischen Präsidenten eigentlich zusteht, da mag er noch so oft auf den Tisch hauen. 

Und Angela Merkel? Fast erschreckend zu sehen, wie rapide die Bundeskanzlerin an europäischem Gewicht verliert. Auch sie zählt in Brüssel plötzlich zu den Kleinen, den Zwergen. Ihr gemeinsam mit Macron präsentierter Vorschlag, der Zuschüsse von 500 Milliarden Euro für die Corona-gebeutelten Mitgliedstaaten vorsah, ist in den Verhandlungsmühlen zerhäckselt worden – und als Ratspräsidentin konnte sie ihn nicht vehement verteidigen, sondern musste auf alle Kritiker Rücksicht nehmen. Nachdem die vielbeschworene Achse Berlin/Paris dank Corona endlich zu funktionieren begann, ist sie prompt von einem neuen Kraftbündnis ausgekontert worden: Plötzlich geben die „sparsamen Chefs“ aus den Niederlanden, Österreich und Nordeuropa den Takt vor. Nun rächt sich, dass Merkel ihren Vorstoß zwar mit Macron und von der Leyen abstimmte, aber nicht mit den anderen Geberländern, die wie Deutschland mehr in den EU-Topf einzahlen als sie herausbekommen. Wer aber zahlt, der will wissen, was mit seinem Geld geschieht – und sicherstellen, dass es nicht in Bürokratie oder Schlamperei versickert: Diese Lektion haben Mark Rutte und Sebastian Kurz ihre Kollegen Angela Merkel und Emmanuel Macron gelehrt.

Wien die neuen europäischen Riesen?

Nein. Durch Beharrlichkeit, taktisches Geschick und eine Prise Frechheit haben sie es geschafft, für ihre Länder großzügige Rabatte herauszuschlagen, während sie Spanien und Italien die Daumenschrauben anlegten und zugleich Ungarn und Polen an den Pranger stellten. Als Druckmittel forderten sie, die Geldvergabe an die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien zu knüpfen. Was ja –  eigentlich – ein richtiger Gedanke ist, wirkt fragwürdig, wenn er so gut wie wusschließlich als taktischer Kniff eingesetzt wird, um den eigenen Vorteil zu mehren. Entsprechend schwammig lesen sich die Kompromisse, die nach Mitternacht in ungarischen Medien alsbald als Sieg für Orbán gefeiert wurden.

So schicken sich Holland und Österreich an, in der EU die Rolle der ausgeschiedenen Briten einzunehmen: Was zählt schon das große Ganze? Jeder macht Geschäfte für sein eigenes Land – Und, macht nicht mal einen Hehl daraus.

Kurzfristig können sich Herr Kurz, Herr Rutte und ihre nordeuropäischen Mistreiter an ihrem Erfolg erfreuen. Doch ewig wird er nicht währen, weshalb sie sich schon bald in der Rolle des siebten Zwergs wiederfinden könnten. Sie müssen fortan mit dem Risiko leben, dass die Süd- und Osteuropäer es ihnen bei nächstbester Gelegenheit heimzahlen: Wie du mir, so ich dir. Für die großen Zukunftsaufgaben Europas sind das keine guten Aussichten. Das Ringen mit China, Amerika und Russland, mit Internet-Konzernen und Steueroasen, die Herausforderungen durch Flucht und Migration, die dringend notwendige Bildungs- und Digitalisierungsoffensive, der Kampf gegen den Klimawandel und der Einsatz für eine nachhaltige Wirtschaft: All das wird nun nicht leichter. Und die nächste Krise kommt bestimmt. Dass Europa dann geeinter und stärker dasteht als heute ist nach diesem Brüsseler Verhandlungsmarathon unwahrscheinlich.

Geld kann nun mal nicht alle Probleme lösen. Wie war das, „die EU fördert die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten?“ „So ein Tag, so wunderschön wie heute? Schön, das hät`s gewesen sein können!

Sep 2020 | Allgemein | Kommentieren