Auf dem Cover werden nochmal einige der bekannten Karikaturen gezeigt (auch die dänische Karikaturen, die Charlie nachgedruckt hatte). Warum? Nun ja, wenn man sieht, dass  – zum Beispiel – der Guardian darüber berichtet, ohne das Cover abzubilden, versteht man die Provokation. Bernard-Henri Lévy tweetet dazu: „Riss, der Chef von Charlie, hat recht: Wenn der Rest der Presse die Karikaturen veröffentlicht hätte, wäre niemand in den Räumen der Zeitung gestorben. Man muss diese Zeichnungen teilen. Nicht weil sie uns zum Lachen bringen, sondern weil unsere kollektive Immunität gegen den Fanatismus davon abhängt.“
Gérard Biard schreibt im Edito der Sondernummer über den „anderen Antisemitismus“, der von bestimmten Fraktionen der Öffentlichkeit lieber beschwiegen wird, und er erinnert etwa an Sarah Halimi, die von dem Attentäteter Kobili Traoré unter „Allahu-Akbar“-Rufen aus dem Fenster geworfen wurde, und daran, dass Le Monde zu titeln wagte: „Wurde Sarah Halimi getötet, weil sie Jüdin war?“

Biard schließt: „Am Mittwoch wird ein Prozess eröffnet, den viele, inklusive der Medien, hartnäckig als ‚Charlie-hebdo-Prozess‘ bezeichnen. Darum ist es nicht überflüssig an Folgendes zu erinnern: Es ist auch der Prozess um die Hinrichtung der Polizisten Ahmed Merabet und Clarissa Jean-Philippe, die ermordet wurden, weil sie da waren, und die Ermordung Yoav Hattabs, Yohan Cohens, Philippe Brahams, François-Michel Saadas, die man umbrachte, weil sie Juden waren.“
Romy Straßenburg, ehemalige Chefredakteurin der längst eingestellten deutschen Ausgabe von Charlie hebdo, sieht das Problem im Gespräch mit Barbara Oertel von der taz allerdings vor allem in der französischen Gesellschaft: „Die Anschläge auf Charlie hebdo und den jüdischen Supermarkt stellten ja nicht den schmerzhaften Auftakt einer ganzen Reihe von islamistisch motivierten Verbrechen dar. Sie haben vor allem gezeigt, dass die französische Gesellschaft nicht ausreichend Integrationskraft besitzt, um junge Franzosen vor religiöser Radikalisierung zu schützen, und dass das zu einer großen Gefahr werden kann. Das hat den Laizismus ganz entscheidend infrage gestellt.“

Die französische Satirezeitung „Charlie Hebdo“ gilt in Frankreich als Symbol einer freien Presse, die mit bissigem Humor religiösen Fanatismus, Rassismus, Intoleranz und die Exzesse des Kapitalismus angreift. Die aktuelle Ausgabe nimmt das Buch „Unterwerfung“ von Michel Houellebecq aufs Korn, das für Frankreich das Szenario eines muslimischen Präsidenten im Jahre 2022 entwirft.

„Der Rechtsanwalt der Charlie–Hebdo-Redaktion, Richard Malka, zieht fünf Jahre nach den Anschlägen eine ernüchternde Bilanz“, berichtet in der FAZ Michaela Wiegel. „Um den Schutz der Meinungsfreiheit und der Laizität stehe es heute schlechter als 2015. Malka steht seit dem 6. Januar 2015 unter ständigem Polizeischutz. Er beklagt einen Gewöhnungseffekt: ‚Dass friedliche Pressezeichner oder Karikaturisten von der Polizei geschützt werden müssen, ist unfassbar, aber alle haben sich daran gewöhnt. Das war auch das gewünschte Ziel: Eine neue Normalität zu schaffen, in der Angst und Schweigen angesichts der möglichen Folgen von Respektlosigkeit (gegenüber dem Islam) vorherrschen‘.“
Le Monde berichtet: „Am Dienstagabend verurteilte Pakistan ‚auf das Schärfste‘ die Entscheidung zur Neuveröffentlichung der Karikaturen. ‚Ein solch vorsätzlicher Akt, um die Gefühle von Milliarden von Muslimen zu verletzen, kann nicht als Ausübung der Presse- oder Meinungsfreiheit gerechtfertigt werden‘, sagte ein Sprecher des Außenministeriums auf Twitter. ‚Solche Handlungen untergraben die globalen Bestrebungen nach friedlicher Koexistenz und sozialer und interreligiöser Harmonie‘, fügte er hinzu.“ Und in der heutigen Ausgabe titelt Le Monde: „49 Verhandlungstage, 14 Angeklagte, 200 Nebenkläger: Startschuss für den Prozess um die Attentate von Januar 2015.“

Sep. 2020 | Allgemein, In vino veritas, Junge Rundschau, Kirche & Bodenpersonal, Politik, Sapere aude, Zeitgeschehen | Kommentieren