Wer nun genau den Geistesblitz hatte, braucht uns hier nicht weiter zu kümmern, es zähle für diesmal allein die Kraft des Gedankens  – und eben die ist derzeit allenthalben groß: Jene Länder nämlich, lassen wir uns gerne sagen – bekämen „diese Corona-Krise“ besser in den Griff, in welchselben der Staat ein großes Vertrauen der Bürger genieße, wovon man im Kanzleramt überzeugt ist und unsere Kanzlerin zählt was Wunder im nächsten Atemzug die Bundesrepublik natürlich dazu.
Das diktatorische China, das restriktive Singapur, das konsensgetriebene Schweden, das hierarchische Österreich und das föderale Deutschland hätten dieser Logik zufolge also zumindest etwas gemeinsam: eine Bevölkerung, die der Regierung zutraut, sie so gut wie eben möglich durch den Virensturm zu lotsen. Bürger, die den politischen Kurs im Großen und Ganzen mittragen, selbst wenn sie nicht für jede Entscheidung einen Orden verleihen würden.

Dies sei eine selbstbewusste und vielleicht auch eine ein wenig selbstgefällige Analyse, möchte bezweifelt werden dürfen, wenn man in die Jauchegruben des Internets blickt, wo die Hassprediger und Verschwörungstheoretiker ihre trübe Suppe kochen; und auch beim Zappen durch das allabendliche Talkshow-Theater gewinnt man gelegentlich den Eindruck, dass der HERR (oder wer auch immer) dringend mal wieder Hirn vom Himmel werfen müsse. Doch sollten wir uns den Blick nicht vernebeln lassen: Das sind nur Schlaglichter, oft ebenso schnell gesendet wie anschließend vergessen. Ein Blick in die Demoskopie hingegen bestätigt den Eindruck der Stabilität: Selten zuvor hat die Große Koalition in der Bevölkerung so große Zustimmung genossen wie jetzt, meldete uns Anfang April der ARD-Deutschlandtrend: 63 Prozent der Befragten waren zufrieden oder sogar sehr zufrieden mit der Arbeit der Regierung. Drei Wochen später sind es bei den Kollegen vom ZDF-„Politbarometer“ sogar schon 90 Prozent der Befragten, die den Krisenkurs der Regierung begrüßen. Und auch die Forschungsgruppe Wahlen bestätigt den Trend: Eine wahrlich beeindruckende Entwicklung. Oder? Weder muß man Anhänger der Regierung noch sonst wie parteiisch ticken, um an dieser Stelle festzustellen zu dürfen, es sei sicher nicht verkehrt, wenn in der größten Krise seit Jahrzehnten die Mehrheit der Bevölkerung hinter den Entscheidungsträgern steht. Beschlüsse lassen sich dann schneller umsetzen, Kompromisse eher akzeptieren, Härten leichter erdulden. Und am Ende kommt man mit vereinten Kräften womöglich auch schneller aus der Krise heraus.

Um die Kraft dieser Argumente zu ermessen, müssen wir nur einen Blick über den großen Teich gen Westen werfen, wo die Gesundheitskrise das ohnehin gespaltene Amerika zu zerreißen droht und die einen ihren Präsidenten als Inkarnation des (sic) Messias vergöttern, derweil die anderen tausendmal lieber Donald (Duck) zum Staatschef hätten als diese ganovale Witzfigur. Schon 26 Millionen Amerikaner haben ihren Job verloren, Hunderttausende sind auf Lebensmittelspenden angewiesen, ein Viertel aller Kinder ist von Hunger bedroht, meldete soeben die Hilfsorganisation Feeding America.

Hunger in den reichen USA

So absurd das klingt, es ist kein neues Phänomen. Aber das miserable Management der Corona-Krise durch Donald (den echten) und seine Truppe (die rechten) hat die Lage drastisch verschärft: Sie haben das Problem erst ignoriert, dann herunterspielt und schließlich ihre Kraft darauf verwendet, durch Schuldzuweisungen vom eigenen Versagen abzulenken. Was Wunder, dass so viele Menschen einer solchen Regierung keinen Zentimeter über den Weg trauen. Missmanagement + Massenmisere = Misstrauen: Hätte es noch eines Beweises für diese Gleichung bedurft, dann haben ihn die USA in diesen tragischen Tagen erbracht.

Zurück in heimische Gefilde

Nicht nur die Regierenden, auch die Forscher genießen hierzulande große Anerkennung: Das Vertrauen der Deutschen in Wissenschaft und Forschung sei während der Corona-Pandemie deutlich gewachsen, meldet die Initiative Wissenschaft im Dialog. Drei von vier Bürgern geben in der jüngsten Erhebung an, dass sie Wissenschaft und Forschung vertrauen (in den vergangenen Jahren war es nur die Hälfte). Auch darin müssen wir ein Zeichen der Stabilität sehen dürfen. Selbst wenn man beim Bäcker, vor dem Fernseher oder beim Blick ins Smartphone gelegentlich einen gegenteiligen Eindruck bekommen mag: Die meisten Menschen lassen sich weder von profilierungssüchtigen Politikern noch von vielbeschäftigten Verschwörungsraunern oder von zweifelhaften Zeitungen mit großen Buchstaben ins Bockshorn jagen, sondern behalten einen kühlen Kopf.

