Ein die kirchliche Lehrmeinung hinterfragender Theologe – uns „Laien“ ja sowieso – wird also offiziell von der Kongregattion für Glaubenslehre – von (Ex)Kardinal Ratzinger hochselben verfasst – klicken Sie links auf „Unglaublich“) dazu gebracht, „sich für unmoralisch zu halten und in Schuld zu verwandeln“. Es soll uns hier nicht um einen Kompromiss zwischen Unvereinbarem gehen, jedoch dürfen wir uns um die Alternative zwischen anthropozentrischer Blickrichtung und dem Blick aus der Ferne des theo- oder kosmozentrischen Denkens nicht herumdrücken.Aber es macht schon einen Unterschied, ob man miteinander spricht oder übereinander. Dafür allerdings müss(t)en zwei Voraussetzungen erfüllt sein:
Die religiöse Seite muss die Autorität der «natürlichen» Vernunft, also die fehlbaren Ergebnisse der institutionalisierten Wissenschaften und die Grundsätze eines universalistischen Egalitarismus in Recht und Moral, zwingend anerkennen.
Umgekehrt aber darf sich eine „säkulare Vernunft“ – wie dies der „Emerit“ Kardinal Ratzinger getan hat – nicht zur Richterin über Glaubenswahrheiten aufwerfen, auch wenn sie im Ergebnis nur das, was sie in ihre eigenen, im Prinzip allgemein zugänglichen Diskurse übersetzen kann, als vernünftig akzeptierte.
Sowenig nämlich die eine Voraussetzung aus theologischer Sicht trivial ist, so wenig ist es die andere aus philosophischer Sicht. Umgekehrt aber darf sich auch die säkulare Vernunft nicht zur Richterin über Glaubenswahrheiten aufwerfen, dies zumal wenn sie im Ergebnis nur das, was sie in ihre eigenen, im Prinzip allgemein zugänglichen Diskurse übersetzen kann, als vernünftig akzeptiert.
Abschied von metaphysischen Konstruktionen
Die moderne Wissenschaft hat die selbstkritisch gewordene philosophische Vernunft zum Abschied von den metaphysischen Konstruktionen des Ganzen aus Natur und Geschichte genötigt. Dieser Reflexionsschub hat Natur und Geschichte den empirischen Wissenschaften überantwortet und der Philosophie nicht viel mehr als die allgemeinen Kompetenzen erkennender, sprechender und handelnder Subjekte übrig gelassen. Damit ist die von Augustin bis Thomas hergestellte Synthese aus Glauben und Wissen zerbrochen. Zwar hat sich die moderne Philosophie in der Gestalt eines, wenn man so will, „nachmetaphysischen“ Denkens das griechische Erbe kritisch angeeignet, sich aber gleichzeitig vom jüdisch- christlichen Heilswissen abgestossen. Während sie die Metaphysik zu ihrer eigenen Entstehungsgeschichte rechnet, verhält sie sich zu Offenbarung und Religion wie zu einem Fremden, ihr Äusseren. Mit dieser Abschiebung bleibt die Religion freilich auf eine andere Weise gegenwärtig als die verabschiedete Metaphysik. Der Riss zwischen Weltwissen und Offenbarungswissen lässt sich nicht wieder kitten. Und doch ändert sich die Perspektive, aus der das nachmetaphysische Denken der Religion begegnet, sobald die säkulare Vernunft den gemeinsamen Ursprung von Philosophie und Religion aus der Weltbildrevolution der Achsenzeit (um die Mitte des ersten vorchristlichen Jahrtausends) ernst nimmt.
