Noch bevor Deutschland von der größten Corona-Welle heimgesucht wurde, werden all jene laut, die den Schaden der Kontaktsperre beklagen und das Ende der Ausgangsregeln spätestens Ende April verlangen.
„Mit jeder weiteren Woche werden irreparable Schäden für unsere Wirtschaft entstehen“, warnt etwa Wolfgang Reitzle, Aufsichtsratschef von Continental und Linde. „Viele kleinere Firmen werden sterben und nicht mehr wiederzubeleben sein. Aber auch Konzerne sind bedroht.“ Und Bayerns Vize-Ministerpräsident Hubert Aiwanger raunt: „Wir halten das natürlich nicht monatelang durch … weil das die Wirtschaft so abwürgt, dass wir am Ende mehr Tote hätten, weil die Grundversorgung nicht mehr funktioniert, als wenn wir sagen, irgendwann ab Mitte April müssen wir raus aus der Nummer“ – als ob „die Nummer“ darauf nur wartete … Aber: Zwei Stimmen, die für viele andere sprechen: Wer in die deutsche Wirtschaft hineinhorcht, vernimmt ein ungeduldiges Rumoren; die meisten allerdings scheuen sich – noch – ihre „Verlustfurcht“ öffentlich mit ihrem Firmennamen zu verbinden.
Die Sorge der Wirtschaftsbosse um ihr Geschäft,
um ihre Investitionen und ihre Mitarbeiter ist verständlich.
Aber:
Der Druck kommt zu früh.
Der nämlich blendet aus, in welch prekäre Lage Deutschland geraten kann, falls die Kontaktsperre zu früh gelockert wird und das Virus sich ungebremst verbreitet. Die Todesfälle in den Altersheimen in Herborn, Wolfsburg und anderswo wären dann nur das Menetekel einer noch viel größeren Sterbewelle.
Um auch nur zu erahnen, was da auf uns zukäme, müssen wir nur über die Grenze ins Elsass schauen. Weil dort bereits so viele Menschen an Covid-19 erkrankt sind, fehlt es unseren französischen Nachbarn an allem: Intensivbetten, Beatmungsgeräten, Fachpflegern, Schutzmaterial. Erkrankte (da würde jetzt in aller nötigen Bescheidenheit jetzt i c h ins Spiel kommen – naja) Senioren werden nicht mehr beatmet, man fährt sie noch nicht einmal mehr ins Krankenhaus. Stattdessen bekommen sie Opiate gereicht, um ihnen den Tod erträglicher zu machen. Präsident Macron hat über das ganze Land eine strikte Ausgangssperre verhängt: Vor die Tür dürfen Franzosen nur noch mit Passierschein, eine Stunde pro Tag, maximal einen Kilometer im Umkreis ihrer Wohnung. Parks und Wälder sind tabu. Ein Szenario wie aus einem apokalyptischen Krimi. Im Vergleich dazu sind die deutschen Regeln seicht und die Gesundheitsversorgung hierzulande geradezu luxuriös – noch.
Wer nicht will, dass sich das schon bald ändert,
hält sich jetzt strikt an die Ausgangsbeschränkungen.
Und redet die Lage nicht schöner, als sie ist.
Der akzeptiert, warum das Coronavirus so gefährlich ist: Erstens ist es noch kaum erforscht. Deshalb gibt es zweitens noch keine erprobten Therapien. Drittens ist es ansteckender als die Grippe. Viertens führt es häufiger zu gravierenden Krankheitsverläufen, weil es – anders als die Grippe – im Falle einer Lungenentzündung meist beide Lungenflügel befällt. Fünftens gibt es bislang keinen Impfstoff.
Selbst wenn es sich anders anfühlen mag, selbst wenn man sich daheim langweilt und genervt von Homeoffice, Kindergehopse oder fehlender Abwechslung ist, selbst wenn Beschwichtigungsredner im Fernsehen, im Internet oder am Küchentisch anderes behaupten: Dieses Virus ist – bitte wem muß das noch ins Bewußtsein geschoben werden? – hochgefährlich, und es verbreitet sich immer noch viel zu schnell – alle fünf Tage verdoppelt sich die Zahl der Infizierten. Sie muss auf mindestens 10, besser 14 Tage gedehnt werden, andernfalls stünde auch unser Gesundheitssystem bald vor dem Kollaps – wie im Elsass, wie in Oberitalien, ebenso wie in Spanien, oder in New York.
Der Appell der Bundes- und der Landesregierungen richtig:
Zu Hause bleiben. Nur für nötige Einkäufe, Arztbesuche oder gelegentliche Spaziergänge aus dem Haus gehen. Deshalb ist es auch hinnehmbar, dass die Bundesregierung noch keine Exit-Strategie hat, wie sie nun immer mehr Wirtschaftsvertreter fordern. Die Strategie kann gegenwärtig nur eine Taktik sein: Lage beobachten und auf Sicht fahren. Gut möglich, dass nach der Videokonferenz der Kanzlerin mit den Ministerpräsidenten die Regeln weiter verschärft werden – etwa durch die Vorschrift, außerhalb der eigenen Wohnung einen Mundschutz zu tragen, wie es in Österreich gerade eingeführt wurde. Gut möglich aber auch, dass die Bundesregierung bis Ostern wartet, ehe sie schärfere Regeln erlässt – oder eben die Ausgangsbeschränkungen lockert. Nur das steht gegenwärtig fest: Nach Ostern will das Kabinett den Effekt der bisherigen Maßnahmen bewerten. Erst dann sei absehbar, ob sich die Infektionsketten unterbrechen lassen. Und das ist gut so!
Hierzulande nutzen Behörden die Zeit um
zusätzliche Krankenhausbetten aufzustellen
In mehreren Bundesländern sollen dafür auch Hotels in Not-Hospitäler umgewandelt werden. Sogenannte „Kontakt-Teams“ aus Tausenden von Helfern versuchen bei jedem gemeldeten Corona-Infizierten, sämtliche Kontaktpersonen zu identifizieren. Aufgrund des strikten deutschen Datenschutzes braucht es dafür – anders als in Südkorea, Singapur oder Taiwan – pro Infiziertemfünf Helfer und drei bis vier Tage Zeit. Eine Mammutaufgabe.
Nicht erfasst werden dabei Jene,
die sich unwissentlich infiziert haben …
aber keine Symptome aufweisen. Das kann beispielsweise beim Kurzkontakt mit einem Corona-Erkrankten im Supermarkt oder beim Joggen passieren. Wer sich ansteckt, aber nicht erkrankt, noch nicht einmal leichte Symptome bekommt, ist dennoch fortan immun gegen das Coronavirus. Mediziner sprechen von der „stillen Feiung“. Mehr als 40 Prozent der Infizierten zählen vermutlich zum Heer dieser Glücklichen. Ließen sich in ihrem Blut die Antikörper nachweisen, könnten sie sich sofort wieder ins Leben stürzen, ins Büro zurückkehren, die Wirtschaft ankurbeln. Leider gibt es diesen Test noch nicht – allerdings einen ersten Vorläufer. Seine Erprobung braucht noch Zeit, ebenso wie die Forschung an einem Impfstoff.