Und von jetzt auf nachher ist –  soll – alles anders sein? Alles ist anders – dazu gehört auch, dass das Große und Spektakuläre auf einen Schlag als „verzichtbar“ gilt, während die kleine Geste, das Alltägliche, die Arbeit der Supermarktverkäuferin oder des Altenpflegers wertgeschätzt wird wie nie. Auch in der Kultur findet eine solche Umwertung statt. Dass es in diesem Jahr eigentlich ein Beethovenjubiläum, ein Montreux Jazz Festival, einen Eurovision Song Contest hätte geben sollen, ist mit einer kurzen Meldung abgehakt. Stattdessen erhalten private Kleinst-Initiativen – das Singen vom Balkon oder vor dem Altenheim, ein Essen – siehe Philipp Rothe-Bild – vor dem „Weißen Bock“ in der Heidelberger Altstadt), oder der Geigenunterricht per Livestream – plötzlich den Rang einer ARD-Brennpunkt-Nachricht. Seis drum:

Die epidemiologischen Gründe für die große Generalpause im Kultur- und Veranstaltungsbetrieb sind allseits bekannt. Aber auch für die Aufwertung des privaten dies oder jenes Tuns gibt es gute Gründe. Das flächendeckende Kontaktverbot und der abrupte Verlust von Tagesstrukturen, Routinen und beruflichen Sinngebungen erzeugen Krisen und Belastungen zuhauf. Während die einen am Limit ihrer Kräfte sind, sehen sich andere plötzlich mit quälender Einsamkeit konfrontiert. Covid-19 führt uns vor Augen und Ohren, in welchem Maße wir soziale Wesen sind und wie lebenswichtig eine ausgewogene Mischung aus Nähe und Distanz, Begegnung und Rückzug, Struktur und Perspektive ist. Wir alle hungern nach Resonanz:
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Warum wir gerade jetzt Philosophen brauchen

Das Coronavirus verbreitet sich nicht auf auditivem Weg. Essen und herumsitzen beinhalten für sich genommen genauso wenig Infektionsrisiko, wie ein verantwortungsbewusstes Einkaufen, Spazierengehen oder Joggen. Zu einem Gesundheitsrisiko wären (und sind) sie  geworden, da an den hergebrachten Veranstaltungs- und Rezeptionsformen festgehalten wurde und man sich so zu nahe gekommen ist.

Was aber das philosophieren von anderen, weiterhin erlaubten Einzelaktivitäten unterscheidet, sind drei besondere Wesenmerkmale, die gerade jetzt besonders wertvoll werden könnten.

Erstens: Philosphieren ermöglicht eine Form der zwischenmenschlichen Resonanz, die räumliche Distanz mühelos überbrückt, ohne an Intensität zu verlieren. Während andere Formen der direkten Interaktion und Resonanz von Mensch zu Mensch zwingend der körperlichen Nähe bedürfen – Berührung, Tanz, Sex, das persönliche Gespräch – benötigt das Philosophieren, um sich entfalten zu können, keinen Mindestabstand. Räumliche Distanz wird insofern nicht als einschränkend und defizitär wahrgenommen.

Zweitens sind dabei emotionale und physische Erinnerungen gespeichert. Dazu zählen insbesondere auch die Erinnerungen an „bessere Zeiten“, die auf eine immaterielle, aber zugleich sehr unmittelbare Weise heraufbeschworen und vergegenwärtigt werden. Philosophieren vermag zumal bei gleichzeitigem essen – das „Gastmahl“ mag dafür stehen – auf diese Weise Menschen zu bewegen, ohne dass diese sich zwingend bewegen müssen. Demenzkranke blühen auf und tun mit; auf kognitiver Ebene wissen wir alle, dass die Krise irgendwann vorbei sein wird. Zu philosophieren lässt es uns unmittelbar spüren und erinnert uns daran, wie diese bessere Zukunft sich anfühlen wird. Das macht sie zu einem potentiellen Hoffnungsmedium.