Das metaphysische Denken ist zwar im Laufe der abendländischen Geschichte mit dem Christentum eine Arbeitsteilung eingegangen, die es ihm ermöglichte, sich aus der Verwaltung kontemplativ erstrebter Heilsgüter zurückzuziehen; aber in ihren platonischen Anfängen hatte auch die Philosophie ihren Jüngern ein ähnlich kontemplatives Erlösungsversprechen gegeben, wie die anderen kosmozentrischen «Gedankenreligionen» des Ostens (Max Weber). Unter dem Gesichtspunkt des kognitiven Schubs vom Mythos zum Logos rückt die Metaphysik an die Seite aller damals entstandenen Weltbilder, einschliesslich des mosaischen Monotheismus. Sie alle ermöglichen es, die Welt von einem transzendenten Standpunkt aus als Ganzes in den Blick zu nehmen und die Flut der Phänomene von den zugrundeliegenden Wesenheiten zu unterscheiden. Und mit der Reflexion auf die Stellung des Individuums in der Welt entstand ein neues Bewusstsein von historischer Kontingenz und von der Verantwortung des handelnden Subjekts.
Wenn aber religiöse und metaphysische Weltbilder ähnliche Lernprozesse in Gang gesetzt haben, gehören beide Modi, Glauben und Wissen, mit ihren in Jerusalem und Athen basierten Überlieferungen zur Entstehungsgeschichte der säkularen Vernunft, in deren Medium sich heute die Söhne und Töchter der Moderne über sich und ihre Stellung in der Welt verständigen. Diese moderne Vernunft wird sich selbst nur verstehen lernen, wenn sie ihre Stellung zum zeitgenössischen, reflexiv gewordenen religiösen Bewusstsein klärt, indem sie den gemeinsamen Ursprung der beiden komplementären Gestalten des Geistes aus jenem Schub der Achsenzeit begreift.
„Vorstellendes Denken“
Indem ich von komplementären Gestalten des Geistes spreche, wende ich mich gegen zwei Positionen – einerseits gegen die bornierte, über sich selbst unaufgeklärte Aufklärung, die der Religion jeden vernünftigen Gehalt abstreitet, aber auch gegen Hegel, für den die Religion sehr wohl eine erinnerungswürdige Gestalt des Geistes darstellt, aber nur in der Art eines der Philosophie untergeordneten «vorstellenden Denkens». Der Glaube behält für das Wissen etwas Opakes, das weder verleugnet noch bloss hingenommen werden darf. Darin spiegelt sich das Unabgeschlossene der Auseinandersetzung einer selbstkritischen und lernbereiten Vernunft mit der Gegenwart religiöser Überzeugungen. Diese Auseinandersetzung kann das Bewusstsein der postsäkularen Gesellschaft für das Unabgegoltene in den religiösen Menschheitsüberlieferungen schärfen. Die Säkularisierung hat weniger die Funktion eines Filters, der Traditionsgehalte ausscheidet, als die eines Transformators, der den Strom der Tradition umwandelt.
Das Motiv meiner Beschäftigung mit dem Thema Glauben und Wissen ist der Wunsch, die moderne Vernunft gegen den Defaitismus, der in ihr selber brütet, zu mobilisieren. Mit dem Vernunftdefaitismus, der uns heute sowohl in der postmodernen Zuspitzung der «Dialektik der Aufklärung» wie im wissenschaftsgläubigen Naturalismus begegnet, kann das nachmetaphysische Denken alleine fertig werden. Anders aber verhält es sich mit einer praktischen Vernunft, die ohne geschichtsphilosophischen Rückhalt an der motivierenden Kraft ihrer guten Gründe verzweifelt, weil die Tendenzen einer entgleisenden Modernisierung den Geboten ihrer Gerechtigkeitsmoral weniger entgegenkommen als entgegenarbeiten.
Ein Bewusstsein von dem, was fehlt …
Die praktische Vernunft leistet Begründungen für die egalitär-universalistischen Begriffe von Moral und Recht, die die Freiheit des Einzelnen und die individuellen Beziehungen des einen zum anderen auf eine normativ einsichtige Weise bestimmen. Aber der Entschluss zum solidarischen Handeln im Anblick von Gefahren, die nur durch kollektive Anstrengungen gebannt werden können, ist nicht nur eine Frage der Einsicht. Kant hat diese Schwäche der Vernunftmoral durch die Ermutigungen seiner Religionsphilosophie wettmachen wollen. Aber im Lichte derselben spröden Vernunftmoral begreift man, warum der aufgeklärten Vernunft die religiös konservierten Bilder vom sittlichen Ganzen – vom Reich Gottes auf Erden – als kollektiv verbindliche Ideale entgleiten müssen. Gleichwohl verfehlt die praktische Vernunft ihre eigene Bestimmung, wenn sie nicht mehr die Kraft hat, in profanen Gemütern ein Bewusstsein für die weltweit verletzte Solidarität, ein Bewusstsein von dem, was fehlt, von dem, was zum Himmel schreit, zu wecken und wachzuhalten.
