Die Erobe­rung Konstan­ti­no­pels durch die Osmanen im Jahre 1453 bildet seit Anfang des 20. Jahr­hun­derts ein zentrales Motiv im geschicht­li­chen Selbst­ver­ständnis sowohl des späten Osma­ni­schen Reiches als auch der repu­bli­ka­ni­schen Türkei. Die große Bedeut­sam­keit dieses histo­ri­schen Ereig­nisses macht es jedoch zugleich zu einem hart umkämpften Feld, auf dem mitein­ander konkur­rie­rende poli­ti­sche Strö­mungen um Deutungs­ho­heit ringen. Die unter­schied­liche Gewich­tung natio­na­lis­ti­scher, reli­giöser und säku­larer bzw. säku­la­ris­ti­scher Elemente brachte in den vergan­genen hundert Jahren deshalb immer wieder neue und zum Teil stark vonein­ander abwei­chende histo­ri­sche Erzäh­lungen hervor.

 

Auch die derzei­tige Regie­rung unter Präsi­dent Recep Tayyip Erdoğan betei­ligt sich an diesem Konflikt und ist bemüht, ihre konservativ-islamische Version der Geschichte als die einzig gültige im (offi­zi­ellen) Selbst­bild der heutigen Türkei durch­zu­setzen. Dazu bedient sie sich diverser Mittel und Stra­te­gien – wie etwa der finan­zi­ellen Förde­rung von Film- und Fern­seh­pro­duk­tionen –, die darauf abzielen, alter­na­tive Deutungen nicht nur nach­haltig aus der öffent­li­chen Wahr­neh­mung zu verdrängen, sondern sie auch als wahr­heits­widrig oder gar feind­selig zu diskre­di­tieren.

 

Beispiel­haft für eine solche Darbie­tung des eigenen Geschichts­bildes ist der alljähr­lich am 29. Mai began­gene Jahrestag der Erobe­rung Konstan­ti­no­pels. Auch in diesem Jahr – dem 567. Jubi­läum – standen zahl­reiche klei­nere und größere Feier­lich­keiten an, deren Höhe­punkt die abends in nahezu allen Fern­seh­sen­dern ausge­strahlte Live-Übertragung aus der Hagia Sophia bildete. Das Emblem des Präsi­denten am rechten oberen Bild­rand sowie die Anwe­sen­heit des Minis­ters für Kultur und Tourismus, der durch das einstün­dige Programm führte, lassen darauf schließen, dass es sich hier um eine von der Regie­rung initi­ierte Veran­stal­tung handelte.

Der Triumph des Islams

Das Haupt­motiv der gesamten Sendung bildet der Islam. Das aller­erste Bild, das die Zuschauer*innen zu sehen bekommen, ist ein abend­li­ches Panorama der Istan­buler Altstadt mit einer deut­lich hervor­ge­ho­benen Moschee im Vorder­grund. Aus dem Off spricht eine Stimme den Satz: „Gibt es jemanden, der sich nicht in diese Stadt verliebt hat, sobald er auch nur ein einziges Mal den Gebets­rufen gelauscht hat, die hier den Himmel erfüllen?“Bild und Wort markieren Istanbul eindeutig als eine isla­mi­sche oder genauer: eine türkisch-islamische Stadt. Denn gegen Ende der Sendung wird Istanbul einige Male auch „die Heimat des türki­schen Volkes“ genannt. Diese zwei­fache Bezeich­nung rührt von der alther­ge­brachten Vermen­gung konservativ-islamischer Diskurse mit türkisch-nationalistischen Elementen, wobei – ähnlich wie in anderen Formen des konser­va­tiven Popu­lismus auch – je nach poli­ti­scher Konjunktur mal das eine, mal das andere mehr in Erschei­nung tritt. Hier ist sie das Ergebnis der zuneh­mend nationalistisch-identitären Ausrich­tung der Regie­rung unter Erdoğan.

 

Ganz in der Tradi­tion des türki­schen Konser­va­tismus wird türkisch daher als Synonym für isla­misch verwendet. Entspre­chend werden die Bela­ge­rung und Erobe­rung Konstan­ti­no­pels im Jahre 1453 in der Sendung durchweg als Sieg des Islams stili­siert. Die filmi­sche Rekon­struk­tion der Kano­nen­an­griffe auf die Stadt­mauern etwa wird unter­malt mit reli­giöser Musik, und es wird für die Märtyrer gebetet, die ihr Leben für die „heiligen Werte“ des Islams geop­fert hätten. Sultan Mehmed II., der Eroberer (Fatih), wird als ein ganz und gar frommer Muslim darge­stellt, dem es keines­wegs um die terri­to­riale Auswei­tung seines Reiches gegangen sei. Sein eigent­li­ches Ziel sei viel­mehr gewesen, „die Herzen der Menschen zu erobern“.

Ihren beson­deren Ausdruck findet die reli­giöse Über­hö­hung der Geschichte jedoch in der Rezi­ta­tion der Koran­sure al-Fatḥ (der Sieg), deren Inhalt ausdrück­lich auf die Ereig­nisse von 1453 bezogen wird. Es sei unter anderem diese Sure gewesen, so Präsi­dent Erdoğan in seiner Ansprache, die das Feuer in Sultan Mehmed II. entfacht habe. Nichts habe sich Fatih (Sultan Mehmed II.) mehr gewünscht, als dass ihm die Verhei­ßung dieser Sure zuteil­werde.

