Viel Kritik kam von – was Wunder – Kirchenvertretern, große Zustimmung dagegen von den Sterbehilfevereinen, von denen einige in Karlsruhe geklagt hatten. Unter den Klägern waren – neben Schwerstkranken, die sterben wollen – auch Ärzte, die das Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe kippen wollten. Zu ihnen gehört Dietmar Beck, Facharzt für Palliativmedizin in Stuttgart: „Das wichtigste ist, dass das Arzt-Patienten-Verhältnis nicht mehr von einer Strafnorm beeinträchtigt ist. Nun können wir nach unserem ärztlichen Wissen und Gewissen entscheiden. Im Einzelfall können wir dem Patienten, der sehr gequält ist ein Mittel zur Verfügung stellen, welches sein Leben beendet.“
Auch Robert Roßbruch, Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für humanes Sterben, ist sehr zufrieden mit dem Urteil. Er hatte ebenfalls geklagt. Als Rechtsanwalt vertritt er einen Patienten, der an einer besonders schweren Form von Multipler Sklerose leidet und sterben will: „Für meinen Mandanten bedeutet das konkret, dass er ab morgen die Möglichkeit hat, über professionelle Hilfe suizidieren zu können. Er kann tun, was er möchte, ohne seine Familienangehörigen mit einzubeziehen. Bei seiner Familie ist es so, dass sie festhalten und klammern. Sie wollen, dass er weiterlebt. Doch er ist an seinem Leidensende und möchte diese Suizidhilfe in Anspruch nehmen.“
Seit Dezember 2015 stellte der Paragraf 217 im Strafgesetzbuch Sterbehilfe als Dienstleistung in Deutschland unter Strafe. Es drohten bis zu drei Jahre Haft. Strafbar machte sich, „wer in der Absicht, die Selbsttötung eines anderen zu fördern, diesem hierzu geschäftsmäßig die Gelegenheit gewährt, verschafft oder vermittelt“. Die Politik wollte damit professionellen Sterbehelfern das Handwerk legen, die tödliche Medikamente stellen oder eine Sterbewohnung organisieren – teils gegen Bezahlung. Sterbehilfe sollte in Deutschland damit nicht gesellschaftsfähig werden.
Die Rechtslage?
Das Grundrecht auf Selbstbestimmung umfasst das Recht, frei über den eigenen Tod zu entscheiden. Anders als die aktive Sterbehilfe – die Tötung auf Verlangen – ist die Beihilfe zum Suizid deshalb grundsätzlich straffrei. So nahm auch Paragraf 217 ausdrücklich Angehörige und „Nahestehende“ aus. Außerdem war allgemein anerkannt, dass Mediziner auf lebensverlängernde Maßnahmen zu verzichten haben, wenn der Patient das nicht mehr möchte. Auf der Palliativstation oder im Hospiz durften Ärzte auch schmerzstillende Medikamente geben, die das Risiko bergen, dass der Patient früher stirbt (Hilfe beim Sterben).
Paragraf 217 sollte eine Lücke schließen. Gemäß dem neuen Urteil von Mittwoch verstoße diese Paragraf aber gegen das Grundgesetz, da es ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben gebe. Das schließe die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen und dabei Angebote von Dritten in Anspruch zu nehmen.
Wie wirkte sich das Verbot der Sterbehilfe aus?
Der Hamburger Verein Sterbehilfe Deutschland von Ex-Justizsenator Roger Kusch musste seine Aktivitäten weitgehend auf Eis legen. Bis 2015 hatten sich laut Vereinsstatistik 254 zahlende Mitglieder das Leben genommen. Inzwischen gibt es allerdings den Schweizer Ableger StHD: Deutsche Sterbewillige können seit 2018 einen Angehörigen nach Zürich schicken, der mit tödlichem Medikament und „detaillierter Anleitung“ zurückkommt.
