Das Coronavirus zwingt zu außergewöhnlicher Entschlossenheit. Längst ist nicht klar, ob die Anstrengungen der westlichen Länder ausreichen. Zwar wird Panik als Reaktion schlecht geredet – nachgerade aber wird sie derzeit zur Bürgerpflicht! Der Reality-TV-Superstar Kim Kardashian twitterte zum Beispiel im Jahr 2017 eine berühmt gewordene Statistik, der zufolge im Jahresschnitt zwei Amerikaner Opfer eingewanderter islamistischer Terroristen werden; gleichzeitig aber werden jedes Jahr 69 Menschen von ihrem Rasenmäher umgebracht. Die Terrorgefahr sollte also zwar nicht übertrieben werden, war  aber dezidiert  politische Stoßrichtung dieses Tweets. Was denn auch schon beinahe folgerichtig von der britischen Royal Statistical Society 2017 in die „Internationale Statistik des Jahres“ hinein gekürt wurde, „weil“ nämlich „dieser Weck-Ruf ein erhellendes Licht auf die wahren Lebensrisiken und die damit verbundenen Missverständnisse“ werfe. Er passte zudem gut in die Zeit: Die Trump-Regierung hatte gerade ein Einreiseverbot für Menschen aus überwiegend islamischen Ländern verhängt. Leider unterlag die Statistik-Gesellschaft einem fundamentalen Missverständnis, den nun aber der Londoner Professor für Computer-Wissenschaft Norman Fenton aufspießte – die RUNDSCHAU spießt mal wieder mit:

Die Risiken sind schlicht nicht vergleichbar. Jedes Jahr kommen zwar Menschen durch Rasenmäher um, aber es gibt keinen Mechanismus, der diese Anzahl plötzlich in die Höhe schießen lässt, wenn man nicht groteske Annahmen macht. Der Rasenmäher nämlich will den Menschen nicht umbringen.

Der Vergleich mit der Grippe stellt das Risiko falsch dar

Terroristen aber wollen Menschen töten und dies durchaus in großer Anzahl. Amerika verzeichnet in vielen Jahren eine Handvoll Terror-Opfer, aber im Jahr 2001 rund 3000 Tote beim Angriff auf das World Trade Center und andere Einrichtungen. Ein Terrorist kann mehrere Attentate verüben, oder eines mit mehreren Toten. Er kann sich immer modernere Waffen beschaffen, die tödlicher sind als alles bisher dagewesene. Deshalb ist es sinnvoll, dramatisch mehr Ressourcen zur Terrorbekämpfung einzusetzen als zur Optimierung der Rasenmäher-Sicherheit.

Die Risikoqualität des Coronavirus ist vergleichbar
mit Terroranschlägen

Dies zumindest, was die die Schwere des Extremfalls betrifft; aber, niemand weiß genau, wie schlimm es werden kann, aber es kann sehr schlimm werden. Niemand weiß genau, wer infiziert ist, weil 80 Prozent der Erkrankten keine auffälligen Symptome zeigen. Niemand weiß genau, wie lange einmal Infizierte ansteckend sind, bis zu 27 Tage scheinen möglich. Niemand kennt eine Kur – wir wissen aber, dass die Krankheit sehr ansteckend ist und dass sie in ein bis drei Prozent der Fälle zum Tode führt. Das Virus übertrifft in Verbreitungsgeschwindigkeit und Tödlichkeit die gewöhnliche Grippe, die beispielsweise in Amerika in der Saison 2017/2018 in 0,1 Prozent der Fälle tödlich war.

Damit müsste (eigentlich) klar sein, dass der gerne von Politikern, uns Journalisten und anderen notorischen Besserwissern herangezogene Vergleich mit der Grippe lieber nicht weiter verfolgt werden sollte. Auch die mit verharmlosender Wirkung propagierten Vergleiche des Virus mit Rauchen oder Verkehrsunfällen gehen völlig fehl. Diese Lebensrisiken explodieren nicht plötzlich.

Panik ist aus Sicht von Verhaltenskundlern überlebenswichtig

Vor diesem Hintergrund sind all jene wohlmeinenden Warnungen an die Bevölkerung, nicht in Panik zu verfallen, fragwürdig. Aus der Perspektive von Verhaltenskundlern ist Panik überlebenswichtig. Sie steht für eine evolutionär herausgebildete Anpassung des Körpers, welche die schnelle Flucht aus besonders gefährlichen Situationen begünstigt – eben den Überlebenskampf. Dieser Alarmmechanismus hat das Überleben der Menschen gesichert.