Ob ein veränderter Blick auf die Genealogie der Vernunft dem nachmetaphysischen Denken aus diesem Dilemma heraushelfen kann? Wie auch immer rückt es jedenfalls jenen Lernprozess in ein anderes Licht, in den sich die politische Vernunft des liberalen Staates und die Religion gegenseitig längst schon verstrickt haben. Damit berühre ich Konflikte, die sich heute aus der unerwarteten spirituellen Erneuerung und der beunruhigenden politischen Rolle religiöser Gemeinschaften weltweit ergeben haben.
Unter dem Gesichtspunkt der geographischen Ausbreitung sind nicht die national verfassten Religionsgemeinschaften wie die protestantischen Kirchen in Deutschland oder Grossbritannien erfolgreich, sondern die katholische Weltkirche und vor allem die dezentralisiert vernetzten und weltweit operierenden Bewegungen der Evangelikalen und der Muslime. Die einen dehnen sich in Lateinamerika, China, Südkorea und auf den Philippinen aus, während sich die anderen vom Nahen Osten aus sowohl in Afrika bis jenseits der Sahara wie nach Südostasien ausbreiten, wo Indonesien die grösste muslimische Bevölkerung hat. Mit dieser Revitalisierung wächst die Häufigkeit der Konflikte zwischen verschiedenen Religionsgruppen und Konfessionen. Auch wenn viele dieser Konflikte aus anderen Ursachen entstehen, entfacht die religiöse Codierung deren Glut. Seit dem 11. September 2001 ist vor allem die politische Instrumentalisierung des Islams in aller Munde. Aber auch George W. Bush hätte ohne den Kulturkampf der religiösen Rechten für die Politik, die Thomas Assheuer eine «schlagende Verbindung von Demokratieexport und Neoliberalismus» nennt, keine Mehrheiten gefunden.
Emanzipation der Wissenschaft von religiöser Autorität
Die Mentalität des harten Kerns der «wiedergeborenen Christen» ist geprägt durch einen in der wörtlichen Auslegung heiliger Schriften begründeten Fundamentalismus. Diese Gesinnung stösst – gleichviel, ob sie uns in islamischer, christlicher, jüdischer oder hinduistischer Gestalt begegnet – mit Grundüberzeugungen der Moderne zusammen. Auf politischer Ebene entzünden sich die Konflikte an der weltanschaulichen Neutralität der Staatsgewalt, d. h. an der gleichen Religionsfreiheit für alle und der Emanzipation der Wissenschaft von religiöser Autorität. Ähnliche Konflikte haben einen guten Teil der modernen Geschichte Europas beherrscht; heute wiederholen sie sich nicht nur zwischen der westlichen und der islamischen Welt, sondern auch zwischen militanten Gruppen religiöser und säkularistischer Bürger innerhalb liberaler Gesellschaften. Wir können diese Konflikte entweder als Machtkämpfe zwischen Staatsgewalt und religiösen Bewegungen oder als Auseinandersetzungen zwischen säkularen und religiösen Überzeugungen betrachten.
Machtpolitisch gesehen kann sich der weltanschaulich neutrale Staat mit der blossen Anpassung der Religionsgemeinschaften an eine rechtlich durchgesetzte Religions- und Wissenschaftsfreiheit zufrieden geben. Anpassung hat beispielsweise die Lage der katholischen Kirche in Europa bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil gekennzeichnet. Aber der liberale Staat kann mit einem solchen modus vivendi nicht zufrieden sein, und zwar nicht nur aus Gründen der Instabilität eines erzwungenen Arrangements. Als demokratischer Rechtsstaat ist er nämlich auf eine in Überzeugungen verwurzelte Legitimation angewiesen.
