„Etwas ist faul im Staate D-Mark“ – Nachdem die Leiche Paul Celans am 1. Mai 1970 zehn Kilometer westlich von Paris aus der Seine geborgen wurde, fand man in seiner Wohnung in der Avenue Émile Zola seine Hinterlassenschaft auf dem Tisch ordentlich aufgereiht, Armbanduhr, Brieftasche, Ausweise und die aufgeschlagene Hölderlin-Biografie von Wilhelm Michels mit einem wie zur Erklärung unterstrichenen Satz von Clemens Brentano: „Manchmal wird dieser Genius dunkel und versinkt in den bitteren Brunnen seines Herzens.“
Im Taschenkalender stand am 19. April 1970 die Eintragung „départ Paul“, Abfahrt Paul. Vermutlich ist Celan in der Nacht vom 19. auf den 20. April vom Pont Mirabeau aus in die Seine gegangen. „Er hat sich“, schreibt seine getrennt von ihm lebende Ehefrau Gisèle de Lestrange am 10. Mai an Celans ehemalige Geliebte Ingeborg Bachmann, „den einsamsten und anonymsten Tod ausgesucht.“
Der einsame und anonyme Tod des am 23. November 1920 geborenen Dichters aus der Bukowina wird in der Literaturgeschichte als eine Spätfolge der Shoah verbucht. Paul Antschel, wie er damals noch hieß, überlebte die Judenverfolgung in seiner Heimatstadt Czernowitz (bis 1918 habsburgisch, dann rumänisch, später sowjetisch, heute ukrainisch). Doch seine Eltern wurden in den Vernichtungslagern ermordet. Über Bukarest und Wien, wo er Ingeborg Bachmann kennenlernte, kam er 1948 völlig unbekannt und mittellos nach Paris. Vier Jahre später las er zum ersten Mal vor der Gruppe 47, veröffentlichte seinen Gedichtband Mohn und Gedächtnis und heiratete die 25-jährige Tochter des Marquis und der Marquise de Lestrange. Die Familie logiert im großbürgerlichen 16. Pariser Arrondissement in der Rue de Longchamps. Der Überlebende aus der für immer verlorenen Welt des vielsprachigen osteuropäischen Kulturjudentums hat einen rasanten Aufstieg bewältigt und gilt sehr schnell als der bedeutendste Dichter der deutschen Nachkriegsliteratur – als der bis heute einzige, dessen Gedichte dem Unaussprechlichen der Shoah angemessen sind. Er ist im engen freundschaftlichen Austausch mit den namhaftesten deutschsprachigen Kolleginnen und Kollegen seiner Generation, mit Heinrich Böll, Günter Grass, Hermann Lenz, Hans Magnus Enzensberger, Max Frisch, Ingeborg Bachmann, Marie Luise Kaschnitz, Nelly Sachs, Walter Jens und Peter Szondi. Und doch konnte eine vergleichsweise banale Literaturintrige sein Leben zerstören: eine Plagiatsanschuldigung durch die Witwe des deutsch-französischen Lyrikers Ivan Goll, mit dem Celan sich kurz nach seiner Ankunft in Paris angefreundet hatte.
Von der im deutschen Feuilleton der 1960er-Jahre hingebungsvoll debattierten Plagiatsaffäre zwischen zwei bedeutenden deutschsprachigen jüdischen Dichtern aus Paris blieben am Ende nicht mehr als zwei seltsam verwandte Verszeilen übrig (Goll 1953: „Die Eber mit dem magischen Dreieckskopf / Sie stampfen durch meine faulenden Träume“; Celan 1954: „In Gestalt eines Ebers / stampft dein Traum durch die Wälder am Rande des Abends“). Alle darüber hinausgehenden Plagiatsvorwürfe ließen sich durch einen simplen Blick auf die Publikationsdaten vom Tisch wischen. Die Redakteure und deren Mitarbeiter, die die Affäre befeuert hatten, entschuldigten sich für ihre ungeprüften Behauptungen.
