Wie viel Kritik hat Angela Merkel in der Vergangenheit für ihren Regierungsstil einstecken müssen! Politische Gegner rügten ihre Mutlosigkeit, Parteifreunde lästerten über ihre Detailversessenheit, Kommentatoren echauffierten sich über ihr ewiges Zaudern. Die Welt dreht sich schneller als je zuvor, aber die Kanzlerin tuckert im ersten Gang durch die Zeitläufte: So ging das Lamento, und, angesichts der vielen Herausforderungen, von der Migration übers Klima bis zur Demografie, war das auch oft nicht falsch.

 

Die Zeiten haben sich radikal geändert
Angela Merkel ist dieselbe geblieben
und ihr Regierungsstil auch
Und das ist gut so!

Vorbereitung, Ablauf und Verkündung der gestrigen Corona-Beschlüsse mit den Ministerpräsidenten illustrieren, warum die früher gerügte Arbeitsweise der Kanzlerin derzeit alles andere als falsch ist. Sie lässt sich vom allabendlichen Talkshow-Geschnatter ebenso wenig aus der Ruhe bringen wie von den 95 Konzeptpapieren allwissender Wissenschaftler, sie lässt den hibbeligen Armin Laschet und seine ins Zwielicht geratene Heinsberg-Studie abtropfen und hält sich stattdessen stur an die Fakten, die ihr Adlatus zusammenträgt. Deutschland habe erst einen „zerbrechlichen Zwischenerfolg“ im Kampf gegen das Virus errungen, warnt die Kanzlerin, nun dürfe es „kein falsches Vorpreschen“ geben. Merkel tastet sich in kleinen Schritten durch die Corona-Krise, und der mächtige CSU-Fürst Markus Söder reitet als ihre Schildwache voraus, da sein Bayernland besonders stark heimgesucht wird: „Wir setzen weiter auf Vorsicht“, ertönt sein Schlachtruf. Früher wurde Merkel für ihren visionslosen Pragmatismus gescholten, nun schützt sie das Land mit dieser Taktik: abwägen, abstimmen, abtasten und im Zweifel auf Nummer sicher gehen.

Und so, so sehen sichere Nummern aus:

Erstens: Gesundheit geht vor Wirtschaft. Deutschland wird sich deshalb noch monatelang im Ausnahmezustand befinden – so lange, bis ein Impfstoff entwickelt worden ist.

Zweitens: Eine Herdenimmunität anzustreben, bei der sich rund 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung infizieren (rund 73.000 Menschen täglich), würde zwangsläufig in ein Massensterben münden. In den Krankenhäusern können nur rund 32.000 schwere Fälle gleichzeitig behandelt werden, deshalb darf die Zahl der täglichen Neuinfektionen nicht über 5.000 steigen.

Drittens: Ein Infizierter steckt derzeit im Schnitt 1,2 weitere Personen an. Diese Reproduktionszahl ist das wichtigste Kriterium, sie muss schnellstens auf höchstens 1 gedrückt werden, sonst drohen auch hierzulande Zustände wie in Oberitalien, Spanien oder dem Elsass: Die Überlastung des deutschen Gesundheitssystems ist bei einem Reproduktionswert von 1,1 am 15. Oktober erreicht, bei einem Wert von 1,2 am 12. Juli und bei einem Wert von 1,3 schon am 11. Juni. Man mag es sich nicht ausmalen.

Viertens: Die wichtigsten Beschlüsse gingen in der gestrigen Pressekonferenz zwischen den vielen Worten zum Masken-Trage-Gebot, der langsamen Schulöffnung ab 4. Mai und dem dauerhaften Verbot von Großveranstaltungen fast unter: Der öffentliche Gesundheitsdienst wird massiv verstärkt, Tausende zusätzliche Mitarbeiter sollen die Infektionsketten in der Bevölkerung verfolgen. Denn das ist die schärfste Waffe im Kampf gegen das Virus: Jede Ansteckung muss schnellstens erkannt werden, um neue Krankheitsfälle zu verhindern. Dafür braucht es nicht mehr wahllose, sondern vor allem mehr gezielte Tests: Die richtigen Personen müssen zum richtigen Zeitpunkt getestet werden, um sie und ihre Kontaktpersonen in Behandlung oder Quarantäne zu schicken. Außerdem werden Senioren- und Pflegeheime zu scharfen Schutzmaßnahmen verpflichtet, denn Alte sind am stärksten gefährdet.

Das ist die Lage – und die ist tatsächlich gravierend:

Genau genommen ist sie sogar noch prekärer, da mag man noch so viel Zuversicht und Optimismus versprühen, und Sie wissen, dass ich das gern tue. Aber wir sollten nicht die Augen vor dem Sturm am Horizont verschließen. Denn „Gesundheit geht vor Wirtschaft“, das bedeutet eben auch: Selbst wenn wir irgendwann artig mit Gesichtsmaske wieder beim Friseur sitzen und das eine oder andere Kind für ein paar Stunden in die Schule schicken dürfen, stehen uns schwere Zeiten bevor. Der Internationale Währungsfonds (IWF) prognostiziert ein düsteres Szenario für die Weltwirtschaft: Demnach werden wir den schlimmsten wirtschaftlichen Niedergang seit 100 Jahren erleben. Besonders stark trifft er die westlichen Industrienationen, vor allem die großen Volkswirtschaften der Euro-Zone. Deutschlands und Frankreichs Wirtschaft könnten um sieben Prozent schrumpfen, in Spanien und Italien geht es noch steiler bergab. Jeder zehnte Arbeitnehmer in der Euro-Zone muss noch in diesem Jahr mit dem Jobverlust rechnen. Schwache Länder kann der Hammerschlag  verwüsten, aber auch unsere Exportrepublik wird er hart treffen – weil Produktion und Handel einbrechen und weil das Corona-Schlamassel weitere Krisen befeuert. Der IWF rechnet mit sozialen Unruhen und Massenprotesten, vor allem in korrupten Staaten. Wer sich erinnert, dass die Revolte des „Arabischen Frühlings“ im Jahr 2011 und die anschließenden Kriege in Syrien, Libyen und dem Jemen, der Terror und die Flüchtlingsströme auch in den Erschütterungen der Finanzkrise 2008 wurzelten, der ahnt, was auf uns zukommen kann.

In einem Land mit einer pragmatischen, besonnenen Regierung und überwiegend vernünftigen Mitbürgern zu leben, das – wahrlich – ist nicht das Schlechteste. Mitbürger, die sich an die Kontaktsperre-Regeln halten, selbst wenn die manchmal schmerzen – das kann schon nerven, den ganzen Tag zu Hause zu hocken, auf Freunde zu verzichten, sich durch den zähen Brei aus Heimarbeit, Haushalt, Hausaufgabenbetreuung und Krisenprogramm in der Flimmerkiste zu kämpfen. Aber Vorsicht ist nun mal die Mutter der… nein, nicht die von Ihnen möglicherweise jetzt angedachte Kiste –  ursprünglich nämlich lautete das Sprichwort anders. Statt ihrer stand dort vermutlich die Weisheit. Und das, finde ich, ist in diesen coronisierten Tagen doch ein ziemlich gutes Motto.
Oder etwa nicht?

 

Apr. 2020 | Allgemein, Gesundheit, In vino veritas, Junge Rundschau, Politik, Sapere aude, Senioren, Zeitgeschehen | Kommentieren