Um sich diese Legitimation zu beschaffen, muss er sich auf Gründe stützen, die in einer pluralistischen Gesellschaft von gläubigen, andersgläubigen und ungläubigen Bürgern gleichermassen akzeptiert werden können. Der Verfassungsstaat muss nicht nur weltanschaulich neutral handeln, sondern auch auf normativen Grundlagen beruhen, die sich weltanschaulich neutral – und das heisst nachmetaphysisch – rechtfertigen lassen. Und diesem normativen Anspruch gegenüber können sich die Religionsgemeinschaften nicht taub stellen. Deshalb kommt hier jener komplementäre Lernprozess ins Spiel, in den sich die säkulare und die religiöse Seite gegenseitig verstricken.
Weltanschauliche Neutralität des Staates
Statt sich widerwillig an extern auferlegte Zwänge anzupassen, muss sich die Religion inhaltlich auf die normativ begründete Erwartung einlassen, die weltanschauliche Neutralität des Staates, gleiche Freiheiten für alle Religionsgemeinschaften und die Unabhängigkeit der institutionalisierten Wissenschaften aus eigenen Gründen anzuerkennen. Das ist ein folgenreicher Schritt. Denn dabei geht es nicht nur um den Verzicht auf politische Gewalt und Gewissenszwang zur Durchsetzung religiöser Wahrheiten, sondern um ein Reflexivwerden des religiösen Bewusstseins angesichts der Notwendigkeit, die eigenen Glaubenswahrheiten sowohl zu konkurrierenden Glaubensmächten wie zum Monopol der Wissenschaften auf die Produktion von Weltwissen in Beziehung zu setzen.
Umgekehrt muss sich allerdings auch der säkulare Staat, der mit seiner vernunftrechtlichen Legitimation als eine Gestalt des Geistes und nicht nur als empirische Gewalt auftritt, fragen lassen, ob er seinen religiösen Bürgern nicht etwa asymmetrische Verpflichtungen auferlegt. Der liberale Staat gewährleistet nämlich die gleichmässige Freiheit der Religionsausübung nicht nur, um Ruhe und Ordnung aufrechtzuerhalten, sondern aus dem normativen Grunde, die Glaubens- und Gewissensfreiheit eines jeden zu schützen. Er darf deshalb von seinen religiösen Bürgern nichts verlangen, was mit einer authentisch «aus dem Glauben» geführten Existenz unvereinbar ist.
Darf der Staat diesen Bürgern eine Aufspaltung ihrer Existenz in öffentliche und private Anteile vorschreiben, beispielsweise durch die Verpflichtung, ihre Stellungnahmen in der politischen Öffentlichkeit nur mit nichtreligiösen Gründen zu rechtfertigen? Oder soll die Verpflichtung zum Gebrauch einer weltanschaulich neutralen Sprache doch nur für Politiker gelten, die in den staatlichen Institutionen rechtsverbindliche Entscheidungen treffen? Wenn aber religiös begründete Stellungnahmen in der politischen Öffentlichkeit einen legitimen Platz haben, wird von Seiten der politischen Gemeinschaft offiziell anerkannt, dass religiöse Äusserungen zur Klärung kontroverser Grundsatzfragen einen sinnvollen Beitrag leisten können.
Das wirft nicht nur die Frage der späteren Übersetzung ihres vernünftigen Gehalts in eine öffentlich zugängliche Sprache auf. Vielmehr muss der liberale Staat dann auch von seinen säkularen Bürgern erwarten, dass sie in ihrer Rolle als Staatsbürger religiöse Äusserungen nicht für schlechthin irrational halten. Angesichts der Verbreitung eines wissenschaftsgläubigen Naturalismus ist das keine selbstverständliche Voraussetzung. Die Ablehnung des Säkularismus ist alles andere als trivial. Sie berührt wiederum unsere Ausgangsfrage, wie sich die moderne Vernunft, die sich von Metaphysik verabschiedet hat, im Verhältnis zur Religion verstehen soll. Ebenso wenig trivial ist freilich die Erwartung, dass sich die Theologie auf das nachmetaphysische Denken ernstlich eingelassen hätte …