Doch Celan war unheilbar verletzt. Die in deutschen Blättern ausgebreiteten Zweifel an seiner künstlerischen Integrität erlebte er wie neuerliche „Hitlerei“. Er war auch tief gekränkt vom salbadernden Ton der alten Kritikergeneration der Günter Blöcker und Hans Egon Holthusen, die seine Gedichte wegen ihrer magischen Dunkelheit in den Herrgottswinkel reiner, also auch wirklichkeitsbereinigter Poesie im Stil der Surrealisten oder der hermetischen Dichter Stéphane Mallarmé und Stefan George abschoben – und damit ihren Bezug zur Shoah leugneten. Solche Deutungen hielt er für bequeme Schöngeisterei und im Fall seiner Todesfuge – seiner grausam schönen Totenklage um die Opfer des Holocausts – für eine Schändung des Grabes seiner Mutter. An Walter Jens, der ihn in der ZEIT gegen die Plagiatsbeschuldigungen der Witwe Goll enthusiastisch verteidigte, schrieb er: „Das ‚Grab in der Luft‘ – lieber Walter Jens, das ist, in diesem Gedicht, weiß Gott weder Entlehnung noch Metapher.“ Wer an der Zeugenschaft und am unmittelbaren Wahrheitsethos eines solchen Gedichtes zweifelte, rückte für ihn in die Nähe eines literarischen Holocaust-Leugners.
Im Februar 1970, zwei Monate vor seinem Tod in der Seine, tauchte jedoch plötzlich ein angeblich aus dem Jahr 1944 stammendes Gedicht seines Czernowitzer Schulfreundes Immanuel Weißglas auf, das ausgerechnet die eindringlichen Sprachbilder der 1945 entstandenen Todesfuge noch ganz ungelenk und wie im Rohentwurf vorwegzunehmen schien (das Grab in der Luft, der Gräber schaufelnde, tanzende und fiedelnde Chor der jüdischen Opfer, der Tod als deutscher Meister, der im Haus mit den Schlangen spielt, das Haar von Gretchen, das Grab in den Wolken, das nicht eng ist). Eine Neuauflage der Diskussion um Entstehungsdaten, Entlehnungen und Zeugenschaft wollte Celan womöglich nicht mehr erleben. Sie hat auch nicht mehr stattgefunden.
Grass lästerte noch in den Neunzigern
Celans deutsche und österreichische Schriftstellerfreunde haben die traumatisierende Dimension der Plagiatsaffäre nicht nachempfinden können. Ich erinnere mich daran, wie Günter Grass noch in den Neunzigerjahren über die Überempfindlichkeit seines Pariser Freundes scherzte, der ganze Nachmittage niedergestreckt und unfähig zu sprechen auf dem Sofa vegetiert haben soll, in der ausgestreckten Hand die Zeitungsseiten, die von der Goll-Affäre handelten.
In dem Band mit annähernd 700 Briefen aus den Jahren 1934 bis 1970 (davon 330 bisher unpubliziert), der zum Celan-Jubiläum erschienen ist, lässt sich seine wachsende Vereinsamung verfolgen. In seinem letzten Lebensjahrzehnt bricht er mit sämtlichen nicht-jüdischen deutschen und österreichischen Freunden, nachdem sie für ihn in die Liga des „Hitler-Nachwuchses“ wechselten – auch Günter Grass setzt er wegen dessen „kleinen und großen Verlogenheiten, vermehrt um die mittlerweile noch höher ins Kraut geschossene Selbstgefälligkeit“ schon Anfang der 1960er-Jahre vor die Tür. „Ich werde, wenn’s drauf ankommt, an allen Fronten Krieg führen, und wenn auch nur eine Handvoll Menschen dabei zu mir stehen“, schreibt er an den Wiener Freund Klaus Demus, bevor auch dieser in Ungnade fällt. In seiner Not wendet er sich an die Weltstars der Literatur: Jean-Paul Sartre möge den jüdischen Dichter vor dem deutschen „Nazismus“ retten; Jean Starobinski möge ihm einen jüdischen Arzt schicken; an Adorno ergeht der Hilferuf: „Etwas ist faul im Staate D-Mark.“ Doch schickt er die Briefe nicht mehr ab. Nach einem Mordversuch an seiner Frau und einem Suizidversuch verbringt Celan in den 1960er-Jahren viele Wochen und Monate in psychiatrischen Anstalten.
