Angst und Hass, die heute die USA zerreißen, halten keinen Vergleich mit der Agonie jenes Bürgerkrieges aus, der die Sklaverei abschaffte und mehr Tote forderte als alle US-Kriege danach. Auch nicht mit dem jahrelangen Rassenkrieg der späten Sechziger, als Dutzende von Städten brannten und Elite-Divisionen Detroit besetzten. Auf die Sargnagel-Frage 2020 gibt es eine klare moralische Antwort: Polizeiwillkür und Rassismus sind eine Schande für die demokratische Weltmacht.
Die politische Frage lautet: Stützt oder stürzt der Aufstand Donald Trump am 3. November? Einen Präsidenten, der weder Empathie noch Anstand kennt, der hetzt, statt zu heilen, der Narzissmus zur Staatsräson erhebt und an einer 230 Jahre alten Verfassung rüttelt. Zuletzt war es die Drohung, eigenmächtig Bundestruppen einzusetzen. Eine Gestalt wie Trump – „der Staat bin ich“ – hat Amerika noch nie heimgesucht, und je rascher er wieder ins Immobiliengeschäft verschwindet, desto besser für das Land und die Welt.
Niemand aber möge ihn unterschätzen. Trump weiß, wie der Fast-Bürgerkrieg der Sechziger ausging. Die Schicksalswahl von 1968 gewann nicht der liberale Demokrat Hubert Humphrey, sondern der rechte Republikaner Richard Nixon. Vier Jahre später siegte Nixon noch einmal.
Wer so viel moralisches Kapital verspielt hat, bringt Amerikas Freunde nicht zurück.
Trumps zynisches Kalkül:
Aufruhr hilft nicht dem Versöhner, sondern dem Verfechter von Law and Order. Doch muss die Nixon-Strategie diesmal nicht aufgehen. Das suggerieren nicht Hoffnungen, sondern Fakten. Angefangen mit Joe Biden. „Sleepy Joe“, wie ihn Trump verhöhnt, ist aufgewacht und spricht für die gesamte Nation. Trump habe sie „in ein Schlachtfeld verwandelt“ und wolle spalten, um zu siegen. Anderseits versichert Biden der Trump-Wählerschaft: „Es gibt kein Recht auf Plünderung oder das Niederbrennen von Kirchen.“
Der Appell an links wie rechts zahlt sich aus. Monatelang dümpelte Biden mit drei, vier Punkten Vorsprung vor Trump – im statistischen Irrtumsbereich. Nun sind es national bis zu elf Punkte. Im amerikanischen System garantieren solche Mehrheiten keinen Wahlsieg. Bedeutsamer sind jene Swing-States, welche die Wahl 2016 für Trump entschieden. Allein in Michigan ist Biden mit zwölf Punkten im Plus. Und auch Florida, Wisconsin, Ohio sind in sein Lager gerutscht.
Hinter alledem steht ein Stimmungswandel
Im Verhältnis zwei zu eins nämlich glaubt das Wahlvolk, Biden könne das Land „besser einen“. Kurzum: Die Gegenreaktion, die Nixon zur Macht verhalf, bleibt aus. Die Nation sucht einen Heiler, keinen, der den Rechts- durch den Knüppelstaat ersetzt.
Momentaufnahmen, gewiss, doch spiegeln sie seit Minneapolis einen Trendumschwung. Trump ist das politische Coronavirus im Weißen Haus, und sogar die Granden der Republikaner fallen öffentlich von ihm ab: George W. Bush, Ex-Außenminister Colin Powell, Senatoren und hohe Militärs wie Jim Mattis, Trumps früherer Pentagon-Chef.
Der beste Einwand ist die Wirtschaft, wo plötzlich die Arbeitslosigkeit von 15 auf 13,5 Prozent gesunken ist. Die Geschichte lehrt freilich: Noch nie seit 1940 ist ein Präsident wiedergewählt worden, wenn die Rate zweistellig war. Auch nicht, wenn sie nur zwei Punkte höher lag als bei Amtsantritt. Als Trump kam, lag sie bei fünf. Von 13 auf sieben in fünf Monaten schafft Trump nicht. Demagogie bringt die Bänder nicht zum Laufen, zumal wenn eine zweite Corona-Welle kommen sollte.
Wer so viel moralisches Kapital verspielt hat, bringt auch Amerikas Freunde nicht zurück, allen voran die Kanzlerin. Wie kann führen, wer niederreißt, was die Welt zusammenhält: Verträge, Verlässlichkeit, Verpflichtung? „Make America great again!“ ist zu „America alone“ verkommen. Das moralische Minus wächst mit dem Handelsdefizit.
Nur Amerikas Gegner können sich wünschen, dass Trump im Weißen Haus bleibt. Ob liberal oder konservativ, kann es auch das amerikanische Wahlvolk nicht in der Dreifachkrise Corona-Aufstand-Verarmung. Das bitterböse Rumpelstilzchen Trump ist eine historische Fehlbesetzung im Oval Office. Sie wird am 3. November revidiert; das flüstern jedenfalls die neuen Fakten und Daten. Leider ist diese Voraussage wie alle Wahl-Orakel ohne Gewähr.
„Wenn sich die Dinge in Richtung eines Einsatzes von Gewalt bewegen, so spielen Sie nach den Regeln des Systems. Das Establishment wird Sie verwirren und in die Irre führen, Sie an Ihrem Bart ziehen, Ihnen eine Ohrfeige verpassen, um Sie zum Kämpfen zu bewegen. Wenn man Sie erst einmal dazu gebracht hat, sich der Gewalt zu bedienen, wissen sie genau, wie mit Ihnen umzuspringen ist.“ John Lennon