Was allerdings aktuell mit herabwürdigender Absicht als Panikverhalten bezeichnet wird, passt ohnehin nicht in diese Kategorie. Hamsterkäufe, zusätzliche Hygiene und die selbst auferlegten Kontaktsperren, mit der Menschen aktuell auf die Epidemie reagieren, sind dafür viel zu vorausschauend. Da herrscht keine Panik, da regiert Planung – und wenn zum Beispiel dafür der amerikanische Präsident Donald Trump im Weißen Haus flugs ein Ausgabengesetz – vorgeblich – zur Bekämpfung des Coronavirus vorlegt, muß milde gelächelt werden dürfen …

Was die Mäkler (unterstützt von Eigennutz-Optimierern wie DFB-Funktionären oder dem Tesla-Chef) eigentlich sagen wollten – und oft auch sagen –  ist nicht Panik, sondern Überreaktion. Aber gerade diese ist, so paradox es scheinen mag, bei Pandemie-Risiken Bürgerpflicht, wie der Philosoph, Publizist und Risikoexperte Nassim Taleb deutlich macht. Sein Argument: Das individuelle Risiko, am Anfang einer Infektions-Epidemie angesteckt zu werden, mag sehr gering sein. Wer freilich deshalb keine zusätzlichen Schutzmaßnahmen trifft, trägt zum Ausbreiten der Epidemie bei, die sich eben drum zu einer schwerwiegenden Gefahr entwickeln kann und es mithin nach dem – erinnern wir uns – Murphy´schem Gesetz auch tut.

Und, sprachlich nur unerheblich unpräzise übersetzt heißt all das:
Panik ist das Gebot der Stunde.

Entscheidungsträger wie ganz normale Menschen teilen leider eine Schwäche, die stattdessen Bequemlichkeit begünstigt: Sie haben kein Gefühl für multiplikative Prozesse. Vom amerikanischen Komplexitätsforscher Yaneer Bar-Yam kommt folgende Rechnung: Mitte Januar hatte China rund 20 Krankheitsfälle. Bei der anfänglichen Ausbreitungsgeschwindigkeit hätte China fünf Wochen später rund 100 Millionen infizierte Personen gehabt – würde das Land nicht drastische Maßnahmen ergriffen haben.

Eine andere Berechnung stammt von Justin Fox, Chefredakteur des Harvard Business Review. Die Grippe hat in den Vereinigten Staaten 2017/2018 rund 60.000 Menschenleben gefordert, rund 800.000 Menschen kamen ins Krankenhaus, 44 Millionen zeigten Grippe-Symptome.
Wenn die Experten-Schätzungen über die Ausbreitungsgeschwindigkeit und die Tödlichkeit des Coronavirus stimmen, dann kann er die Grippe aber ohne Gegenmaßnahmen übertreffen.

Das hieße für Amerika 300.000 bis 600.000 Tote bei vier Millionen bis acht Millionen Krankenhausaufenthalten.
Diese Zahlenreihe wirft das Schlaglicht auf ein Kapazitätsproblem, das alle Länder trifft. Amerika hat rund eine Million Krankenhausbetten. Eine Pandemie beansprucht Ärzte, Schwestern und Hospitäler, die damit für klassische Krankheiten nicht zur Verfügung stehen. Die Leute sterben dann nicht nur an der Pandemie, sondern auch an  mangelnder Therapie anderer Erkrankungen. Braucht es noch mehr Argumente für die dringend gebotene Verlangsamung der Epidemie?

Punktuell sozialpolitisch unterentwickelte Länder wie die Vereinigten Staaten (!) sollten die Abwesenheit mit Lohnfortzahlung und Beschäftigungsgarantie flankieren – gerade für die rund zehn Millionen Arbeitnehmer in der amerikanischen Gastronomie. Diese nämlich husten sonst zwangsläufig im Restaurant in die Suppe, weil sie sich aus Angst vor Kündigung nicht trauen, zuhause zu bleiben.

Die Versuchung zu halbherzigen Maßnahmen ist darum nicht ohne Gefahr, weil die nötigen Einschränkungen der Mobilität einen hohen  ökonomischen Preis haben. Er wird allerdings übertroffen durch den Preis zu kurz greifender Maßnahmen. Vielleicht muss man sich ganz ausnahmsweise ein verstaubtes Motto zu Herzen nehmen:

„Vom großen Bruder lernen heißt siegen lernen“

China ist es mit schmerzhaft-drakonischen Maßnahmen gelungen, die Ausbreitung des Virus zu stoppen. Es gehört nicht viel zu der Prognose, dass das Land bald sicherer ist als der Rest der Welt.

März 2020 | Allgemein, Essay, Gesundheit, In vino veritas, Politik, Sapere aude, Wirtschaft, Zeitgeschehen | Kommentieren