Die ersten Arbeitstage zurück auf seiner Pariser Polizeiwache waren hart für Amar Benmohamed. Manche Kollegen hätten ihn nicht einmal gegrüßt, sagt er. Andere hätten ihn zu seinem Mut beglückwünscht – aber nur heimlich. Benmohamed arbeitet seit mehr als zwei Jahrzehnten für die Pariser Polizei. Vor wenigen Tagen hat er Kollegen und Kolleginnen öffentlich angeklagt: Sie hätten Untersuchungshäftlinge misshandelt, sie rassistisch beschimpft, ihnen Wasser und Essen verwehrt, berichtete er.

Benmohameds Anwalt sagt: Sein Klient sei der größte Whistleblower in der Geschichte der französischen Polizei, vielleicht sogar Europas. Der 48-Jährige beschuldigt seine Kollegen, gegenüber mehr als 1.000 Gefangenen ausfällig geworden zu sein. „Ich bin erleichtert, dass diese Misshandlungen nun endlich ans Licht der Öffentlichkeit kommen“, sagt er. Nun öffentlich all „die Schandtaten“ preiszugeben, sei für ihn wie eine erlösende Geburt. „Ich habe wieder mehr Helligkeit in meinem Leben.“

Jahrelang waren seine Aussagen buchstäblich im Dunkeln geblieben. Benmohamed arbeitet im Kellergeschoss des Pariser Zivilgerichts, dort gibt es keine Fenster. Hier werden Menschen eingeliefert, die kurz zuvor festgenommen wurden. Im Keller warten sie darauf, dem Richter vorgeführt zu werden: Betrunkene, Falschfahrer, gewalttätige Ehemänner und Diebe, manchmal auch Mafiabosse und Drogenhändler. „Sie kommen an wie eine entzündliche Granate, sie müssen sensibel beruhigt werden“, sagt Benmohamed und es klingt, als sei er den Festgenommenen nahe.

„Mit schlimmen Worten beleidigt“

Viele, erzählt er, kommen auch immer wieder in seinem Keller an: verlorene Seelen. Sie werden zunächst von einem Arzt oder einer Ärztin untersucht und kommen dann in ihre Zelle, darin befinden sich eine Matratze, eine Toilette und eine Kamera. An manchen Tagen, etwa als die Gelbwesten demonstrierten oder Hunderttausende gegen die Rentenreform auf die Straße gingen, seien viele Dutzend Menschen bei ihm gelandet, sagt Benmohamed.

„Viele von ihnen wurden beleidigt, mit schlimmen Worten“, berichtet er. Drogenabhängigen sei ihre Ersatzdroge verwehrt worden, auf die sie Anspruch hätten, Durstigen das Wasser. Am meisten hätten „nicht urfranzösisch“ aussehende Personen gelitten, sie habe man mit Worten zur Weißglut getrieben. Muslimen sei Schweinefleisch serviert worden, manche hätten verdorbene Bananen erhalten.

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Für Benmohamed ist klar: Seit den Terroranschlägen von 2015 in Paris und Nizza hätten es vermehrt Rassisten in die Polizei geschafft. Damals seien Tausende neue Beamte angeworben worden, viele von ihnen seien aus der Provinz gekommen und hätten zuvor noch nie einen Araber oder eine Person of Color gesehen. Benmohamed kommt selbst aus einem Pariser Vorort, ein verrufenes Viertel, er wurde dort als „dreckiger Araber“ beschimpft, daran habe er sich schon gewöhnt. Aber kein Polizeibeamter dürfe „so sprechen wie das Gesindel“.

Seit drei Jahren habe er versucht, die aggressiven und rassistischen Kollegen und Kolleginnen zur Räson zu bringen, sagt Benmohamed. Auf seine Kritik hin hätten sie aber nur gelacht und weitergemacht. Dann sei er eine Hierarchiestufe höher gegangen und dann noch eine und noch eine. Alle hätten gesagt: Sehr gut Amar, vielen Dank, dass du das meldest, das kann so nicht weitergehen. „Und dann ging es einfach weiter. Die Kollegen wurden nicht einmal vorgeladen.“ Im vergangenen März schrieb Benmohamed schließlich einen langen Rapport für die IGPN, die interne Aufsichtsbehörde der Polizei. Er nannte Namen. „Der Erste, der verhört wurde, war ich“, sagt er.