Drittens: Zu philosophieren generiert Aufmerksamkeit, inspiriert zur Nachahmung, lädt zum Mitmachen ein. Dieser einladende Effekt bezieht sich nicht nur auf den Akt des miteinander Sprechens, sondern auch auf die zugrundeliegende Haltung, die sich auf affektive Weise zusammen mit Argumenten vermittelt. Als die ersten Bilder vom Balkonsingen in Italien um die Welt gingen, haben sie nicht nur diese konkrete Form des Musizierens bekannt gemacht – sie haben auch auf prägnante Weise gezeigt, dass es möglich ist, der Hilflosigkeit und Isolation eine neue Form des Miteinanders, der „Mündigkeit“ und Selbstwirksamkeit entgegenzusetzen:

Da ist zum einen das Bangen ums wirtschaftliche Überleben, zum anderen aber auch das jähe Ausbremsen von fast allem, was das Selbstverständnis und den Lebensalltag eines Philosophen ausmacht – einschließlich der unterschwelligen Kränkung, plötzlich scheinbar nicht mehr „gebraucht zu werden“. Doch wenn man den kulturellen Shutdown und die hohe mediale Wertschätzung der genannten Privatinitiativen als zwei Seiten der gleichen Medaille betrachtet, kann man auch zu einem ganz anderen Schluss kommen: Wir werden derzeit viel mehr gebraucht als sonst – aber eben auf eine gänzlich andere Weise. Ja, unser gmeinsames Essen auf einem Platz in der Heidelberger Altstadt ist – in der Tat – nicht „systemrelevant“ und würde ein unverantwortbares Infektionsrisiko bedeutet haben. Aber zugleich sind wir als Philosophen mit einigen der wichtigsten, herausforderndsten und faszinierendsten Aufgaben konfrontiert, die unsere Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten für uns bereitgehalten hat.

Die Unverzichtbarkeit des Digitalen wird dabei genauso deutlich spürbar wie die Unverzichtbarkeit der direkten Begegnung von Mensch zu Mensch: Unfreiwillig zum kollektiven „Analog-Fasten“ gezwungen, spüren viele von uns, wie wenig Videokonferenzen und Netflix auf Dauer sozial und zwischenmenschlich satt machen. Dies wirft die Frage auf, ob und wie das überbrückende Potential der Philosophie – auch – im Hier und Jetzt genutzt werden kann.

Entscheidend wird in den nächsten Wochen sein, dass sich das formal und dramaturgisch dem jeweiligen Stand der gesundheitlich gebotenen und politisch vorgegebenen Kontaktregeln anpasst. Es darf also nicht darum gehen, den gesundheitlich gebotenen Abstand und die vorgeschriebenen Regeln zu unterlaufen, wohl aber darum – in aller Behutsamkeit – ihre Spielräume auszuloten.

Immer wieder hört und liest man dieser Tage von einzelnen Privatinitiativen, die genau dies versuchen. Ein Pianist, der mit einem Rollklavier durch die Straßen zieht. Schausteller, die ihre Jahrmarktsorgel vor einem Altenheim aufbauen. DJs, die ihr Pult auf das Dach ihres Wohnhauses verlegen. Nimmt man zusätzlich noch die vielfältigen Formen des Balkonsingens und -klatschens samt ihrer virtuellen Verbreitung hinzu, dann dürfte die Einschätzung nicht übertrieben sein, dass wir gegenwärtig in Echtzeit das Entstehen einer neuen Volksmusikkultur erleben, in der sich verhinderte physische Begegnung, Lebenshunger und die digitale Verbreitung von kleinen, Nähe stiftenden Aktionen zu etwas aufregend Neuem verbinden.

Den Übergang in den Stillstand zu gestalten, war eine politische, logistische, mediale und polizeiliche Aufgabe. Den Stillstand selbst zu gestalten und erträglich zu machen ist zu großen Teilen auch eine kulturelle Aufgabe.

Was es derzeit bedeuten kann, Zeit zu gestalten, kann man von der Virologie lernen: Es geht darum, Prozesse zu verlangsamen.

Dem Gedanken hingegen, dass von dem, was wir gegenwärtig erleben und erdulden müssen, auch in der Philosophie eine Wiederentdeckung und gesteigerte Wertschätzung des Nahen, Unspektakulären und Nachbarschaftlichen bleibt, können wir durchaus etwas Positives abgewinnen. Als Philosophen den eigenen Wirkungsradius, Umweltverbrauch und CO2-Ausstoß zu verkleinern; die kulturelle Vielfalt unserer Nahbereiche zum Leuchten zu bringen anstatt auf maximale Reichweite zu setzen und rastlos durch die Welt zu düsen – dies alles geht auch, ohne dass ein Virus den Ton angibt.

Fazit: Wir sollten häufiger zusammen essen gehen. Oder?

Mai 2020 | Heidelberg, Allgemein, Essay, In vino veritas, Junge Rundschau, Politik, Sapere aude, Senioren, Zeitgeschehen, Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch | Kommentieren