Dass diese Koran­pas­sage an jenem Abend ausge­rechnet in der Hagia Sophia erklingt und dass die Hagia Sophia über­haupt als Kulisse herhalten muss, ist kein Zufall. Ursprüng­lich die größte Kirche der Welt und Wahr­zei­chen des Byzan­ti­ni­schen Reiches, machten die Osmanen sie unmit­telbar nach der Erobe­rung der Stadt zu einer Moschee. Auf Veran­las­sung Atatürks, des Grün­ders der Türki­schen Repu­blik, wurde sie jedoch 1935 in ein Museum umge­wan­delt, und sie wird bis heute als solches genutzt. Ihre Wieder­eröff­nung als Moschee ist eines der größten Anliegen einiger konservativ-islamischer Gruppen in der Türkei, und wird gerade auch von Erdoğan selbst bisweilen in Aussicht gestellt – vor allem in Zeiten seiner schwin­denden Popu­la­rität. Erst kürz­lich machte einer seiner Berater in einem Tweet erneut Andeu­tungen in diese Rich­tung.

 

Die Bilder der Live-Übertragung vom 29. Mai spre­chen eine ähnliche Sprache und setzen die Hagia Sophia dezi­diert als Moschee in Szene. Stets werden die isla­mi­schen Bauele­mente in den Fokus gerückt. Die byzantinisch-christlichen Mosaiken im Innen­raum des Gebäudes werden bis auf ein einziges Mal im weit entfernten Hinter­grund nicht gezeigt. Vor der Hagia Sophia ist eine den byzan­ti­ni­schen Stadt­mauern nach­emp­fun­dene Lein­wand aufge­baut, auf der per Video­pro­jek­tion deren Einstürzen simu­liert wird. Nach einem gigan­ti­schen Feuer­werk ertönt schließ­lich der isla­mi­sche Gebetsruf. Das bis dahin nur Ange­deu­tete wird somit offen­kundig: Es steht noch eine zweite Erobe­rung Istan­buls an. Diese ist erst voll­bracht, wenn auch das letzte Hindernis über­wunden ist und die Hagia Sophia ihr Dasein als Moschee zurü­ck­erlangt hat. Und so dankt Präsi­dent Erdoğan zum Abschluss seiner Rede all denje­nigen, die „die Hagia Sophia, das Sinn­bild der Erobe­rung, an diesem denk­wür­digen Tag nicht mit ihrem Kummer allein­ge­lassen haben“.

Geschichte als Instru­ment für Ausgren­zung

Die spezi­fi­sche Rekon­struk­tion und aufwän­dige mediale Insze­nie­rung des eigenen epochalen Siegs kommen auch im Fall der Erobe­rung Konstan­ti­no­pels nicht ohne Feind­bilder aus. Hier wird das Othe­ring vorwie­gend mithilfe einer auf die Lein­wand proji­zierten 18-minütigen Video-Show betrieben, in der christ­liche oder byzan­ti­ni­sche Motive nur im Zusam­men­hang mit Nega­tiv­zu­schrei­bungen durch die Off-Stimme auftau­chen. „Der Westen“ wird explizit und mehr­fach mit Eigen­schaften wie Prunk, Deka­denz, Neid, Macht­sucht, Gier und Zwie­tracht charak­te­ri­siert. Es seien die Intrigen der Byzan­tiner unter­ein­ander gewesen, die die Risse in den Mauern Konstan­ti­no­pels verur­sacht hätten. Längst sei die Stadt von „Dunkel­heit“ über­kommen gewesen, heißt es. Die poli­ti­schen Ränke­spiele am Hofe des Sultans oder etwa die gängige und auch von Mehmed II. umge­setzte Praxis des Bruder­mords hingegen werden nicht erwähnt.

 

Ange­sichts der multi­eth­ni­schen und multi­re­li­giösen Beschaf­fen­heit der heutigen Türkei spie­geln unter­schied­liche Erzäh­lungen über Geschichte immer auch einen Wider­streit zwischen alter­na­tiven Identitäts- und Kollek­ti­vi­täts­ent­würfen wider. Die Fragen, wie die Gemein­schaft der Türkei sich zu defi­nieren hat, wer dazu­ge­hört und wer nicht, bestimmen dabei die Linien, entlang derer diese Konflikte ausge­tragen werden. Der in der Fern­seh­sen­dung bemühte Iden­ti­täts­dis­kurs deutet auf genau jenen Konflikt hin: Indem die Stadt Istanbul mehr­fach als türkisch-islamischer Ort bestimmt und als „ewige Heim­stätte“ der Türken bzw. des Islams bezeichnet wird, werden alle anderen Bevöl­ke­rungs­teile kate­go­risch als Fremde und Außen­ste­hende konsti­tu­iert. Kurden, Arme­nier, Aleviten und zahl­reiche andere Gruppen gehören der hier unauf­hör­lich beschwo­renen Volks­ge­mein­schaft demnach nicht an und werden allen­falls geduldet. Ein Recht auf Teil­habe besitzen sie nicht etwa aus Prinzip, sondern nur inso­fern der türkisch-muslimische Herr­scher ihnen dieses Recht – wie es in der Video-Show heißt: „gnädi­ger­weise“ – zubil­ligt. Von daher verwun­dert es auch nicht, dass selbst in den ausdrück­li­chen Bezug­nahmen auf die heutige Popu­la­tion der Türkei Begriffe wie Plura­lismus, Demo­kratie oder Menschen­rechte kein einziges Mal Erwäh­nung finden.

Jul 2020 | Allgemein, Essay, Feuilleton, In vino veritas, Kirche & Bodenpersonal, Politik, Sapere aude | Kommentieren