Der Surrealismus begann als gemeinsame Rebellion gegen all jene Mächte, die die Welt in den Krieg geführt hatten. Ein Aufstand auch gegen verlogene Religion, Demagogie, Prüderie und usurpierte Autoritäten. Wie lebten sie wirklich, diese inzwischen so berühmten Künstler? Desmond Morris, selbst surrealistischer Künstler, kann davon berichten wie kein Zweiter. Er gehörte zu ihrem Kreis und kannte sie alle. Ihre Vorlieben und Macken. Ihre Arbeitsweisen und ihre Geheimnisse. Ihre Freundschaften, Feindschaften, Liebschaften, Frivolitäten und dramatischen Zerwürfnisse.
Er porträtiert einsame Wölfe, rebellische Vorkämpfer, brillante Exzentriker. Anfang der 1920er Jahre formte der Schriftsteller André Breton aus einer diffusen Stimmungslage, die mit avantgardistischem Konventionsbruch und Psychoanalyse zu tun hatte, eine Bewegung, als deren Anführer er sich verstand: den Surrealismus. Es ging ihm um die eigene Wirklichkeit des Menschen im Unbewussten, um Rausch- und Traumerlebnisse als Quelle der künstlerischen Eingebung. Das Bewusstsein und die Wirklichkeit sollten global erweitert und alle geltenden Werte umgestürzt werden. Logisch-rationale, als bürgerlich abgewertete Kunstauffassungen wurden radikal und provokativ abgelehnt. Große Worte, dafür war Breton bekannt, aber was sollte das in der Praxis bedeuten?
Maler, Verhaltensforscher und Autor
Richtig zur Geltung kam der Surrealismus in der bildenden Kunst, und einer, der sich damit seit den 1940er Jahren beschäftigt, ist der englische Verhaltensforscher Desmond Morris. Der ist eigentlich bekannt für seine populärwissenschaftlichen, in Millionenauflagen erschienenen Bücher und für Fernsehsendungen im Stil eines David Attenborough. Was wenige wissen ist, dass er nach 1945, ehe er Biologe wurde, als Maler reüssierte, gemeinsam mit Joan Miro ausstellte und den für einen späteren Verhaltensforscher hochinteressanten Francis Bacon zu seinen Freunden zählte.
Ein surrealistisches Kunstwerk müsse geheimnisvoll sein, der Betrachter und idealerweise auch der Künstler müsse irritiert sein, dürfe es nicht verstehen, sagt Desmond Morris. Der Maler müsse den Verstand ausschalten und dürfe sich selbst keiner Analyse unterziehen.
Wie finden Leben und Bild zusammen?
Dennoch besteht der Reiz beim Betrachten surrealistischer Kunstwerke im Versuch, die Ratlosigkeit aufzulösen und hinter das Geheimnis zu schauen – um am Ende doch zu kapitulieren. Es ist, was es ist, ein bildgewordener Bewusstseinszustand. In seinem Buch „Das Leben Der Surrealisten“ wird Desmond Morris dem surrealistischen Prinzip hingegen untreu und er geht in 32 Lebensbildern der Frage nach, wie Leben und Werk zusammenfinden.
Dass dieses Buch nicht einfach eine von unzähligen Monografien der Bewegung geworden ist, mit der wir heute eher den Kitsch des späten Salvador Dali oder die Massenproduktion eines Rene Magritte verbinden, hat mit Morris‘ Art, Dinge zu erklären, zu tun. Eigentlich erklärt er gar nichts, sondern erzählt unakademisch von künstlerischen Lebensläufen zwischen materieller Not, Visionen, Exzentrik, Freund- und Feindschaften, stilistischen Eigenheiten und Marktkonformität.
Heiter, frech und informativ
Das Schöne an Desmond Morris‘ Erzählkunst ist, dass er keine Heldengeschichten erzählt und solche, die es zu Weltruhm und Reichtum gebracht haben wie Salvador Dali, Joan Miro, Francis Bacon oder Rene Magritte, nicht über jene stellt, die vergleichsweise unbekannt geblieben sind Wilhelm Freddie, Conroy Maddox oder E.L.T. Mesens. Oder auch jene, die ihren Platz in der Kunstgeschichte haben, ohne heute auf Kalendern und Wohnzimmerposter allgegenwärtig zu sein, Man Ray etwa, Max Ernst oder Hans Bellmer.
Desmond Morris hat ein sehr heiteres, mitunter freches, nie langweiliges und dennoch äußerst informatives Buch über eine Kunstrichtung und ihre Protagonisten geschrieben, die wir für abgenagt und ausgelutsch gehalten haben. Das ist große Kunst – Geistreich und unterhaltsam erzählt Desmond Morris von den wirklichen Menschen, die Kunstgeschichte schrieben. Seine zweiunddreißig Lebensbilder der Surrealisten sind längst selbst Geschichte.
Desmond Morris kannte viele der Surrealisten persönlich und enthüllt mit entwaffnender Kenntnis ihre Arbeitsweisen (Alberto Giacometti arbeitete immer nachts und ging erst um sieben Uhr morgens ins Bett), ihre Eigenarten (Leonor Fini studierte stundenlang Leichen) und ihre sexuellen Eroberungen (jeder Eintrag beginnt mit einer Liste der Liebhaber). Ein unkonventioneller Tribut an den Surrealismus und sein schillerndes Personal, witzig, frech und ergreifend, eine wahre Freude.
Desmond Morris hat ein sehr heiteres, mitunter freches, nie langweiliges und dennoch äußerst informatives Buch über eine Kunstrichtung und ihre Protagonisten geschrieben, die wir für abgenagt und ausgelutscht gehalten haben. Das ist große Kunst!«
Dies Leben der Surrealisten ist, in bester Vasarischer Manier, scharfzüngig, pikant und höchst unterhaltsam. Was waren sie doch ein launischer, anstrengender Haufen, diese Surrealisten. Und Desmond Morris tischt ordentlich auf: witzig, geistreich und mit surrealistischem Schwung. Wie ein Giorgio Vasari unserer Tage ermöglicht er dem Leser einen intimen und einzigartigen Einblick in all das, was die Surrealisten an- und umtrieb. Eine sehr persönliche Sicht auf Morris’ Zeitgenossen und ein perfekter Einstieg in diese rebellische Kunstbewegung. Morris konzentriert sich auf die mannigfaltigen Eigenarten seiner Protagonisten, ihr überbordendes Privatleben, ihre zahllosen Verstrickungen und Techtelmechtel, ohne sie dabei je zu verurteilen. Er erzählt von alles verschlingender Kreativität und Dummheiten monumentalen Ausmaßes in provokant-biografischen Essays, die dem täglichen Leben der Surrealisten nachspüren, ihren Verschrobenheiten, ihren sexuellen Vorlieben. Als Verhaltensforscher (der er ist), studiert Morris seine Objekte wie eine exotische Spezies, die sie (in der Tat) auch waren. Nach der Lektüre darf man erschöpft, außer sich und bezaubert zurückbleiben – zusammen mit Morris schrulligen und faszinierenden Details aus dem Leben der Künstler. Ein reichhaltiges Werk, das einlädt zum Entdecken und Weiterlesen. Surrealismus lebt!
Desmond Morris
„Das Leben der Surrealisten“
Aus dem Englischen von Willi Wimkler
Unionsverlag, 349 Seiten