„Wir haben heute eindeutig mehr Rassisten bei uns als früher“

Tatsächlich hat die Pariser Staatsanwaltschaft inzwischen Ermittlungen aufgenommen wegen „Beleidigung und Gewalttätigkeit“. Kollegen haben Benmohameds Vorwürfe bestätigt. Die Pariser Präfektur, verantwortlich für die beschuldigten Beamten und Beamtinnen, will sich während der laufenden Ermittlungen nicht zu den Vorwürfen äußern. Gedankt wird Benmohamed allerdings nicht. Im Gegenteil, Frankreichs Innenminister Gérard Darmanin sagte in einer Anhörung vor Abgeordneten, Benmohamed habe das Fehlverhalten seiner Kollegen „ein bisschen zu spät“ gemeldet und nun drohten ihm Sanktionen. Für die NGO Maison des Lanceurs d’Alerte, die in Frankreich Whistleblower unterstützt, ist das eine typische, aber fatale Reaktion auf unliebsame Aufdecker. „Der Innenminister muss seinen mutigen Polizisten schützen, Benmohamed hat nach Recht und Gesetz gehandelt und gefährliche Verhaltensweisen aufgedeckt“, teilt sie mit.

Seitdem er zum ersten Mal mit seinen Vorgesetzten sprach, sei er isoliert worden, erzählt Benmohamed. Ihm, dem Whistleblower, sei das Leben schwer gemacht worden: Als Einziger habe er keine Warnweste mehr bekommen und keine Stempel, die er doch brauchte, um die Menschen, die man zu ihm in den Keller brachte, ordnungsgemäß zu registrieren und ihren Weg durch die Institutionen zu dokumentieren. Man habe ihn nicht mehr gegrüßt und ihm die Corona-Prämie von ein paar Hundert Euro verweigert, auf die er Anspruch gehabt hätte. Beförderungen fielen aus. Da sei ihm nur noch der Weg an die Presse geblieben. Seitdem ginge es ihm viel besser, sagt er, viele Kollegen würden sich bei ihm bedanken – aber nicht öffentlich, sie hätten Angst. Benmohameds Anwalt rechnet mit „Sanktionen und Einschüchterungen jeglicher Art“. „Mein Mandant ist in Gefahr“, sagt Arié Alimi. Und erzählt: Auch er erhalte nun sehr viele Anrufe von Polizisten, die ebenfalls auspacken wollten. „Das wird noch ganz groß“, glaubt der Jurist.

Benmohamed, ist im Gespräch zu spüren, sehnt sich zurück in eine Zeit, in der seiner Erinnerung nach die Verhafteten mehr geachtet wurden – und auch die Beamten vom Volk „geliebt“. Eine Zeit, zu der auch sein Vater als Polizist arbeitete. Damals wären die Beamten „mit einer Büchse Sardinen“ zum Mittagessen zufrieden gewesen und hätten sich auch ohne Smartphone rasend schnell orientiert. „Wir waren Helden“, sagt er.

Gewalt bei Demos

Tatsächlich ist die französische Polizei gerade weit davon entfernt, vom Volk geliebt zu werden. Zu viele Bilder von polizeilicher Gewalt bei Demonstrationen wurden veröffentlicht, einige Zeitungen zählen täglich, wie viele Menschen bei Polizeieinsätzen verletzt werden, etwa durch hochgefährliche Gummigeschosse, die Frankreichs Beamte als einzige in Europa nutzen. Die Menschenrechtschefin der Vereinten Nationen, Michelle Bachelet, verglich Frankreichs Polizei gar mit der von Unrechtsstaaten wie dem Sudan: „Ich bin besorgt über die Repression von Demonstrierenden in Venezuela, Frankreich und im Sudan“, sagte sie Anfang März. Zuletzt kamen mehr als 20.000 Menschen auf der Straße zusammen, um gegen rassistische Polizeigewalt zu demonstrieren.

„Wir haben heute eindeutig mehr Rassisten bei uns als früher“, sagt Benmohamed. Er selbst habe auf den Oberkörpern von neuen Kollegen Nazisymbole wie das Hakenkreuz gesehen. Das hätten auch die Vorgesetzten entdecken müssen: Schließlich müssten sich die Bewerber einer medizinischen Untersuchung mit freiem Oberkörper stellen.

Er hofft nun, dass „intelligente Leute“ die Polizei neu organisieren, beispielsweise Rassisten ausschließen. Denn die Mehrheit seiner Kollegen sei okay, es seien gute Leute, gute Leute, wiederholt er stetig. Benmohamed will nicht nur für die Häftlinge aussagen, sondern auch für sie, für sein Team. „Beleidigte und erniedrigte Häftlinge, womöglich noch betrunken, werden natürlich aggressiv. Der Nächste, der die Zelle aufschließt, riskiert sein Leben.“ Er selbst schließt seit dem Wochenende wieder Zellen auf.

Aug. 2020 | €uropa | Kommentieren

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