Die Gemälde Ernst Ludwig Kirchners gehören zu den bedeutendsten Werken des Expressionismus. Bis jetzt kaum bekannt hingegen sind seine Skizzenbücher. Dabei waren sie zeitlebens Kirchners ständige Begleiter. Die unscheinbaren schwarzen Hefte zählen heute zu den wichtigsten Originaldokumenten für die kunsthistorische Forschung. Meist handelt es sich um kleinformatige Wachstuchhefte, die er Seite für Seite mit Bleistift, Buntstift, Kreide, Tusche, Aquarellfarben oder Kohlestrichen füllte. Für Kirchner, der nicht einen Tag ohne Skizzenbuch unterwegs war, nahm das tägliche Zeichnen einen hohen Stellenwert in seinem künstlerischen Prozess ein.
Ob zur Dokumentation von Gesehenem, als Experimentierraum für Studien oder zur biographischen Erinnerung, die Skizzenbücher formen eine eigene und einzigartige Werkgattung in seinem Œuvre.
In diesen Skizzenbüchern offenbart sich nicht nur das meisterhafte Zeichentalent des Malers, der mit wenigen präzisen Strichen ganze Szenerien einfangen konnte, sondern sie dienten auch als gezeichnete Tagebücher. Kirchner hielt all jenes fest, was sein künstlerisches Auge reizte und das ihn zum Zeichnen und manchmal auch zum Schreiben animierte.
Anhand dieser Vorlagenfunktion ist es uns heute möglich, die Genese vom Entwurf bis zum fertigen Gemälde nachzuvollziehen. Über 600 Verweise auf andere Werke konnten bis jetzt identifiziert werden. So zeigen uns die Skizzenbücher wie keine andere Gattung welche Motivgruppen Kirchner zeit seines Lebens immer wieder beschäftigten und wie er seine stilistische Entwicklung von den Strassenszenen bis hin zum Neuen Stil in tausenden von Skizzen mühevoll ausarbeitete.
Mit «Die Skizzenbücher Kirchners. Vom Bleistiftstrich zum Hologramm» zeigt das Kirchner Museum Davos nun eine Ausstellung, die all jene Funktionen der Bücher aufbereitet und ihre Bedeutung auf das Gesamtschaffen des Ausnahmekünstlers aufzeigt. Mithilfe digitaler Medien wird das Medium Skizzenbuch für die Besucher interaktiv aufbereitet und ermöglicht so für alle Altersgruppen den Einstieg in die bunte Bilder- und Lebenswelt des Expressionisten.
Dank dem Digitalisierungsprojekt der Helvetia Versicherungen konnten die 161 Skizzenbücher aus dem Bestand des Kirchner Museums in den vergangenen drei Jahren digitalisiert werden. Zum ersten Mal werden alle Hefte nun physisch und digital in einer Ausstellung präsentiert. Dank interaktiver Bedienungsfelder in Form von zwei grossen Touchscreens werden die Skizzenbücher zudem zu einem multimedialen Experimentierfeld. Die Besucher sind eingeladen, spielerisch und eigenständig in die Materie einzutauchen. Ziel ist es, die statische Funktion der Originalbücher durch digitale Medien zu bereichern und virtuell wie haptisch erlebbar zu machen.
Der Multimediaraum lädt zum Verweilen ein und erweitert so das Besuchserlebnis und die Auseinandersetzung mit dem Medium Skizzenbuch.
Neben dem Hologramm können die Besucher auf den Touchscreens mit diversen digitalen Möglichkeiten, wie Blättern und Zoomen die gesamte Welt der Skizzenbücher erforschen.
Zu den Kunstwerken Ernst Ludwig Kirchners stellt die Ausstellung die Installationen und Performance des belgischen Künstlers und Computerwissenschaftlers Patrick Tresset in einen Dialog.Mit technischen Innovationen, Digitalisierung und virtueller Kunst stellen sich heute Fragen nach Originalität und Kopie auf ganz neue Weise.
Was passiert, wenn nicht Menschen, sondern von Künstlern programmierte Maschinen Kunstwerke produzieren? Wo beginnt die Kreativität der Maschine, wo endet der Einfluss des Künstlers?
Für Patrick Tresset bildet die Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine die Kernessenz seines künstlerischen Interesses. Er baut roboterähnliche Maschinen, die über Greifarme Stillleben oder Porträts zeichnen. Tresset entwickelt Roboter und autonome Computersysteme, um Serien von Zeichnungen, Bildern und Animationen zu erstellen, die die Grenze zwischen menschlich-maschineller Steuerung und künstlerischer Intention verwischen. Er verwendet Computersysteme, die künstlerische, expressive und obsessive Aspekte in das Verhalten von Robotern einführen. In der Konzeption seiner Roboteragenten setzt er dabei auf vier Faktoren, die er als Kernkompetenzen menschlicher Künstler identifiziert: Kreativität, Absicht, Körperlichkeit und Erinnerung.
Für Tresset fusst seine Installation gleichermassen auf Untersuchungen zur künstlichen Intelligenz wie zum menschlichen Verhalten. Ziel der Kunstwerke soll es sein, ähnliche Gefühle im Betrachter zu erwecken, wie es Kunstobjekte aus Menschenhand vermögen. Hier strebt Tresset an, was seit der Brücke-Zeit für Kirchner oberstes künstlerisches Gebot war: Die Wiedergabe des ‚unmittelbaren’ und ‚unverfälschten’ Empfindens eines Momentes, wie auch immer sich dieses in einer robotischen Zukunft einmal äussern mag.
Zur Ausstellung erscheint ein wissenschaftlicher Katalog beim renommierten Kunstbuchverlag modo mit Beiträgen von Prof. Dr. Dr. Gerd Presler, Dr. Thomas Röske, Julia Sophie Syperreck und Katharina Beisiegel.
Kirchner Museum Davos
Die Skizzenbücher Kirchners.
Vom Bleistiftstrich zum Hologramm
24. November 2019 – 19. April 2020