Wir sind, was wir denken“

soll ein weises Wesen mal gesagt haben. Und, ob es nun Konfuzius, Buddha oder Donald hieß – auf jeden Fall ist da was dran. In Zeiten von Corona  nämlich wird jede Einzelheit entscheidend. Fragen, für die sich normalerweise nur Wissenschaftler und Fachärzte interessieren, entscheiden über Wohl und Wehe der Gesellschaft – und manchmal auch über die familiäre Nestwärme. Gerade läuft der Schulbetrieb wieder an, über die Öffnung von Kitas wird heftig diskutiert, und in der Schweiz wagt sich der Delegierte der Gesundheitsbehörde sogar so weit vor, dass er Großeltern gestattet: „Mal den Enkel in den Arm nehmen, das dürfen sie.“Denn man könne „mit recht großer Sicherheit davon ausgehen, dass Kinder nicht die großen Überträger sind“ – jedenfalls nicht die im Vor- und Grundschulalter.

Mit der „recht großen Sicherheit“ aber ist es aber so eine Sache. Die Briten zum Beispiel treibt gerade das Gegenteil um: Auf der Insel schlagen immer mehr Ärzte Alarm, weil Kinder mit schwersten Entzündungssymptomen auf die Intensivstationen kommen. Auch Todesfälle gab es schon. Die schwerkranken Kinder sind zum Teil positiv auf Covid-19 getestet worden, andere weisen Blutwerte auf, die auf eine vorangegangene Infektion hindeuten. Ein Zusammenhang mit der Corona-Pandemie ist nicht bewiesen und die Entzündungen sind selten – doch die Beobachtungen und auch das plötzliche Auftreten der Fälle schüren den Verdacht.

Hier die entspannten Schweizer,
dort die alarmierten Briten:
Wie passt das zusammen?

Zunächst einmal liegt darin kein Widerspruch. Selbst wenn die rätselhaften britischen Beobachtungen auf Covid-19 zurückzuführen wären, bedeutet das nicht automatisch, dass die Kinder das Virus im Rachen oder in der Lunge mit sich tragen und per Atmung, Spucke oder Husten infektiös für andere sein müssen. Dennoch haben sich die Schweizer Behörden mit ihrer These, Kinder seien nicht ansteckend, weit aus dem Fenster gelehnt – und den Boden der gegenwärtig gesicherten Erkenntnisse verlassen. Sie haben sich dabei auf eine Studie bezogen, die bei Kindern nach Rezeptoren gesucht hat: Anheftungsstellen in der Zellwand, an denen das Virus andocken und in die Zelle eindringen kann. Kinder hätten diese Rezeptoren nicht oder zumindest kaum welche, befanden die Schweizer, deren Studie man allerdings bisher nur vom Hörensagen kennt. Also würden Kinder auch nicht infiziert und steckten erst recht niemanden an.

Wenn denn das denn nur so sicher wäre

Eine Untersuchung von mehr als 2.000 mit Covid-19 diagnostizierten Kindern, die aus China stammt und nun in der renommierten US-Fachzeitschrift „Pediatrics“ veröffentlicht wird, belegt 731 dieser Infektionen per Labortest. Die Autoren kommen zu dem naheliegenden Schluss, dass Kinder sich sehr wohl anstecken. Ansonsten bestätigen sie, worüber inzwischen Einigkeit besteht: Dass Kinder in der Regel nur einen symptomfreien, milden oder bestenfalls mäßig schweren Krankheitsverlauf durchmachen. Auf die Gretchenfrage allerdings, ob Kinder das Virus an die älteren Generationen weitergeben und es von Spielplatz, Kita oder Schule in ihre Familien einschleppen, gibt es noch immer keine befriedigende Antwort. Die ist zurzeit auch nicht einfach zu bekommen, da diese Form der Übertragung während der weltweiten Kontaktsperren seltener stattfinden kann. Angesichts der Erkenntnisse über andere Coronaviren, die schon lange zirkulieren und nur eine leichte Erkältung hervorrufen, ist eine Verbreitung durch Kinder aber alles andere als ausgeschlossen.

Alsdann:

In der Schweiz hat man sich dafür entschieden, mit der Gesundheit der Großeltern Russisch Roulette zu spielen, statt zunächst auf wirklich belastbare Ergebnisse zu warten. In Deutschland debattieren wir derweil noch über die Öffnung von Grundschulen und Kitas – und fragen uns voller Ungeduld, ob wir beim Roulette noch schnell mitmachen wollen. Bei allem Verständnis für die berechtigte Ungeduld von Kindern und Eltern, die es zu Hause nicht mehr aushalten: Das ist ziemlich riskant.

Angela Merkel bittet heute ihre wichtigsten Minister und die Ministerpräsidenten zur Videokonferenz, um über die nächsten Schritte in der Corona-Krise zu beraten. Über deutliche Lockerungen der Kontaktsperre wird aber wohl erst am 6. Mai entschieden, erst dann sind die Folgen der bisherigen Erleichterungen absehbar. Einige Beschlüsse könnte es trotzdem geben: ob die Bundesliga-Klubs Geisterspiele veranstalten dürfen, ob Gottesdienste (die Hoffnung stirbt zuletzt) ab kommender Woche wieder – wiewohl aber ohne Gesang – erlaubt werden und ob Großveranstaltungen und Urlaubsreisen ins Ausland ab September wieder möglich sind.

Apr. 2020 | Allgemein, Essay, Gesundheit, In vino veritas, Politik, Sapere aude, Senioren, Zeitgeschehen, Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch | Kommentieren