Andere wichen ganz in die Schweiz aus: Dort haben sich allein über den Sterbehilfe-Verein Dignitas zwischen 1998 und 2019 insgesamt 1322 Deutsche das Leben genommen, das sind knapp 44 Prozent aller Dignitas-Fälle. Außer den Vereinen klagten in Karlsruhe kranke Menschen, die deren Hilfe nicht mehr in Anspruch nehmen konnten.
Wie ist die Situation der schwerkranken Kläger?
Zwei Kläger, denen Sterbehilfe Deutschland nach den vorgesehenen Prüfungen Suizidunterstützung zugesagt hatte, sind während des langen Verfahrens gestorben. „Ich habe durchgehalten“, sagt der krebskranke Horst L. im April 2019 in der Verhandlung. Die Kraft dafür habe er aus dem Wissen geschöpft, zur Not selbst die Reißleine ziehen zu können.
Seit dem Verbot war aber die Gelassenheit dahin. Ein anderer Kläger, der unheilbar an der Lungenkrankheit COPDleidet, sagte vor dem Urteil dem „Spiegel“: „Ich akzeptiere nicht, dass wieviele Parlamentarier auch immer darüber entscheiden, wie ich zu sterben habe.“
Wie sehen die Verfassungsrichter Paragraf 217?
Sie hielten das Verbot für zu weitgehend . Während der Verhandlung betonte Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle ein Grundrecht auf Selbsttötung. Er gab im Vorfeld zu bedenken: „Sie werden im Augenblick wahrscheinlich keinen Arzt finden, der Sie dabei unterstützt.“ Denn „geschäftsmäßig“ hat nichts mit Geld zu tun, sondern bedeutet so viel wie „auf Wiederholung angelegt“.
Auch Palliativmediziner befürchteten deshalb, sich strafbar zu machen – wenn sie Schwerstkranken Opiate zur Linderung in potenziell tödlichen Dosen mit nach Hause geben oder beim „Sterbefasten“ Menschen begleiten, die nicht mehr essen und trinken wollen. Andere Ärzte haben geklagt, weil sie Schwerstkranken mit Todeswunsch in ausweglosen Situationen gern helfen würden.
Urteil zur Sterbehilfe gefallen: Welche anderen Lösungen wären denkbar?
Letztlich ist es Sache der Politik, eine verfassungsgemäße Neuregelung zu entwickeln. In der Verhandlung wird von der Richterbank kritisch angemerkt, dass der Staat ausgerechnet die sanfteste Art der Selbsttötung faktisch unmöglich gemacht habe. Dabei gebe es offensichtlich eine relevante Gruppe von Menschen, die sich diese Variante wünsche.
Mehrmals taucht damals die Idee einer Beratungslösung auf, ähnlich wie beim Schwangerschaftsabbruch – flankiert durch strengste Sicherungsmechanismen wie eine Kontrollkommission oder verbindliche Wartefristen bis zum Vollzug. Voßkuhle damals: „Dann hätte Herr L. noch eine Chance.“
Welche Auswirkungen hat das Sterbehilfe-Urteil noch?
Das Bundesverwaltungsgericht hat 2017 ein aufsehenerregendes Urteil gesprochen: „Im extremen Einzelfall“ dürfe der Staat einem unheilbar Kranken ein Betäubungsmittel nicht verwehren, das diesem „eine würdige und schmerzlose Selbsttötung ermöglicht“. Das ist nicht Bestandteil des Karlsruher Verfahrens.
Unter Verweis auf Paragraf 217 lässt Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) seither aber das zuständige Bundesinstitut sämtliche Anträge kranker Menschen ablehnen – inzwischen mehr als 100. Nun wird sich Spahn möglicherweise neu positionieren müssen. Oder er wartet die nächste Entscheidung ab: Nach Klagen abgelehnter Antragsteller hat das Verwaltungsgericht Köln mehrere Verfahren ausgesetzt – und die Fälle in Karlsruhe vorgelegt.