Eeinkaufsstrasse am Montag, 20. April 2020 in Köln

Wir neigen dazu, Gefahren erst dann ernst zu nehmen, wenn sie nicht mehr zu übersehen sind – dies und das zum Beispiel: In einer Seniorenwohnanlage in Nordrhein-Westfalen sterben 50 Bewohner, in einem Pflegeheim in Schleswig-Holstein sind es 65. Bundesweit fallen 800 Menschen dem Coronavirus zum Opfer – an einem einzigen Tag. Die Zahl der Infizierten schnellt in die Höhe: 200.000, 250.000, 300.000. Viele Krankenhäuser können keine Patienten mehr aufnehmen, auf den Intensivstationen ringen Hunderte mit dem Tod. Im Englischen Garten in München, im Hamburger Stadtpark, im Berliner Tiergarten und am Frankfurter Mainufer stehen Notlazarette, an den Eingängen wechseln sich Kranken- mit Leichenwagen ab.

Die Bundesregierung hat den unbefristeten Notstand ausgerufen. In ganz Deutschland gilt eine strikte Ausgangssperre, alle Bürger dürfen ihre Wohnungen nur noch mit Passierschein und maximal eine Stunde täglich verlassen. In den Straßen patrouillieren Bundeswehrsoldaten und Polizisten. Wer die Regeln missachtet, wird festgenommen. Die deutschen Wirtschaftszahlen fallen ins Bodenlose, die Insolvenzmeldungen überschlagen sich. Zigtausende Angestellte verlieren ihre Arbeit, binnen Wochen wird das Werk ganzer Generationen vernichtet.

Obige Szenarien gab es zwar – noch – nicht!

Aber: So schlimm kann (und wird) es kommen, wenn wir im Kampf gegen das Coronavirus Fehler machen. Und wir sind gerade drauf und dran, das zu tun. Weil wir in eine gefährliche Falle tappen: den Leichtsinn. Gerade haben sowohl die Bundesregierung als auch die Ministerpräsidenten Lockerungen der Kontaktsperre beschlossen, hat ein gefährlicher Wettlauf begonnen: Jeden Tag kommt nun irgendein Politiker oder Wirtschaftsvertreter daher und fordert eine weitere Ausnahme für sein Bundesland, seinen Wahlkreis oder seine Branche. Man kommt mit dem Protokollieren kaum noch nach: CDU-Kanzlerkandidatenkandidat Armin Laschet profiliert sich als Freiheitskämpfer und sperrt neben Geschäften und Safariparks auch Möbelhäuser und Babymärkte wieder auf. Bundesministerin Franziska Giffey sorgt sich um Familien und möchte Spielplätze freigeben. Die Landesregierung in Rheinland-Pfalz hält es für eine gute Idee, Parteiveranstaltungen abzuhalten und Einkaufszentren zu öffnen. Schleswig-Holsteins Landesfürst Daniel Günther läutet die Urlaubssaison ein und möchte „den Tourismus wieder hochfahren“. Und, was Wunder wittern und twittern Fluglinien ihre Chance und überlegen, wie sie Passagiere befördern können, notfalls halt mit Maske, aber bitte in vollbesetzten Maschinen. Und, da können sich natürlich auch die Bundesliga-Vereine sich nicht lumpen lassen und tüfteln an der Rückkehr in den Geisterspielbetrieb. FDP-Schlachtross Wolfgang Kubicki nutzt die Gunst der Stunde und bläst zum Halali auf die Kanzlerin: Die „maßt sich in der Corona-Krise Regelungskompetenzen an, die sie nicht hat“, wettert er gen Merkel:
Die Kanzlerin nämlich hat die Diskussionen über weitergehende Lockerungen der Beschränkungen im Kampf gegen das Coronavirus außergewöhnlich scharf kritisiert. Nach Informationen aus Teilnehmerkreisen machte sie am Montag in einer Schaltkonferenz des CDU-Präsidiums deutlich, wie unzufrieden sie sei, dass die Botschaft vorsichtiger Lockerungen in einigen Ländern zu „Öffnungsdiskussionsorgien“ geführt habe. Dies erhöhe das Risiko eines Rückfalls sehr stark.
Mit Verlaub: Recht – meinen wir – hat sie …

Folgen solcher Lockerungsübungen sind allerorten zu besichtigen

Man trifft sich wieder mit Freunden, hockt grüppchenweise im Park, feiert Corona-Partys, drängt sich durch die Einkaufsstraßen, plant Kurzreisen. Die Politik macht den Sound, die Leute machen was draus, und alle gemeinsam machen den Fehler.

Es geschieht, wovor Virologen seit Wochen warnen

Der Ausgangssperre überdrüssig, stürzen sich viele Bürger in die Sorglosigkeit, die geradewegs in die zweite Corona-Welle münden kann. Anders als zu Beginn der Pandemie wären diese Ausbrüche jedoch nicht auf einzelne Orte wie Heinsberg oder Tirschenreuth beschränkt. Inzwischen hat sich das Virus im ganzen Land verbreitet, die zweite Welle könnte daher binnen Tagen die gesamte Deutschlandkarte rot einfärben. Die Zahl der asymptomatischen Fälle liegt einer Studie aus England zufolge bei 42 Prozent. Viele Menschen tragen also das Virus in sich, ohne dass sie unter Husten, Fieber oder Lungenschmerzen leiden, sind aber dennoch ansteckend.
Und, aber: Alle anderen Infizierten sind an dem Tag, bevor die Symptome einsetzen, am stärksten ansteckend. Kerngesunde Infizierte bergen für ihre Mitmenschen also das größte Risiko.

Gefahr erkannt, Gefahr gebannt?

Kanzlerin Merkel hat die Gefahr all dieser Fakten erkannt und die Bevölkerung gestern in untypischer Deutlichkeit zur Vorsicht gemahnt: „Wir dürfen uns keine Sekunde in Sicherheit wiegen, sondern müssen wachsam und diszipliniert bleiben. Denn die Situation, die wir jetzt haben, ist trügerisch. Die Folgen der jetzigen Lockerungen werden wir erst in 14 Tagen sehen: Es wäre jammerschade, wenn wir sehenden Auges in einen Rückfall gehen.“
Und dann der Hieb gegen Laschet, Giffey, Günther und Co: „Es kann auch ein Fehler sein, dass man zu schnell voranschreitet.
Die „Öffnungsdiskussions-Orgien“ erhöhten das Risiko eines Rückfalls“.

Klare Kante, klare Worte – aber kommen sie auch an?

Es sieht nicht danach aus, dass die Kanzlerin ihren Kurs der Vorsicht weiter durchsetzen kann. Der Geist ist aus der Flasche, und die Flaschendreher machen munter weiter – Faria, fariaho …
Heute machen wir das auf und morgen dies und übermorgen jenes,  Diesen Enthusiasmus gefährlich zu nennen, ist keine Übertreibung. Man gönnt ja jeder Branche ihr Geschäft und jedem Politiker seinen Anderthalb-Minuten-Ruhm in der Tagesschau. Aber wenn sie auch nur den Anschein erwecken, dass sie mit Menschenleben spielen, passt darauf nur ein Wort: Verantwortungslosigkeit.

„Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit“
Friedrich Hegel, dessen 250. Geburtstag wir in diesem Jahr feiern.

Apr. 2020 | Heidelberg, Allgemein, In vino veritas, Junge Rundschau, Kirche & Bodenpersonal, Politik, Sapere aude, Senioren, Wirtschaft, Zeitgeschehen, Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch | 2 Kommentare