Es ist wenig verwunderlich, dass die Bücher über Celan, die im Jubiläumsjahr in großer Zahl erscheinen, sich ausnahmslos mit der tragischen Hassliebe des Dichters zu Deutschland beschäftigen. Der Literaturwissenschaftler Wolfgang Emmerich untersucht die Zerrissenheit eines Dichters, dessen Muttersprache zur Mördersprache wurde. Sein Buch ist vorläufig der beste Ersatz für die noch immer ausstehende maßgebliche Celan-Biografie, auf die man im Jubiläumsjahr vergeblich gewartet hat. Der Autor und Literaturkritiker Hans-Peter Kunisch stürzt sich in das halsbrecherische Unternehmen, Celans insgesamt drei Treffen mit Martin Heidegger in Freiburg und auf der Philosophenhütte in Todtnauberg semiliterarisch nachzuerzählen, weshalb man in seinem Buch allerhand Spekulationen über Ereignisse aufgetischt bekommt, die sich möglicherweise ganz anders zugetragen haben. Es kann ja schließlich niemand wissen, ob Heidegger wirklich auf „eine vertrackte Weise gerührt war über sich und diesen jüdischen Dichter“, der von ihm ein klärendes Wort verlangte über sein philosophisches Edel-Nazitum. Angeblich, schreibt Kunisch, habe Celan, nachdem der deutsche Philosoph auf die Zusendung seines Gedichts Todtnauberg phrasenhaft reagiert habe, von diesem „gar nichts mehr erwartet“. Das ist aber nur unbeweisbares Literaturgeschichtskino.
Auch passt es nicht zu den verbürgten Erlebnissen, von denen der ehemalige Suhrkamp-Lektor Klaus Reichert als letzter lebender Zeitzeuge in seinem Erinnerungsbuch über den Dichter erzählt. Der habe ihn unmittelbar nach dem zweiten Treffen mit Heidegger in Frankfurt besucht und einen Abend lang über das Amt des Dichters monologisiert, „schwärmerisch getragen von den Sympathien, die er in Freiburg erfahren habe“.
Helmut Böttiger beschäftigt sich in seinem mittlerweile dritten Buch über Celan ebenfalls ausgiebig mit dessen Heidegger-Verehrung. Beide verbindet eine hohe, an Hölderlin maßnehmende Auffassung deutscher Dichtung, jenseits des nüchternen Tagesgeschäfts, mit dem sich Celans Auffassung nach die fortschrittlichen Kollegen von der Gruppe 47 abgaben. Aus dem Traum von einer gemeinsamen deutschen Überlieferung, das zeigt Böttiger sehr überzeugend, nährt sich Celans Missverständnis, im Kreis des über den Holocaust beharrlich schweigenden Schwarzwälder Kulturkonservatismus besser aufgehoben zu sein als an der Seite der kritischen deutschen Autoren, die der Dichter in völliger Verkehrung aller Proportionen für seine eigentlichen Feinde hält.
Es ist bewegend, zu sehen, wie Celan bis zuletzt um die deutsche Kultur und die Anerkennung durch die alte deutsche Kulturelite kämpft. Noch drei Wochen vor seinem Tod liest er Heidegger in Freiburg seine späten Gedichte vor. Aus diesen späten Gedichten ist die rauschhafte Musikalität seiner Anfänge verschwunden. Sie sind von grandioser Trostlosigkeit, Verse wie Karstlandschaften, wie Steinwüsten, nah am Verstummen und stolz in der Würde des Scheiterns. Man muss sie noch immer lesen. Besser noch auswendig lernen. Ob ihr unwiderstehlicher Zauber die deutschen Zuhörer erreicht hat? Heidegger soll aufmerksam zugehört haben.
https://www.youtube.com/watch?v=W8q0Xgv41K4
Wolfgang Emmerich: Nahe Fremde. Paul Celan und die Deutschen; Wallstein Verlag, Göttingen 2020; 400 S., 24,– €, als E-Book 18,99 €
Hans-Peter Kunisch: Todtnauberg. Die Geschichte von Paul Celan, Martin Heidegger und ihrer unmöglichen Begegnung; dtv, München 2020; 352 S., 24,– €, als E-Book 16,99 €
Helmut Böttiger: Celans Zerrissenheit. Ein jüdischer Dichter und der deutsche Geist; Galiani-Berlin, Köln 2020; 208 S., 20,– €, als E-Book 16,99 €
Klaus Reichert: Paul Celan – Erinnerungen und Briefe. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020; 297 S., 28,– € (erscheint erst im Juni)
Paul Celan: „etwas ganz und gar Persönliches“ Briefe 1934–1970; Suhrkamp Verlag, Berlin 2019; 1286 S., 78,– €