Die von Josef Haslinger in seinem gerade erschienenen Buch „Mein Fall“ geschriebene Geschichte ist erst einmal eine von vielen.
Der Bericht eines jahrelangen Missbrauchs in der katholischen Kirche Österreichs.
In den 60er Jahren ist Josef Haslinger Schüler im Stift Zwettl im österreichischen Waldviertel. Die Sängerknaben des Stifts sind berühmt und touren durch ganz Europa.
Haslinger ist musikalisch und sehr religiös, sein Berufswunsch – damals: Priester.
„Als kleines Kind schon war mein sehnlichster Wunsch, Priester zu werden. Ich hatte das mit meiner Mutter so vereinbart und mich mit diesem kindlichen Gedanken ganz und gar angefreundet …Ich glaube, sagen zu können, dass ich damals tief religiös war. Entsprechend war der Religionslehrer für mich eine umfassende Autorität“ (swr). Alsdann: Er war religiös, sogar davon überzeugt, Priester werden zu wollen, er liebte die Kirche. Da möchte man gerne schreiben dürfen: Was Wunder – die Liebe des noch sehr jungen Josef wurde von den Patres erwidert. Aber: Erst von einem, dann von anderen auch …
Einige der Pater im Stift nämlich nutzen diese religiöse Begeisterung gnadenlos aus. Gottfried Eder zum Beispiel. Er missbraucht den Jungen und erzählt offenbar gleichgesinnten Ordenspriestern von der Wehrlosigkeit des Kindes.
Eine widerwärtige Geschichte:
„Ich war zehn Jahre alt, als Pater Gottfried Eder sich für meinen kleinen Penis zu interessieren begann und dabei ganz offensichtlich in Erregung geriet. Ein Zustand, den man als Zehnjähriger eigentlich nicht kennt… Es hat eine Weile gedauert, bis Pater Gottfried sich die intime Annäherung traute. Als er merkte, dass ich es zuließ, suchte er nach Gelegenheiten, die Spielchen zu wiederholen und wenn möglich ein wenig auszuweiten.“
Erst als der Pater 2014 stirbt wird es für Josef Haslinger möglich, offen über seine unerfreulichen Erfahrungen zu schreiben. Als Schriftsteller hat er zwar zuvorher schonüber Missbrauch geschrieben, fiktionalisiert aber, so, als hätten sie nichts mit ihm zu tun.
Jetzt, nach vielen Jahren also „Mein Fall“ – eigentlich als Auftragsarbeit für die Kommission geschrieben, die sich mit dem Missbrauch auseinandersetzen soll. Josef Haslinger hat daraus eine autobiografische Erzählung gemacht.
Wie soll man ein solches Buch lesen? Sachbuch ist es, einfach, nachgerade spröde geschrieben. – Und, es ist eine sehr verstörende Lektüre. Denn viele Jahre lang flüchtet Haslinger vor der eigenen Geschichte, leugnet vor sich selbst, sucht Ausreden, um sie nicht klar erzählen zu müssen, schreibt stattdessen Erzählungen. Man hat das Gefühl, er sei Schriftsteller geworden, weil er etwas erzählen muss, nämlich die Missbrauchserfahrung – aber nicht erzählen kann, weil er die Schmerzen fürchtet.
Mit 40 Jahren zieht er Bilanz:
„Ich habe, so sagte ich mir, genug Zeit gehabt, die Ungereimtheiten der Kindheit hinter mir zu lassen. Ab jetzt bist du für alles, was du machst selbst verantwortlich.“
Ab da nähert er sich in Erzählungen langsam an seine Erlebnisse an. Erst jetzt, in „Mein Fall“ schreibt er die ganze Geschichte auf. Schriftsteller aber ist er natürlich auch weiterhin, man sollte dieses Buch deshalb nicht nur als Fallgeschichte lesen, sondern auch literarisch bewerten.
