Zum Fremdschämen – Seine Fragen jedenfalls stellt er – in durchaus raffinierter Taktik – schon mal in den Raum: Grob, groß, dröhnend und bedrohlich. Sanktionen gegen einen Nato-Partner? Ein Angriff auf irgendein Land, das nicht zu jeder Forderung ja und Amen sagt? Schüsse mit scharfer Munition auf die eigenen Bürger? So vieles, was (früher mal) absurd schien, rückt plötzlich in den Fokus des Denkbaren.

„Trump stellt Wahltermin infrage.“

Perplexe Ungläubigkeit für ein, zwei Sekunden, dann Schlucken, ist das – wirklich – ist das wirklich wahr? Hat er das wirklich gesagt?
Nein, sagt er. Ja, das habe er nicht gesagt. Nur getwittert habe er das, sagt er – ha ha ha haa …  Ja, getwittert, twitterte er in der Tat  – um hernach noch einen drauf zu setzen:

„Es wird eine große Peinlichkeit für die USA“, fügt er hinzu:  Und frug: „Die Wahl verschieben, bis die Menschen richtig und in Sicherheit wählen können?“

Trump liegt in Umfragen für die Wahl am 3. November teils deutlich hinter seinem Herausforderer Joe Biden von den Demokraten.

Als Satz mit drei Fragezeichen, der Schlag ist gesetzt, und seine Anhänger verstehen ihn sofort. Im Sekundentakt prasseln die Likes und Retweets auf die Server: 50.000, 70.000, 100.000 … Durchatmen. Wahnsinn. Aber das ist noch harmlos im Vergleich zu dem, was noch kommen wird. „Der wird versuchen, einen Bürgerkrieg anzuzetteln“.

Ein Satz, der kein Ausrufezeichen braucht,
um als Knall einherzukommen …

und der ohnehin beunruhigend klingt, wenn er vom amerikanischen Präsidenten gesagt oder geschrieben oder getwittert wurde. Auch dann aber und erst recht, wenn der sich damit nicht namentlich zitieren lassen will.

Amerika am Abgrund

Im Berliner Regierungsviertel schaut man in diesen Sommertagen mit wachsender Sorge auf den taumelnden Riesen auf der anderen Seite des Atlantiks: verwundet von der Corona-Seuche, gezeichnet vom Wirtschaftseinbruch, zerrüttet von verfeindeten politischen Lagern, zersetzt von Propagandageschrei, angeführt von einem skrupellosen Narzissten, der zu jeder üblen Tat bereit zu sein scheint, um seine Macht über den Herbst hinweg zu retten.

Donald Trump kann (eigentlich!)
den Termin der Präsidentschaftswahl nicht verschieben – 

das nämlich könnte (eigentlich) nur der amerikanische Kongress; und im Repräsentantenhaus haben die Demokraten die Mehrheit. Aber er kann versuchen, die Wahl mit allen Mitteln zu delegitimieren und so seine Anhänger munitionieren, aufwiegeln, womöglich zu Gewalttaten anstacheln.
Noch immer ist dieser Präsident das Idol tausender Extremisten, Waffenträger und militanter „Bürgerwehren“. Sie verfolgen jedes seiner Worte in den a-sozialen Medien, und sie verstehen seine Botschaften, da können noch so viele Fragezeichen dahinterstehen.

Es sind die aber nicht die Einzigen, denen Trump
mit seinem Twitter-Gebrüll den Kopf zu verdrehen versucht.

Er schafft eine Gegenöffentlichkeit, eine Gegenberichterstattung, eine Gegenerzählung zu den täglichen Schreckenszahlen von der Corona-Front, um von seinem Schlingerkurs in Amerikas historischer Krise abzulenken.
Zack: Truppenabzug aus Deutschland! Wumms: Drohung gegen China! Klatsch: Breitseite gegen Demonstranten! Ra-ta-ta-taa: Schimpftiraden gegen Joe Biden! Jeden Tag ein neuer Aufreger, bis immer mehr Leute abstumpfen und gar nicht mehr merken, wie der Oberbefehlshaber versucht, die mächtigste Demokratie der Welt sturmreif zu twittern.

In dieser Logik ist das Timing seiner Attacke
auf den Wahltermin perfekt:

Der Abstand zum 3. November ist noch groß genug – falls sein Testballon platzt, erinnert sich in drei Wochen keiner mehr daran.
Falls er Aufwind bekommt: Umso besser, dann kann er nachlegen.
Und, falls Trump tatsächlich die Wahl verliert, hat er jetzt schon die Rampe für seine nächste große Erzählung gebaut:
Dann nämlich ist er kein Loser, sondern das Opfer von Wahlfälschung. Weil die Briefwahl angeblich fehleranfällig sei.
Weil die Demokraten angeblich faule Tricks anwenden.
Weil die Gouverneure in den Bundesstaaten ihn angeblich hintergehen. So eine Story behütet nicht nur das große, sensible Ego vor Beschädigung, sondern positioniert den selbsternannten Superman auch als Widerstandskämpfer gegen das korrupte Washington und die liberalen Umstürzler. Selbst wenn er verliert, kann Donald Trump dann an der Spitze des anderen Amerikas bleiben. In die zweite Runde gehen. Und die Legitimität der ersten Runde sofort in Frage stellen.

Was also kommt als Nächstes?
Die Wahlen sind, Stand heute, (noch) nicht gefährdet. Ihre Legitimität aber schon. Trump geht vielleicht aus dem Amt. Weg geht er nicht. Jedenfalls nicht freiwillig. Schaun wir mal …

Juli 2020 | Allgemein, Gesundheit, In vino veritas, Junge Rundschau, Politik, Sapere aude, Senioren, Zeitgeschehen | Kommentieren