Haslinger betont auf den schmalen 134 Seiten immer wieder, dass er hier seiner Arbeit als Schriftsteller nachgeht. Und die lässt merkwürdige Ambivalenzen zu. Haslinger zitiert aus früheren Texten, in denen er versucht hat, seine Geschichte zu erzählen. Darin tauchten Sätze auf wie:
„Die Pädophilen waren in dieser Sphäre von klösterlicher Gewalt eine Oase der Zärtlichkeit. Das Kloster war ein Exzess in dieser und jener Richtung“.
Ein ungeheuerlicher Satz. Die Kinder wehren sich nicht gegen den Missbrauch – weil die Lehrer im Augenblick des Missbrauchs wenigstens nicht Gewalt angewendet haben. Und, weil man sich irgendwie ausgezeichnet fühlt durch die Aufmerksamkeit, die einem der erziehende Lehrer entgegenbringt.
Beim Lesen ist spürbar, wie schwer es ihm fällt, darüber zu sprechen. Haslinger wurde, nachdem er mehrfach mündlich über den Missbrauch berichtet hatte, aufgefordert, das Erlebte selbst aufzuschreiben, sonst würde der Fall nicht aktenkundig. Haslinger muss also schreiben, damit sein Fall existiert. Eine wenig anmutende Zumutung. Er wird das Gefühl nicht los, dass es immer noch viele gibt, die die Institution mehr schützen als die Opfer. Allen voran Waltraud Klasnic, die der Unabhängigen Opferkommission vorsteht.
„Man will sich nicht die eigene Vergangenheit schlechtmachen lassen. Bei sich selbst kennt man die guten Absichten und macht sie zur Grundlage des Urteils, bei anderen nur die Taten.“
„Mein Fall“ von Josef Haslinger ist natürlich auch eine Abrechnung, obgleich Haslinger betont, dass er lange gewartet hat, bis auch der letzte Täter gestorben war. Aber jetzt benennt er deutlich Jene, denen er und andere Kinder im Stift Zwettl schutzlos ausgeliefert war, wie Beute unter Raubtieren. Wer „Mein Fall“ liest bekommt auch noch mal einen anderen Zugang zu früheren Werken wie „Opernball“ oder Phi Phi Island und versteht wie stark Erfahrung sich in die DNA von Josef Haslinger eingegraben hat.
Immer geht es um das Ausgeliefertsein und die Erinnerung und Verdrängung. Lebensthemen, die aus einem Trauma kommen. Ein verstörendes, ein im Zorn geschriebenes, aber im Urteil trotzdem klares, ein unbedingt empfehlenswertes Buch.
Josef Haslinger, 1955 in Zwettl/Niederösterreich geboren, lebt in Wien und Leipzig. Seit 1996 lehrt Haslinger als Professor für literarische Ästhetik am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. 1995 erschien sein Roman ›Opernball‹, 2000 ›Das Vaterspiel‹, 2006 ›Zugvögel‹, 2007 ›Phi Phi Island‹. Sein letztes Buch ›Jáchymov‹ erschien im Herbst 2011. Haslinger erhielt zahlreiche Preise, zuletzt den Preis der Stadt Wien, den Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels und den Rheingau Literaturpreis. 2010 war er Mainzer Stadtschreiber.
Literaturpreise:
Theodor Körner Preis (1980)
Österreichisches Staatsstipendium für Literatur (1982)
Förderungspreis der Stadt Wien (1984)
Stipendium des Deutschen Literaturfonds (1985)
Österreichisches Dramatikerstipendium (1988)
Elias Canetti-Stipendium der Stadt Wien (1993-94)
Stipendium des Deutschen Literaturfonds (1994)
Förderungspreis des Landes Niederösterreich für Literatur (1994)
Preis der Stadt Wien und Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels (2000)
Mainzer Stadtschreiber (2010)
Rheingau Literatur Preis (2011)
Joseph Haslinger
„Mein Fall“
S. Fischer Verlag
ISBN: 978-3100300584
144 Seiten
20 Euro